Johannes Wierz
Menü
offizielle Webseite
Lese
proben
Weißberg
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
»DIE BEVÖLKERUNG DES LANDES IST DAZU ANGEHALTEN, DEM REISENDEN UND NÄCHTIGENDEN FREMDEN DEN LIEBLICHEREN TEIL IHRES WESENS NICHT VORZUENTHALTEN.«
Aus einem Aufruf der Kärntner Landesregierung im Jahre 1891
Den ganzen Tag sitze ich entweder in meinem Arbeitszimmer, das keines ist, da ich ja nur dasitze, um aus dem Fenster auf meinen selbstgepflanzten Nussbaum zu schauen, oder ich sitze in meinem Stammcafé, wo ich den ganzen Tag in die Zeitung schaue, hineinschaue, sie aber niemals lese.
Auf dem Weg von meinem Arbeitszimmer zum Café, das nicht einmal fünfhundert Meter entfernt liegt, denke ich manchmal. Wenn ich mich bewege, also die Treppe hinuntersteige und dann den breiten Bürgersteig entlanggehe, denke ich, dass das Leben an mir vorbeiläuft, seit Jahren schon an mir vorbeigelaufen ist. Nur wenn ich gehe, denke ich, dass das Leben an mir vorbeiläuft. Wenn ich sitze, denke ich nicht, folglich läuft auch das Leben nicht an mir vorbei, wenn ich sitze, vergeht nur die Zeit. Die Zeit läuft gnadenlos weiter, gegen mich. Gott sei Dank, wenn ich sitze, denke ich nicht an die Zeit, bin ich gar nicht in der Lage zu denken, da die Sauerstoffzufuhr zu gering und der Alkoholkonsum zu hoch ist.
Das Nichtdenken eröffnet neue Perspektiven. Einfach nur schauen und ab und zu den Gesprächen am Nebentisch lauschen. Das Einfach-nur-Hinschauen, Zusehen, was andere machen, die Anstrengung anderer, sich über den Tag zu retten, bringt mich über den Tag. Um mehr geht es nicht, als einfach nur über den Tag zu kommen.
1.
Von der Raststätte aus sehe ich entfernt, auf einer Anhöhe, die Würzburg. Nicht die Tatsache, dass die Würzburg ausgerechnet in Würzburg auf einer Anhöhe steht, verwundert mich. Nein, es ist die Architektur; die Architektur der Würzburg in Würzburg. Zu Unrecht trägt sie den Namen Würzburg. Korrekterweise müsste sie nämlich Würzschloss heißen und nicht Würzburg, denn architektonisch gesehen ist die Würzburg ein Schloss.
In diesem entscheidenden Moment, wo ich darüber nachdenke, ob es überhaupt Städte gibt, deren Namen mit »Schloss« enden, und ich darauf komme, dass es schlecht bestellt ist um ein Land, in dem selbst schon mit den Städtenamen gelogen, einem etwas vorgegaukelt wird, in diesem entscheidenden Moment, wo ich die Lanze über alle Städte dieser Republik breche, holt mich meine Frau aus meinen Gedanken, indem sie routinemäßig meinen Bauch betatscht wie den eines Teddys.
Nicht ohne Grund betatscht sie meinen Bauch, der mich müde und träge gemacht hat, nein, ohne Grund hat sie in ihrem Leben noch nie etwas gemacht. Sie schaut in meine Augen, und schon glaubt sie mit hundertprozentiger Gewissheit sagen zu können, was ich denke. Das hat sie von ihrer Mutter, einem Menschen, dem ich von Anfang an misstraut habe. Einem Menschen, der seine Weisheiten aus irgendwelchen Kalendern oder Zeitschriften zusammenklaubt, wie Kinder im Wald Blaubeeren, und sie dann auf alles und jeden zur Anwendung bringt, muss man einfach misstrauen. Eine dieser Weisheiten kommt hier, durch ihr Fräulein Tochter, ihre beste Schülerin, zur Anwendung. »Dem Manne alles, aber auch jeden Wunsch, von den Augen ablesen, ist die Erfüllung jeder gesunden Frau. «
Ja, dieser Unsinn kommt jetzt zum Tragen, und mein Bauch muss darunter leiden.
Da ich lange die Würzburg betrachte, glaubt sie, ich möchte dieses Bauwerk besichtigen und tätschelt mir den Bauch.
»Möchtest du, dass wir noch einen Abstecher zur Würzburg machen? «
Ihre Frage gibt mir die Genugtuung, mich auch diesmal in ihr nicht getäuscht zu haben. Ihre Mutter ist stärker als ich, da kann ich nichts machen. Von mir lernt sie nichts, wird sie nie etwas lernen. Meine einzige Chance besteht darin - eine fast unlösbare Aufgabe - ihrer Mutter etwas beizubringen. Dann bestünde wenigstens theoretisch die Chance, dass die Mutter ihrer Tochter das Gelernte weitergibt. Aber ich lebe nicht in Luftschlössern, nein im Gegenteil, mich regt es auf, dass die Würzburg Würzburg und nicht Würzschloss heißt. Etwas, worüber ich mit meiner Frau nicht reden kann. Sie besitzt zwar einen Doktortitel, aber den hat der bundesdeutsche Kanzler auch. Blitzschnell kontere ich mit »Nein«, mit der anschließenden Begründung, unseren Zeitplan nicht durcheinander bringen zu wollen. Da Zeitpläne ein wesentlicher Inhalt ihres Lebens sind, eine Tatsache, die wiederum ihrer Mutter zu verdanken ist, habe ich ausnahmsweise gewonnen.
Sie bezahlt, und wir beide verlassen diesen schrecklichen Ort.
Wieder auf der Autobahn kann ich es mir nicht verkneifen, noch einmal in den Rückspiegel zu sehen: Auf einer Anhöhe die Würzburg, die eigentlich Würzschloss heißen müsste.
Ein paar Stunden später - nach dem Zeitplan meiner Frau eine halbe Stunde zu früh - betreten, korrekter ausgedrückt, überfahren wir österreichischen Boden. Ich weiß, betreten oder befahren hört sich besser an. Man betritt oder befährt österreichischen Boden, das hat was, erinnert mich an die erste Mondlandung oder die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Meine Frau und ich überfahren die Grenze, da gibt es nichts zu beschönigen. Ich wäre viel lieber zu Fuß über die Grenze gegangen. Zu Fuß riecht man die andere Luft und spürt den anderen Straßenbelag. Im Auto spürt man nichts, man merkt es nur an der anderen Farbe des Mittelstreifens. Dennoch bin ich ergriffen in Anbetracht der Grenzüberschreitung, der Grenzüberfahrung, lasse mir aber nichts anmerken. Du mein glückliches Österreich! Tu felix Austria! Endlich hast du mich wieder! Ich denke an Haydn und H. C. Artmann.
Kurz nach der Grenze halten wir: Hallein, die schmutzigste Stadt Österreichs. Die Stadt der Zwischenübernachtungen für Rentner und Jugoslawienfahrer. Meine Phantasie reicht nicht aus, mir vorzustellen, dass man hier Urlaub machen kann, dass es Menschen gibt, die freiwillig zwei oder drei Wochen hier verbringen, angesichts des großen Zellstoffwerkes. Früher roch es in der ganzen Stadt nach Urin und Stall, heute nach Urin, Stall und Zellstoffwerk, von den Abgasen gar nicht zu reden.
Wir machen halt, da wir – entsprechend dem Plan meiner Frau - hier übernachten werden. Da wir eine halbe Stunde zu früh in Hallein sind, ist Monika sichtlich irritiert. Sie blättert nervös im Fremdenführer herum, aber unter H wie Hallein kann sie keine Eintragung entdecken. Scherzend ich vor, sie solle doch einmal unter B nachschlagen, B wie Bad Hallein. Da es nun mal nicht in meiner Art liegt, auf andere ironisch wirken zu können, schlägt sie wirklich unter B, B wie Bad Hallein nach. Ihre Suche bleibt natürlich erfolglos. Anschließend, wohl für mich als Strafe gedacht, zerrt sie mich durch die Innenstadt, deren Romantik der einer Autobahnraststätte gleichkommt. Sehnsucht nach der Würzburg kommt in mir auf. Hätten wir vor ein paar Stunden die Würzburg besichtigt, wäre mir dies hier erspart geblieben. Hallein, die schmutzigste Stadt Österreichs.
Wir übernachten im Hotel zum Wilden Kaiser. Das Wort Hotel bedeutet in Österreich, abgesehen von ein paar Ausnahmen, nur eine Einteilung in eine Preisklasse. In Österreich wird alles, was in punkto Übernachtungen teuer ist, als Hotel bezeichnet. Es gibt in Österreich Fremdenzimmer, Pensionen und Hotels. Das Preiswerteste und qualitativ Beste sind die Fremdenzimmer. Zum Frühstück: knusprige Semmeln, richtige Butter, hausgemachter Schinken und wahlweise selbsteingemachte Marmelade oder Waldhonig. In den Pensionen ist das Frühstück ähnlich, nur schon etwas weniger, dafür kann man hier aber Mittag essen. Nun könnte man folgerichtig denken, in den österreichischen Hotels gäbe es noch weniger zum Frühstück, aber dafür könnte man Mittag- und Abendessen – weit gefehlt. Die Phantasie eines Normalsterblichen reicht nicht aus dafür. Das österreichische Hotelfrühstück kommt einem Kunstwerk gleich. Es nennt sich in der Regel Kontinentalfrühstück und besteht aus mehreren kleinen Plastikobjekten und zwei halbaufgetauten Semmeln, die zäh wie Gummi sind. Auf den kleinen Plastikobjekten sind schöne Bilder aufgemalt, z. B. Johannisbeersträucher, Erdbeeren, ganze Serien von Zeichentrickfiguren oder ganz schlicht eine Kuh. An jedem dieser Objekte ist an der Seite ein kleines Plastikteil angebracht, das bei der ersten Berührung sofort abbricht. Sollte es einem doch noch gelingen, dieses Verpackungswunder zu öffnen, spritzt einem der Inhalt über den frischgereinigten Anzug oder über die frisch gestärkte Bluse. Da meine Frau eine unerfahrene Österreichbesucherin ist, übernachten wir in einem Hotel. Während unserer Stadtbesichtigung halte ich Ausschau nach einem Café, in dem ich am Morgen frühstücken kann.
Eines haben alle drei Kategorien, also Fremdenzimmer, Pensionen und Hotels gemeinsam: die Betten. Wo man auch hinkommt, ob in der Steiermark, im Burgenland oder sonst wo, die Betten sind überall gleich. Auch unser Doppelbett ist da keine Ausnahme. Wahrscheinlich hat es in Österreich nur einen Bettenhersteller gegeben. Vor dreißig Jahren hat dieser pfiffige Unternehmer, ohne Rücksicht auf gesundheitliche Schäden, all seine Betten verkauft und sich dann aus dem Staub gemacht.
Meine Frau hat natürlich ein Doppelzimmer erster Kategorie gebucht. Die Zimmer sind alle gleich, mit Ausnahme des kleinen Zettels, der an der Innenseite der Zimmertür hängt und einem noch einmal bestätigt, dass man das teuerste und, wie einem versichert wird, auch das beste Zimmer des Hauses gebucht hat.
Der erste Reisetag liegt hinter uns.
Ich liege im Bett und beobachte Monika, die beim Tisch sitzt und ihre Checkliste durchgeht. Ab und zu macht sie kleine Häkchen. Es hat schon etwas Rührendes an sich, wie sie so am Tisch sitzt und ihr verplantes Leben noch einmal durchgeht. Für mich ein beruhigendes Gefühl, mich um nichts kümmern zu müssen. Mit ihren Anfang vierzig hat sie einen hervorragenden Körper. Die 25-Watt-Birne, stärkere habe ich in österreichischen Hotels bisher nicht entdecken können, wirf ein warmes Licht auf ihr Nachthemd - würde ich sie, meine Frau, nicht so genau kennen, ich fände es direkt erotisch. Sie schließt ihr Buch und beginnt die allabendliche Jagd nach Kleintieren jeglicher Art. Ein Tick von ihr. Sie hat Angst vor Spinnen, Mücken, Nachtfaltern etc., und jedes Mal, wenn sie woanders übernachtet, schaut sie erst einmal genau in allen Ecken nach, ob sich nicht irgendwo ein Nachtfalter oder ähnliches Getier versteckt hat. Dann bin ich an der Reihe. Da meine Frau keinem Tier etwas zuleide tun kann, muss ich aufstehen, meinen Schuh oder eine Zeitung nehmen und die arme Kreatur töten. Es hat überhaupt keinen Sinn, vor ihr einzuschlafen. Sie würde mich ohne Skrupel wecken und mir den Befehl zu töten geben. Meistens bin ich zu faul, um aufzustehen. Ich nehme einfach meinen Schuh oder eine Zeitung und werfe ihn oder sie nach dem Untier. Nur ein blutiger Fleck bleibt zurück auf der Tapete. Dann schaut mich Monika geängstigt an, als ob ich gerade eine fünfköpfige Familie ausgerottet hätte.
Ihre Spinnenangst ist krankhaft. Zu Hause in unserem Schlafzimmer riecht es immer nach Paral, so stark, dass ich mich die ersten Monate unserer Ehe jede Nacht habe übergeben müssen. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt, die Spinnen auch.
Endlich wird das Licht gelöscht.
Wir beide liegen schweigend nebeneinander. Sie zur Seite gedreht, ich auf dem Rücken, zwischen uns die Besucherritze, das einzig Positive an Österreichs Betten. Ich werde warten, bis sie eingeschlafen ist, dann aufstehen, ans Fenster gehen, eine Zigarette anzünden, in die Nacht hineinschauen und an mein kleines Dorf am Berg denken: Weißberg.
Das kleine Dorf Weißberg, eingebettet zwischen zwei Bergen. Weißberg, eine Ansiedlung ohne jegliche Bedeutung, selbst für Österreich. In der Mitte des Dorfes eine Kreuzung, darüber eine orangeleuchtende, blinkende Laterne. Vieles habe ich vergessen. Die Straßenlaterne, das ewige Aufblinken, Tag wie Nacht, ist mir in Erinnerung geblieben. Dieses orange blinkende Zeichen, ein Garant für die Existenz des Dorfes; für mich, ein Leuchtturm meiner Sehnsüchte, aber das ist schon lange her.
Großbauer, Großgrundbesitzer, Erbbauer wider Willen, fast schon eine Bernhardsche Figur. Dreimonatiges Oberhaupt einer Gruppe, die nie die meine war. Nicht die Tatsache, dass noch so viele Nazis dort leben, oder die Unterdrückung der slowenischen Minderheit, das alles ist es nicht gewesen, war nicht der Grund für mein Scheitern. Vor der Macht habe ich Angst gehabt. Immer und immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen, ist mir eine Qual gewesen. Die Unfähigkeit, Macht auszuüben, ist die wirkliche Ursache für mein plötzliches Verschwinden gewesen, für meine Verweigerung, ein vorbestimmtes Leben zu führen. Ein Piefke besitzt österreichischen Boden, Grund und Boden, nur weil der Großvater es in seinem Testament so bestimmt hat. Verschenkt habe ich alles an die rechtmäßigen Besitzer: die kleinen Bauern, die das Land von je her bestellt haben. Kurz danach haben sie es Stück für Stück verkauft, sich mit dem neuen BMW oder Mercedes zu Tode gefahren, sich tot gesoffen oder alles beim Tarock verspielt. Verhasst und ausgelacht habe ich das Dorf verlassen.
Macht und daraus resultierend Heuchelei und Korruption bestimmen das österreichische Leben. Die österreichische Gemütlichkeit, die berühmte österreichische Gemütlichkeit funktioniert nur im Schatten der Macht. Irgendwie ist es auch in Deutschland nicht anders. Deutsche Manager, Aufsichtsratsvorsitzende können des Nachts so gemütlich sein, dass es direkt rührend ist. Aber der Unterschied besteht darin, dass man in Deutschland nicht mit der Gemütlichkeit kokettiert.
Weißberg steht für Gemütlichkeit. Gemütlichkeit nach einem langen, harten Arbeitstag auf den Feldern oder in den Wäldern. Weißberg steht für mich für den ersten Rausch, die erste Frau und für die erste Zigarette danach. Weißberg ist mehr ein Gefühl, das man mit Worten nicht ausdrücken kann.
Ich stehe am Fenster, rauche heimlich meine Zigarette und denke an Weißberg, an den Sternenhimmel über Weißberg. Ab und zu drehe ich mich zu meiner schlafenden Frau um: eine zufrieden schlafende Frau. Eine Frau, die alles erreicht und mich geschafft hat. Ohne jegliche Anstrengung ihrerseits gehöre ich ihr, bin Teil ihres Inventars geworden, steuerrechtlich absetzbar. Ich will nicht undankbar sein, immerhin verdanke ich ihr meine ökonomische Existenz.
Ich werfe die Zigarette in die österreichische Dunkelheit und lege mich zu ihr ins Bett. Das Bettlaken ist kalt im Gegensatz zu ihrer warmen Hand, die wie selbstverständlich am Rand meines Kopfkissens liegt. Geborgen werde ich einschlafen.
Hallein, du dreckigste Stadt Österreichs, in dir werde ich einschlafen. Ich denke noch einmal an Haydn und H. C. Artmann, und ein kleines bisschen an Gustav Mahler und Peter Altenberg.
Die Wärme meiner neben mir liegenden Frau beruhigt mich. Ihr Urvertrauen, mich zu haben, mich zu besitzen, schenkt mir Schlaf. Den Schlaf eines Mitte-Dreißigjährigen mit Bierbauch, der müde und träge macht, untermalt von einem etwas schüchternen Schnarchen. Tu felix Austria! Heimatland ist betreten.
2.
Ich spüre den feuchten Mund meiner Frau in meinem Gesicht; ein neuer Tag hat begonnen.
Jeden Morgen werde ich so geweckt, und jeden Morgen hasse ich sie dafür ein bisschen mehr. Liebkosungen auf nüchternen Magen, einen faden Geschmack im Mund, sind einfach pervers. Meine Frau hält mich, da ich meinen Kopf abwende und ihren nassen Küssen auszuweichen versuche, für einen Morgenmuffel. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben, wenn möglich den ganzen Tag. Sie dagegen braucht Unterhaltung, von Anfang an.
Sie telefoniert mit der Rezeption, fragt nach, ob man nicht doch im Zimmer das Frühstück einnehmen kann. Eine Frage, die sie am gestrigen Abend auch schon gestellt hat und die hinreichend, nämlich mit einem kommentarlosen Nein, beantwortet wurde. Aber sie braucht Unterhaltung, Aktivität, und findet immer wieder ein neues Opfer. Und sie gibt nicht so schnell auf. Der Rezeptionschef des Wilden Kaisers wird sich bestimmt noch eine Weile an meine Frau erinnern können. In Anbetracht des bevorstehenden Frühstücks, des österreichischen gastronomischen Kunstwerks mit Namen Kontinentalfrühstück, vergönne ich es ihm auch.
Am Telefon ist meine Frau einfach Weltspitze, fast unschlagbar, gäbe es da nicht noch ihre Mutter, von der sie diese frauentypische Kampfsportart gelernt hat.
Das Vergnügen, mit ihrer Mutter zu telefonieren, habe ich immer an meinem Geburtstag. Jedes Jahr, so gegen sieben Uhr morgens, in manchen Jahren auch etwas früher, ruft sie mich an, wünscht mir alles Gute zum Geburtstag, fragt kurz, wie es mir geht, und legt dann ohne Erbarmen los. Sie erzählt mir, ohne auf die von ihr zuvor gestellten Fragen eine Antwort abzuwarten, ihre ganze Leidensgeschichte: Blut im Urin, Knoten in der Brust, unkontrollierter Ausfluss etc. Sie kann gut erzählen, die Mutter meiner Frau, sehr bildreich, sehr plastisch. Das Resultat ihrer Anrufe ist meist, dass mir hinterher schlecht ist und ich mich nicht mehr auf die Toilette traue, weil ich befürchte, ich könnte mich bei der Untersuchung meines eigenen Stuhlganges nach Blut oder Ähnlichem erwischen. Da ich ein eher praktisch veranlagter Mensch und vor allem lernfähig bin, habe ich mir genau die Stellen gemerkt, an denen ich mit einem knappen Ja zu antworten habe. In der Zwischenzeit dusche und rasiere ich mich oder mache das Frühstück. Ein einziges Mal ist es mir bisher gelungen, auch noch den Müllkübel wegzubringen - es ist mein schönster Geburtstag gewesen.
An den Stellen, wo ich mit einem knappen Ja zu antworten habe, geht es ausnahmslos um die Beantwortung der Frage, ob ich denn auch schon diese oder jene Krankheit habe. Mit Nein zu antworten ist sinnlos, da hat man bei ihr überhaupt keine Chance. Also antworte ich immer mit Ja.
So gegen neun oder halbzehn Uhr morgens reiche ich den Hörer weiter an meine Frau, die aus unerklärlichen Gründen regelmäßig an meinem Geburtstag frei hat. Dann beginnt die schönste Zeit:
Ich kann endlich in Ruhe, und vor allem allein, ohne ständiges Reden, frühstücken. Gegen Mittag kommt meine Frau mit der Bemerkung Schade, dass Mutter nicht bei uns wohnt aus dem Schlafzimmer.
Meine Frau telefoniert immer noch mit der Rezeption. Die von ihr geäußerten Sonderwünsche, das Frühstück betreffend, werden stur abgelehnt, entweder Kontinental oder gar nichts. Und schon gar nicht im Zimmer. Ich lasse sie weiter telefonieren und nutze die Gelegenheit, als erster das Bad in Beschlag zu nehmen.
Das österreichische Hotelbadezimmer kann für einen Nichtösterreichkenner zur tödlichen Falle werden. Die Frotteematten, die vor der Duschkabine und dem Waschbecken liegen und die eigentlich der Sicherheit dienen sollen, sind meist nass und glitschig, da diese von dem Reinigungspersonal als Aufnehmer benutzt werden. Rutscht man nicht aus, so ist man sich wenigstens einer Pilzinfektion sicher. Die zweite Gefahr befindet sich in der Duschkabine selber, die sich von außen leicht, aber von innen ohne fremde Hilfe nicht öffnen lässt. Das wäre alles halb so schlimm, aber in Verbindung mit den beiden harmlos aussehenden Wasserhähnen (blau ist meist warm, rot meist kalt) kann dies zur tödlichen Falle werden. Man dreht die Hähne auf, lauwarmes Wasser kommt aus der verstopften Duschdüse, man dreht heißes Wasser auf, also den blauen Knopf, und schon hat man sich verbrüht. Klemmt dann noch die Schiebetür, ist man nicht mehr zu retten.
In österreichischen Hotels dusche ich immer kalt und lasse die Duschschiebetür einen Spalt offen. Um einer weiteren Gefahr aus dem Wege zu gehen, rasiere ich mich nur nass. Es befindet sich zwar ein Stromanschluss über dem Waschbecken, der ist aber so schlecht isoliert, dass man beim Einstecken einen kräftigen Stromschlag bekommt.
Ich verlasse ohne Blessuren gut gelaunt das Bad.
Meine Frau telefoniert immer noch mit der Rezeption. Mit der Ausrede, eine deutsche Zeitung kaufen zu wollen, flüchte ich vor dem Kontinentalfrühstück des Wilden Kaisers und lasse mich in diesem abgelegenen Café nieder, das meine Frau bestimmt nicht finden wird.
Ich genieße die frischen Hörnchen und Semmeln, den duftenden Kaffee, die Butter und die Marmelade, einige Scheiben Käse und Schinken. Ab und zu denke ich an Monika und ihr Kontinentalfrühstück. Das Café passt so gar nicht in das halleinsche Stadtbild. Es ist sauber und gepflegt. In Deutschland wäre die Einrichtung im Stil der fünfziger Jahre ein Renner, hier aber bin ich der einzige Gast und genieße die Ruhe. Ich liebe österreichische Cafés, in ihnen könnte ich den ganzen Tag verbringen. In diesen Lokalitäten wird man toleriert, stundenlang könnte man hier bei einer Melange oder einem kleinen Braunen verweilen, ohne dass die Bedienung misstrauisch zu einem herüber schielt, was in Deutschland unmöglich wäre. In Deutschland müsste man, mit der Bemerkung, dass dies kein Wartesaal sei, das Lokal verlassen. Hier aber kann man ungestört seinen Kaffee trinken und seine Gedanken schweifen lassen.
Auf der anderen Straßenseite sehe ich meine Frau. Sie macht den Eindruck eines gehetzten Tieres. Da ich es nicht kleiner habe, hinterlege ich einen Fünfhundertschillingschein, die Besitzerin wird sich freuen, und verschwinde durch die Hintertür.
Auf dem Hotelparkplatz bin ich der erste und komme so noch in den Genuss einer Zigarette.
Zwischen den Stühlen
Dieser Roman wurde mit einem Arbeitsstipendiums des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
1.
Meine Frau hat sich von mir getrennt, besser gesagt, ich muss unsere gemeinsame Wohnung verlassen.
Anfangs habe ich ihrer Bemerkung, auf der Stelle die Wohnung zu verlassen, keine Bedeutung geschenkt. Wie oft schon hat sie mir gedroht, mir Unverschämtheiten, Beleidigungen an den Kopf geworfen? Diesmal scheint mir der Grund ohnehin belanglos. Was habe ich denn schon getan?
Eine Erzählung habe ich geschrieben, eine winzige, unbedeutende Erzählung.
Sicher, meine Frau ist eine der Hauptpersonen. Aber wäre da Stolz nicht besser angebracht als Zorn? Außerdem ist meine Frau für ihr manchmal unüberlegtes Verhalten hinlänglich bekannt, wenn nicht sogar berüchtigt. Temperament nennen es die Verliebten und können davon gar nicht genug bekommen, was naturgemäß ein riesengroßer Fehler ist, denn wie schnell wird aus Liebe Hass.
Ich weiß zwar nicht ob meine Frau mich hasst, auf jeden Fall hat sie es diesmal mit ihrer Drohung, ich solle auf der Stelle die Wohnung verlassen, ernst gemeint. Zwar hat sie das auf der Stelle, eine Stunde nach unserem Disput, wieder zurückgenommen und daraus einen Monat gemacht, aber gerade das hätte mich stutzig machen müssen.
Aber zurück zu meiner winzigen, bedeutungslosen Erzählung. Nicht die Tatsache, dass ich meine Frau als einen barocken Typ skizziert, ihr die unmöglichsten Macken auf den Leib geschrieben habe, ist die Ursache für die plötzliche Kündigung von Tisch und Bett. Nein, ich habe sie am Schluss dieser winzigen und bedeutungslosen Erzählung einfach Sterben lassen, wobei ich mich naturgemäß nicht ausnehme. Ja, auch ich sterbe am Ende der Geschichte, zwar durch die Hand meiner Frau, aber es ist nur ein Unfall, keine böse Absicht habe ich meiner Frau unterstellt. Aber genau das tut sie. Sie wirft mir vor, dass ich sie in aller Öffentlichkeit als Mörderin hinstelle.
Dabei gibt es die Öffentlichkeit ja gar nicht. Niemand hat die Geschichte je gelesen. Sicher, ein paar Bekannten habe ich sie zum Lesen gegeben. Aber jeder weiß doch, wie das ist. Dankend nehmen solche so genannten Bekannten das Manuskript, für das man sich nächtelang krumm gelegt hat, für das man monatelang gelebt hat, an und versprechen, es, Neugier vorheuchelnd, alsbald zu lesen.
Ein interessanter Titel, sagen die so genannten guten Bekannten, blättern das Manuskript durch wie ein Telefonbuch und legen es zur Seite. Auf dem Schreibtisch bleibt es vielleicht, wenn es hoch kommt, zwei Tage, dann wandert es auf die Fensterbank. Auf der Titelseite sind deutlich zwei große braune Kaffeetassenränder zu erkennen. Mittwochs wenn die Haushälterin kommt und in Gedanken verloren, auf der Fensterbank die Blumen gießt, ist es mit der Titelseite vorbei, vielmehr noch, bis Seite zehn ist nichts mehr zu machen. Die Seiten kleben aneinander. Am Abend entdeckt der Hausherr, vielleicht auch erst ein paar Tage später, auf der Heizung mein gewelltes Manuskript. Diesen Anblick kann er naturgemäß nicht ertragen und mein Manuskript wandert in den Schrank, dabei ist es egal um welche Gattung Schrank es sich dabei handelt. Hauptsache weit weg, bloß nicht den Anblick ertragen.
Ich, der Verfasser, werde vertröstet.
»Du, ich glaube, ich muss das noch einmal lesen. Du weißt doch, was momentan bei mir los ist und so zwischendurch, nein, nein, du wirklich, das ist nicht meine Art, du weißt doch, wie ich deine Art zu schreiben, schätze.«
Wenn meine Frau behauptet, ich hätte sie in aller Öffentlichkeit als Mörderin hingestellt, hat sie einfach unrecht, - mal abgesehen davon, dass unser gemeinsames Dahinscheiden aus einem Autounfall herrührt. Das Schlimme ist nur, wenn meine Frau im Unrecht ist, dreht sie erst so richtig auf. Wenn sie dann auch noch weiß, dass sie im Unrecht ist, bleibt sie stur.
»Auf der Stelle verlässt du unsere Wohnung«, hat sie gesagt. Seltsam dabei ist, sie hat es ganz ruhig gesagt. Da ist überhaupt keine Erregung in ihrer Stimme, auch funkelten ihre Augen nicht.
»Auf der Stelle verlässt du meine Wohnung!«
Es ist ja ihre Wohnung. In all den Jahren unserer Zweisamkeit habe ich das total vergessen.
Vor acht Jahren bin ich ja zu ihr nach Hamburg gezogen. Ich bin ja derjenige gewesen, der alles aufgeben, der alle Verbindungen abgebrochen hat. Wobei ich Fairerweise zugeben muss, dass es mir zu dem damaligen Zeitpunkt nicht schwer gefallen ist, alles aufzugeben. Ich habe damals einfach meinen kleinen alten Koffer gepackt, meiner lausigen Einzimmerbehausung adieu gesagt und bin nach Hamburg gefahren.
Eine Woche später habe ich endlich begriffen, dass sie es ernst meint. Eine Erkenntnis, die ich den freundlichen Handwerkern zu verdanken habe, die in meinem Arbeitszimmer gerade mit dem Ausmessen meines Zimmers beschäftigt sind, als ich von einem ausgiebigen Spaziergang der Außenalster entlang die Wohnungstür aufschließe. Ich lade alle auf ein Bier ein, wo sie mir die Modernisierungspläne meiner Frau erklärten, in denen ich nicht mehr vorkomme.
Wenn diese freundlichen und trinkfesten Herren mit meinem Arbeitszimmer, das teilweise auch mein Schlafzimmer ist, fertig sind, wird nichts, aber auch gar nichts mehr, in dieser Wohnung an mich erinnern. Meine Frau streicht mich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus ihrem Leben.
In dieser Zeit stehe ich oft im Flur, luge durch den kleinen Spalt der Tür ins Wohnzimmer, wo meine Frau sitzt und Musik hört und kämpfe mit mir, hineinzugehen, mich zu entschuldigen und ihr einen neuen Anfang zu versprechen.
Aber wie oft haben wir es schon versucht mit dem neuen Anfang? Im Grunde besteht unsere ganze Beziehung aus neuen Anfängen. Aber ist ein Anfang nicht immer neu? Liegt vielleicht in dieser unrichtigen Bezeichnung das Scheitern unserer Beziehung?
Ich trockne im Flur die Teller ab, sehe durch den Spalt, wie meine Frau ihre Füße hochlegt und gehe nicht hinein.
Wie jeden Abend räume ich das Geschirr in den Schrank, lege das Handtuch über die Heizung und gehe in mein Arbeitszimmer, das mir, nachdem die freundlichen und trinkfesten Handwerker gegangen sind, fremd vorkommt. Wenn ein Zimmer eine Seele hat, dann würde meines mich gerade auslachen, denke ich. Dabei wird sich mein Arbeitszimmer noch nach mir zurücksehnen.
Nach den Plänen meiner Frau wird man den Teppichboden herausreißen und Parkettboden verlegen. Decke und Wände werden gestrichen, nicht zu vergessen die Tür, die Fenster und die Fußleisten. Mit der Ruhe wird es dann vorbei sein.
Ja, mein Zimmer wird sich noch nach mir zurücksehnen. Acht Jahre Ruhe und Behaglichkeit, das kann auch ein Zimmer nicht einfach so abstreifen. Aus meinem Zimmer soll das Esszimmer werden. Eine Tatsache, die mich am meisten kränkt.
Die Vorstellung meine so genannten guten Bekannten werden hier ein und ausgehen, sich den Bauch voll schlagen und sich mit einem Zahnstocher im Mund, nach meinem Verbleib erkundigen, treibt mir die Zornesröte ins Gesicht.
»Übrigens, ich habe da noch ein Manuskript von Deinem Ex, soll ich es wegschmeißen?«
Drei Wochen habe ich jetzt also noch Zeit meine Habseligkeiten zu packen. Nachts liege ich auf meinem Bett und denke nach. Mir fällt beispielsweise eines Nachts die Geschichte eines Handwerkers ein, der, nachdem man ihn um seinen wohlverdienten Lohn gebracht, in das Mauerwerk vor dem Verputzen noch ein rohes Ei eingebaut hat. Da sich der Gestank erst nach ein paar Wochen so richtig entwickelt, ist es für den Hausherren unmöglich, nachdem die ganze Wohnung verputzt und tapeziert worden ist, herauszufinden woher der Geruch stammt. Vorstellen kann ich es mir schon, aber dabei belasse ich es denn auch.
Nein, ich will mich von meiner Frau, wenn es denn sein soll und muss, in aller Freundschaft trennen.
Da meine Frau den ganzen Tag arbeiten geht, habe ich genug Zeit, meine Sachen zu ordnen. Eine ganze Menge ist da in den letzten acht Jahren zusammengekommen. Allein drei große Regale voller Bücher stehen in meinem Arbeitszimmer.
»Ein Schriftsteller braucht Bücher«, hat meine Frau gesagt.
Sicher, sie hat es immer gut gemeint, wenn sie Taschen voller Bücher angeschleppt hat. Ihr Auswahlkriterium ist immer ein sehr einfaches gewesen. Sie hat sich einfach an den Bestsellerlisten orientiert. Diese Art von Büchern stehen meist an der Kasse der großen Buchläden, schön nach Platzierungen sortiert. Nur die wenigsten dieser Bücher habe ich gelesen. Was beispielsweise soll ich mit drei Bänden Das magische Auge anfangen?
Eines jedoch ist klar, mit meinem kleinen Koffer werde ich diesmal nicht auskommen.
»Entschuldige, meine Liebe, aber weißt du, wo mein kleiner Koffer abgeblieben ist?«
Der ist vor vier oder fünf Jahren auf den Müll gelandet. Da wo er hingehört!
Selbstverständlich übernehme ich alle Kosten, die mit Deinem Umzug zusammenhängen.«
Schweigend verlasse ich das Wohnzimmer, gehe in mein Arbeitszimmer, setze mich an meinen Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Ohne ein einziges Blatt an seinen Ästen steht er da, mein Nussbaum. Das Ärgernis für die ganze Nachbarschaft und meine Freude. Was wird er wohl ohne mich machen?
Wenn wir dieses Jahr wieder so einen heißen Sommer bekommen, sieht es nicht gut aus für meinen treuen Freund. Die Nachbarn werden sich freuen, wenn er eingeht. Mehrmals habe ich unter seinem kleinen Stamm, direkt an der Wurzel, Streusalz gefunden. Ob ich doch noch mit meiner Frau reden soll?
Nein, auch ich habe meinen Stolz. Wenn sie mich unbedingt loswerden will, dann bitte. Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Den ganzen Haushalt habe ich für uns beide geschmissen. Da wird sie sich noch umschauen.
Dennoch bin ich am nächsten Tag in das Computer- und Kopiergeschäft in meiner Nachbarschaft gegangen und habe um Kartons nachgefragt. Der Besitzer, ein Ägypter, verspricht mir, ab sofort Kartons für mich zu sammeln. Dabei macht er ein trauriges Gesicht. Denn irgendwie, obwohl wir nie viel miteinander geredet haben, sind wir Freunde geworden. Oft, wenn mir am Nachmittag langweilig gewesen ist, bin ich zu ihm hinübergegangen und wir haben ein paar Runden Backgammon gespielt.
Zwei Wochen vor Ablauf des Ultimatums stapeln sich schon eine ganze Menge Kartons in meinem Arbeitszimmer, was nach unserem Disput, wegen dieser lächerlichen winzigen bedeutungslosen Erzählung, endgültig auch mein Schlafzimmer geworden ist.
Ich bin gerade dabei den ersten Karton mit meinen Habseligkeiten voll zu stopfen, da klopft es an meine Tür.
»Darf ich hereinkommen?«, höre ich die Stimme meiner Frau fragen.
Zusammen mit einer hochgewachsenen Afrikanerin betrat sie mein Arbeitszimmer. Eine wirklich hübsche Person, die sich später als meine Nachfolgerin in punkto Haushaltsführung herausstellen wird. In den nächsten zwei Wochen soll sie mir über die Schultern schauen, damit der Übergang auch nahtlos klappt.
Ich bin wirklich ein Gemütsmensch, aber was zuviel ist, ist zuviel. Erst als meine Frau mir erklärt, dass sie sich nicht scheiden lassen will. Und sie selbstverständlich für meinen Unterhalt aufkommt, beruhige ich mich langsam. Ich habe nichts dagegen, dass sie mich weiter steuerlich absetzte.
»Und was ist, wenn du wieder heiraten möchtest?«
»Glaub mir, ich habe die Schnauze voll von Männern. Und was ich brauche, nehme ich mir.«
Weitere Fragen zu stellen, halte ich für unnötig.
Sie meint es also wirklich ernst.
Im Grunde kann ich es ihr ja auch nicht verübeln.
Ich bin nun mal für eine Partnerschaft einfach nicht geschaffen. Den höchsten Grad an Glückseligkeit erreiche ich nur, wenn ich allein bin. Stundenlang kann ich beispielsweise allein spazieren gehen. Zusammen mit meiner Frau mache ich nach zehn Minuten schlapp, vor allem dann, wenn sie sich auch noch bei mir einhakt oder gar den Arm um meine Schultern legt.
Auch habe ich immer das Gefühl, überhaupt nichts wahrzunehmen, wenn jemand neben mir hergeht. Aber immerhin ist es acht Jahre lang gut gegangen.
Meine Frau ist ihrem Beruf nachgegangen und in meiner Zeit so manche Sprosse auf der Karriereleiter nach oben gestiegen. Ich habe derweil am Schreibtisch gesessen und versucht, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Lange Spaziergänge habe ich unternommen, unter dem Arm Päckchen mit Manuskripten, die ich in den verschiedensten Postämtern von Hamburg aufgegeben habe, in der Hoffnung alsbald von der großen Literaturwelt wahrgenommen zu werden. Acht Jahre sind jetzt vorbei und es ist immer noch nichts passiert. Wäre mein Arbeitszimmer nicht so voll gestopft mit Sachen, die ich jetzt versuche in die Kartons zu stopfen, ich hätte schwören können, gestern erst in Hamburg angekommen zu sein.
Erst wenn ein Schlussstrich gezogen wird, merkt man, wie schnell die Zeit vergangen ist.
Eine Woche dauert es, bis ich mein Arbeitszimmer in die Kartons verstaut habe.
Da stehe ich nun in dem Raum, der mir acht Jahre lang Heimat gewesen ist, und starre auf die leeren Regale. Das Aussortieren habe ich schon nach einem halben Tag aufgegeben. Reine Zeitverschwendung sich zu überlegen, was man mitnimmt und was nicht. Meine Frau wird ohnehin alles wegschmeißen. Ein Karton mehr oder weniger, darauf kommt es jetzt wirklich nicht mehr an.
»Weißt du eigentlich schon, wo du hinziehen willst?«, fragt mich meine Frau, die mich zum Abendessen in ein gutes Speiserestaurant eingeladen hat.
Über diese Frage habe ich wirklich noch nicht nachgedacht. Ich habe sie einfach verdrängt. Wahrscheinlich werde ich zurück an den Rhein ziehen, da habe ich noch ein paar Freunde, besser gesagt einen Freund.
Acht Jahre Hamburg und keinen einzigen Menschen kennen gelernt, der es wert wäre, da zu bleiben. Das muss mir erst einmal wer nachmachen. Wie schon gesagt, ich bin halt gerne allein. Aber wenn ich ehrlich bin, bin ich schon erstaunt darüber, dass ich in den ganzen acht Jahren niemanden kennen gelernt habe.
Die so genannten guten Bekannten meiner Frau, die mit den Jahren auch zwangsläufig zu meinen so genannten guten Bekannten geworden sind, kann man allesamt vergessen: In der Milch der Oberflächlichkeit schwimmendes Gesindel, Aasgeier meiner Zeit.
Anfangs habe ich ja noch gedacht, als meine Frau mich als ihren Mann bei ihren so genannten guten Bekannten vorstellt hat, ich könne diese wenigstens zu Studienzwecken nutzen, den einen oder anderen so genannten guten Bekannten sogar in eine meiner kleinen unbedeutenden Erzählungen einbauen. Aber dieses Hamburger Gesindel hat mich sprachlos gemacht. Sobald ich mit ihm zusammengekommen bin, habe ich meine Sprache verloren. Ich bin nur da gesessen, habe auf die geschwätzigen Münder geschaut und bin fassungslos gewesen. Kein Thema ist ihnen fremd gewesen, auf alles haben sie eine Antwort parat. Da ist zwischen den Menügängen analysiert und seziert worden. Alles in einem rasenden Tempo, dass mir meist erst tief in der Nacht klar geworden ist, was für ein Blödsinn aus den fettigen Mündern der so genannten guten Bekannten gesprudelt ist. Wenn ich in meiner Sprachlosigkeit, nach langem Suchen, endlich wieder Wörter gefunden gehabt habe, ist die Versammlung der so genannten guten Bekannten längst aufgelöst gewesen.
»Du hättest ruhig auch mal was sagen können«, hat meine Frau meine Unfähigkeit in aller Regelmäßigkeit kommentiert, eine abwertende Handbewegung gemacht und mich einfach allein zurück gelassen.
Die so genannten guten Bekannten werden auch von meinem Auszug gewusst haben, bevor meine Frau überhaupt die Möglichkeit erwogen hat, mir den Stuhl vor die Tür zu setzen, denke ich beim Betrachten des leeren Arbeitszimmers.
Wieder das Gefühl von Heimat. Immer dann Heimat, wenn ich gehen muss. Das Gefühl zwischen den Stühlen zu sitzen, wird es in einer Woche nicht mehr geben. In einer Woche wird man mir den Stuhl vor die Tür stellen und wenn ich nicht aufpasse, werde ich ganz schön fallen.
Eine Woche Zeit, und ich habe immer noch keine neue Wohnung, kein Ziel, keine Perspektive auf etwas.
Im Grunde ist es ja egal, was ich mache, nur ein Stuhl muss vorhanden sein, ein neuer stabiler Stuhl. Etwas eben, was da steht, schon immer da gestanden hat. Ein Stuhl mit vier Beinen, viermal Bodenkontakt. Mit dem man wippen kann, ohne umzukippen, wo man sich dazwischen setzen kann, ohne auf den kalten Boden zu fallen. Einen Stuhl, meinen Kärntner Stuhl werde ich immer mit mir herumschleppen. Ohne meinen Kärntner Stuhl wäre wahrscheinlich auch gar nicht so viel passiert, hätte ich längst einen Beruf, würde nur auf einem Stuhl sitzen und funktionieren. Der Kärntner Stuhl aber, dem ich das Sitzen zwischen den Stühlen zu verdanken habe, lässt mich nicht zur Ruhe kommen, bestärkt mich in meinem Tun, gibt mir Sicherheit, dass es noch einen weiteren Stuhl gibt, - zwar andersartig -, auf den ich mich setzen, vielleicht aber auch nur abstützen kann, um eben zwischen den Stühlen zu sitzen. Eine Woche Zeit, um einen zweiten Stuhl zu finden.
Ein deutscher Stuhl sollte es schon sein, wo doch schon mein Kärntner Stuhl wackelt, immer gewackelt hat. Hat ja auch schon mein Großvater drauf gesessen, wie Generationen vor ihm. Der Kärntner Stuhl wackelt halt, würde gerne nach rechts fallen, fällt aber nicht, wird nie nach rechts fallen, auch wenn andere es behaupten oder es sogar angeblich immer schon gewusst haben, wie beispielsweise die Hamburger so genannten guten Bekannten.
Eine Woche Zeit, um einen neuen Stuhl zu finden. Gerade genug Zeit, um auf Altbewährtes zurückzugreifen.
Wenn schon der Hamburger Stuhl, und daran ist es ja letztlich gescheitert, so fest auf dem Boden gestanden ist, muss jetzt ein wackeliger her, um wieder in Balance zu kommen.
Ich liege auf dem Bett, starre abwechselnd auf die Umzugskartons, die eigentlich Computer- und Fotokopierpapierkartons sind, und die Decke, die mir lieb geworden war, deren Schattengebilde, hervorgerufen durch Autoscheinwerfer, die für einen kurzen Moment mein Zimmer erhellen, mich zu den ungeheuerlichsten Phantasien angeregt haben. Nordpolforscher, Sternentaucher, Hochseilartist in den Höhen des Unmöglichen.
Neben mir liegt das kleine Büchlein mit den Adressen, aber da steht nicht mehr viel drin. Die meisten Adressen haben ihre Gültigkeit verloren. Da ist geheiratet, umgezogen worden, um sich beruflich zu verbessern. Nein, da ist nicht sehr viel, was sich da in meiner handgeschriebenen Datenbank befindet. Die meisten Adressen durchgestrichen, auch gibt es Fragezeichen hinter den Namen oder neue Telefonnummern, die wiederum auch schon von mir durchgestrichen worden sind.
So reißen eben Kontakte ab. Vor allem, wo es anscheinend Mode geworden ist, eine Geheimnummer zu beantragen.
»Kein Anschluss unter dieser Nummer!«
»Bitte rufen Sie die Auskunft an!«
Das Adressbüchlein hat nicht viel Auswahl hinsichtlich eines neuen Stuhls.
Eine Frau kann ich in meiner momentanen Situation auf keinen Fall anrufen. Frauen sind zwar in meinem bisherigen Leben oft die letzte Rettung gewesen, leider aber auch Sackgasse bis hin zum Martyrium.
Es ist schlimm genug, nach acht Jahren gemeinsamer Wohnung, nach immerhin acht Jahren gemeinsamen Lebens, feststellen zu müssen, dass man sich eben getäuscht, sich permanent belogen hat, es würde sich um eine gemeinsame Wohnung handeln. Wo doch alle Welt weiß, vor allem die so genannten guten Bekannten es längst wissen, es immer schon gewusst haben, dass die gemeinsame Wohnung, immer nur die meiner Frau gewesen ist.
Ich bin damals vor acht Jahren zu ihr gezogen, habe ein Zimmer, das sie im Vorfeld hat leer räumen lassen, zur Verfügung, zur freien Nutzung, sozusagen, zugeteilt bekommen.
In dem Moment, als ich das Zimmer, das mir meine Frau zur Verfügung gestellt hat, als mein Zimmer angenommen hatte, hier sogar angefangen habe zu schreiben, - selbst der für meine Frau und mich tödlich ausgegangene Autounfall ist hier entstanden -, ist es vorbei mit dem Hamburger Stuhl.
Einbildung, Selbstüberschätzung, ja Unsinn das Ganze, je von meinem Arbeitszimmer, meinem Raum gesprochen zu haben.
Es ist ein auf Zeit mir zugeteilter Raum gewesen.
»Ich bin ein Baum«, habe ich zu meiner Frau gesagt, zu einem Zeitpunkt, wo alles längst entschieden ist, die Handwerker bestellt, die Tapete und das Parkett ausgesucht worden sind.
»Du und ein Baum«, hat sie gesagt und dabei angefangen, zu lachen.
Es ist kein Lachen aus Freude. Ein verächtliches Lachen ist das. Ein Lachen, das ich seit acht Jahren kenne und das mir immer noch durch Mark und Bein geht.
Ein monsterhaftes Lachen ist das, das die Gesichtszüge meiner Frau bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
2.
Nachdem ich stundenlang auf meinem Bett gelegen, das naturgemäß auch nur eine Leihgabe meiner Frau ist, an die Decke gestarrt und vor meinem geistigen Auge das Adressbüchlein durchblättert habe, ist nur ein Name übrig geblieben.
Maron, heißt der Freund. Zwar haben wir uns in den letzten acht Jahren nicht all zu häufig gesehen, aber wenn wir uns getroffen haben, entweder in Hamburg, Paris, wo er für ein Jahr eine Dozentenstelle übernommen gehabt hat oder Bonn, der Ort in dem er jetzt lebt, sind es immer wieder unvergessene Tage gewesen. Sicher, wir haben uns in den über fünfzehn Jahren unserer Freundschaft oft gestritten, wobei, und darauf lege ich wert, wir uns nie um Positionen gestritten haben. Nie ist es uns in den Sinn gekommen, Macht zu demonstrieren.
Nächtelang diskutiert, Standpunkte erörtert, Irrungen, Wirrungen, Bier oder Wein getrunken, am Schluss immer einen Calvados, gebrüllt, getobt, in den Armen gelegen oder auf dem Boden, volltrunken. Auf jeden Fall sind wir immer als Freunde auseinander gegangen, haben uns mit einem Lächeln voneinander verabschiedet.
Maron ist Musiker, das erklärt vielleicht vieles. In den allerseltensten Fällen sind Musiker, naturgemäß nur die E-Musiker in Schlägereien verwickelt. In der ganzen Weltgeschichte kenne ich keinen Diktator, der Musiker gewesen, mit Ausnahme von Nero, der gleichzeitig ja auch Lyriker gewesen ist. Experimentelle Musik, experimentelle Lyrik in Verbindung mit Größenwahn kann nur zur Katastrophe führen. E-Musiker haben in der Regel ja auch gar keine Zeit, sich um die Außenwelt zu kümmern. Da ist das Theater, die Oper, das Konzerthaus, wo sich viele E-Musiker treffen, wo Intrigen gesponnen, Leidenswege gegangen werden, wo vernichtet wird.
Maron ist der einzige, den ich anrufen werde, anrufen kann.
Tag und Nacht kann ich mit Maron reden, wenn nicht mit ihm, so zumindest mit seinem Anrufbeantworter.
»Hier spricht Maron, aber nicht wirklich«, meldet sich die Anrufbeantwortermaschine.
Maron hat immer noch dieselbe überzeugende Telefonstimme.
Maron hätte lieber ins Finanzgeschäft einsteigen sollen. Den ganzen Tag Zahnärzte kontaktieren, um ihnen ihr Schwarzgeld aus der Tasche zu ziehen.
Würde Maron seine Fähigkeiten richtig einsetzen, spätestens nach einer halben Stunde hätte er von den Zahnärzten Kontovollmachten.
Es ist nicht so, dass ich meine Telefonstimme nicht für erotisch, für überzeugend halte, aber ich telefoniere nun mal ungern. Früher, vor acht Jahren, als ich meine Frau noch nicht gekannt habe, ja da, habe ich noch gern telefoniert. Aber acht Jahre als unfreiwilliger Mithörer der Telefonate meiner Frau mit ihren unsäglichen so genannten guten Bekannten, haben mich verändert.
Unangenehm einfach einen warmen Telefonhörer in den Händen halten zu müssen. Das Parfüm meiner Frau ist längst in die Ohrmuschel eingeätzt, sowie das unsägliche, unsinnige, total unwichtige Geschwätz der so genannten guten Bekannten meiner Frau. Immer fettig der Hörer, warm und glitschig der ganze Apparat.
Außerdem, mit wem hätte ich schon telefonieren sollen?
Meine Frau hat immer stundenlang telefoniert, dabei ist es ihr immer vollkommen egal gewesen, mit wem, wieso und warum. Hauptsache sie kann reden, reden, reden.
Selbst von meinem Arbeitszimmer aus, bei geschlossenen Türen, wenn ich die ohne Atem zu holende Stimme meiner Frau auf dem Flur vernehme, glaube ich die Atemgeräusche ihrer Zuhörer zu hören, die viel lieber ein Ja oder ein Ja, aber, in den Hörer geschrieen hätten.
Wenn sie dann nach drei, vier Stunden den Telefonhörer auf die Gabel geschmissen hat, wahrscheinlich nur aus Konditionsmangel, hat sie sich zuvor bei ihren Zuhörern mit den Worten verabschiedet:
»Bis gleich!«
»Ja, dann bis gleich!«
Wie oft habe ich mir das anhören müssen, obwohl die Tür meines Arbeitszimmers geschlossen gewesen ist.
»Bis gleich!«
»Ja, dann bis gleich!«
Sicher bin auch ich manchmal an der Tür gestanden, das Ohr an das Holz gepresst, selbst auf einen Anruf hoffend.
Einzelhaft, Kontaktsperre, kein schalldichter Stahlbetonbau, sondern eine fünf Zimmer sanierte Hamburger Altbauwohnung, ist acht Jahre mein Zuhause gewesen. Kaum jemand hat mich in den ganzen acht Jahren angerufen, ist durchgekommen, hat die Ausdauer sich gegen ein stundenlanges Tut, Tut, Tut, durchzusetzen gehabt und es immer und immer wieder zu versuchen.
Ich möchte nicht darüber nachdenken, wer alles versucht hat, die Anstrengung unternommen hat, durchzukommen.
Acht Jahre isoliert von der Außenwelt, durch das ewige Besetztzeichen habe ich mir eine Zeitlang vorgestellt, dass mir die besten Kontakte, Geschäfte durch die Lappen gegangen sind. Was naturgemäß ein vollkommener Blödsinn gewesen ist.
Fast gleichzeitig, also dann, wenn meine Frau den Hörer auf die Gabel geschmissen hat, habe ich in sekundenschnelle die Tür von meinem Arbeitszimmer aufgerissen und habe so meiner Frau in die Augen schauen können.
Triumphierende Blicke sind mir da auf der Wohnungsdiele entgegen geworfen worden, acht Jahre lang immer derselbe triumphierende Blick.
Nach dem gemeinsamen Essen mit unseren so genannten guten Bekannten, dient das Telefon meiner Frau dazu, sich bei unseren so genannten guten Bekannten, für mein Benehmen zu entschuldigen. Einen nach dem anderen wird von ihr angerufen, damit sie sich für mein Verhalten entschuldigen kann. Dabei habe ich den ganzen Abend überhaupt nichts getan. Die einzige Bemerkung, die ich an solchen Abenden von mir gegeben habe, ist ein: Ich weiß nicht gewesen.
Als die Hamburger so genannten guten Bekannten für mich noch Fremde gewesen sind, also am Anfang der Beziehung zu meiner Frau, habe ich des Öfteren das Wort an mich gerissen, was gar nicht so einfach gewesen ist. Ich habe die Dinge so geschildert, wie ich sie gesehen habe.
In der ganzen Zeit, in all den acht Jahren, habe ich Dinge nie kommen sehen, nie etwas geahnt. Ich habe die Dinge immer nur so beschrieben, wie ich sie in dem Augenblick gesehen habe.
Anfangs ratlos und bestürzt, haben die so genannten guten Bekannten meine Sicht der Dinge zur Kenntnis genommen. Dies ist wahrscheinlich nur der angeborenen Hanseatischen Höflichkeit zuzuschreiben.
Später aber, vielleicht nach einem Jahr, hat man auf meine Sicht der Dinge nur noch mit Ablehnung reagiert. Versteinert die Gesichter jedes einzelnen, wütend darüber, dass ich die Dinge sehe, die sie nur voraussehen können.
Es kann natürlich sein, dass es für einen wie mich, der eben nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht, sondern sich zwischen zwei Stühlen befindet, sozusagen in der Luft hängt, ein Zustand, der unheimlich auf die Oberarme geht, da man sich mit der flachen Hand jeweils auf einem Stuhl abstützt, wobei die Beine, parallel zum Boden, ausgestreckt sind, unmöglich ist, die Dinge eben nur zu sehen, wie man sie empfindet.
Die Hamburger so genannten guten Bekannten wippen lieber mit ihren Stühlen oder lehnen sich zurück, spülen sich mit teurem Cognac die Mundhöhlen aus, lassen letzte Käsereste, die Speiseröhre hinunter gleiten und lauschen ihren immer in derselben Tonlage befindlichen Stimmen.
Nicht eine Minute kann ich dieselbe Tonlage halten, wenn ich über die Sicht der Dinge rede. Allein die Tatsache, dass ich eine eigene Meinung und somit Stellung bezogen habe, hat meine Zuhörer irritiert und ausreichend, dass sie sich ablehnend mir gegenüber verhalten haben.
»Ja, sicher hast du Recht, aber... «
»Bedenke die Kehrseite der Medaille!«
»Alles hat zwei Seiten!«
Das war ihre Art über die Dinge zu sprechen.
Gott sei Dank bin ich jetzt von alledem erlöst, muss mir keine Theorien mehr anhören, wie beispielsweise Kriege entstehen oder warum so viele Menschen in der Dritten und Vierten Welt zugrunde gehen.
»Ein Menschenleben ist in diesen Regionen nicht viel wert. Die ganze Sache muss man philosophisch angehen.«
»Und was ist mit dem Balkan?«
»Wesentlich komplizierter, aber natürlich historisch erklärbar.«
»Wie kann man einen Völkermord historisch erklären?«
»Nun historisch vielleicht nicht, aber... «
»Wie kann man einen VÖLKERMORD erklären?«
Schweigen setzt ein und ich spüre die bösen Blicke meiner Frau. Ich weiß genau, in ein oder zwei Stunden wird sie wieder stundenlang das Telefon blockieren, um sich bei ihren so genannten guten Bekannten für mein Verhalten, für meine Fragen, zu entschuldigen.
Einmal hat allein die Frage, ob es nicht nur eine Welt gäbe, das gemeinsame
Essen mit den so genannten guten Bekannten schon bei der Suppe zum Platzen gebracht.
Gott sei Dank ist das jetzt vorbei.
Mit Maron dem Musiker werde ich demnächst essen, kochen werden wir gemeinsam und uns dabei unterhalten. Beim Salat putzen, beim Geflügel ausnehmen, werden wir Positionen beziehen. Ratlos werden wir sein und es auch bleiben und uns dennoch zuprosten.
Die Hamburger so genannten guten Bekannten werden auch weiterhin das blutige Fleisch sezieren, es in kleine Stücke schneiden und dabei gleichzeitig die Weltgeschichte, die Weltentwicklung sezieren, sie interpretieren, so als ob es sich hierbei um ein Theaterstück handelt, was man soeben im Hamburger Schauspielhaus oder im Thalia Theater gesehen hat.
»Warum liest du uns nicht einfach was vor?«
An dem Abend, als die gut genährten so genannten guten Bekannten sich in unserem Speisezimmer satt in den großen Sesseln zurückgelehnt haben, hat meine Frau mir diese Frage gestellt.
Heute, jetzt, wo ich auf dem Bett liege und mich entschieden habe nach Bonn, zu meinem Freund Maron zu ziehen, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich nicht auch das Ende aus meiner kleinen unbedeutenden Erzählung vorgelesen habe.
Das Ende von meiner Frau und mir, dieser blödsinnige Autounfall, der zweifelsohne auf das Konto meiner Frau gegangen ist.
Ist vielleicht dieser Abend ausschlaggebend gewesen, dass meine Frau, die ich immerhin mal gern gehabt habe, es jetzt aber, in Anbetracht der gepackten Kartons nicht zugeben will, mich so plötzlich, so unerwartet und konsequent vor die Tür setzt?
Meine Frau trennt sich ja nicht von mir, sie schmeißt mich einfach hinaus, streicht mich, lässt mich aus ihrem Leben streichen. Wenn erst einmal die Handwerker in meinem Arbeitszimmer gewesen sind, wird nichts mehr von mir übrig bleiben.
Vielleicht lasse ich die alten Fahrräder im Heizungskeller. Jahre ist es her, dass ich sie habe reparieren wollen. Immer wieder verschoben, wie so viele andere Dinge auch. Alle Dinge vor mir her geschoben, ohne dass es hinter mir leerer geworden wäre, ganz im Gegenteil.
In meinem Rücken steht eine schlecht aufgeschichtete Wand, die nicht mehr viel benötigt, um zu kippen. Wenn es erst bröckelt, wird sich die Lawine in Bewegung setzen. Dann wird es kein Halten mehr geben. Wenn sich die schlecht aufgeschichtete Wand in Bewegung setzt und auf meine vor mir her geschobenen Dinge trifft, werde ich dazwischen sein und es wird nicht viel übrig bleiben von mir.
In dem Moment, als ich die Vorwahl von Bonn gewählt habe, klopft es an meine Tür.
Ohne eine Antwort abzuwarten, betritt meine Frau mein Arbeitszimmer.
»Du hast also das Telefon! Ich habe es schon überall gesucht!«
»Wenn du es nicht hast, kann ich es nur haben, oder wohnt hier schon eine dritte Person? «
Nach dir wird es hier außer mir keine Person mehr geben, das verspreche ich dir!«
Du hast mich also schon zur Person erklärt?«
Mach dich doch nicht lächerlich, ich will nur das Telefon!«
Ohne Telefon, keine neue Wohnung!«
»Andere kaufen sich eine Zeitung oder schalten einen Makler ein. Wen um alles in der Welt willst du um diese Zeit noch anrufen?«
»Maron rufe ich an, wen denn sonst«, sage ich, lege aber, in dem Moment, als ich das sage, den Hörer zurück auf die Gabel.
»Maron«, lacht meine Frau, ich hätte es mir denken können. Du bist ein ewiger Kreislauf!«
»Ich bin ein Baum, nicht mehr und nicht weniger! Ein Baum, den man nicht so einfach verpflanzen kann! Der neue Standort muss gut überlegt sein!«
»Willst du mir drohen? Sollte das jetzt gerade eine Drohung sein?«
Tatarmandl
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
Das Leben bleibt auf der Strecke und darüber saust der Zug, der dir die Blumen bringt.
1.
»Ist das Gerechtigkeit? Ihr Schweine! Ihre Schweine!«
Ich klappe den Laptop zu und verlasse den Gerichtssaal.
»Zwei Jahre nur wegen Schwarzfahren, die spinnen doch«, sagt eine ältere Dame und eine
größere Rentnergruppe pflichtet ihr bei.
»Das ist Siegerjustiz! Willkür!«
Über das große Treppenhaus verl1.
»Ist das Gerechtigkeit? Ihr Schweine! Ihre Schweine!«
Ich klappe den Laptop zu und verlasse den Gerichtssaal.
»Zwei Jahre nur wegen Schwarzfahren, die spinnen doch«, sagt eine ältere Dame und eine größere Rentnergruppe pflichtet ihr bei.
»Das ist Siegerjustiz! Willkür!«
Über das große Treppenhaus verlasse ich die Kathedrale der Justiz.
»Und? Was wirst du schreiben?«, fragt Fritzi, die Tochter meiner Nachbarin, die bei mir ein Praktikum macht, damit das Kindergeld nicht gestrichen wird. Fritzi hat mit 1,2 das Abitur bestanden.
»In Berlin«, wie sie sagt, »in Berlin ist es eine eins. In Bayern aber höchstens eine drei.«
»Scheiß auf die Bayern«, sage ich beim Hinausgehen.
»Aber du kommst doch daher«, fragend schaut mich Fritzi mit großen Augen an. Während sie weitergeht, blendet mich die Sonne, die durch das große Fenster des Justizgebäudes scheint.
»Ich will auf die Filmhochschule nach München und Mama sagt, dass dein Bruder...«
»Ja«, unterbreche ich sie, »ich habe schon verstanden. Aber ich habe seit Jahren keinen Kontakt zu diesem Geiergesicht.«
Was so nicht stimmt. Aber manchmal bedarf es einfach einer Notlüge.
Keine zwei Wochen ist es her, da hat ein großer orangefarbener Umschlag in meinem Briefkasten gesteckt. Anhand der Farbe habe ich sofort gewusst, dass dieser, einem Päckchen ähnliche Brief, nichts Gutes bedeuten würde.
Von Hamburg über Bonn bin ich vor Jahren in Berlin gelandet. Bis vor zwei Wochen habe ich tatsächlich geglaubt, alle Spuren verwischt zu haben.
»Verstehe ich nicht, wie man zu seinem eigenen Bruder keinen Kontakt haben kann«, Fritzi macht ein mitleidiges Gesicht, so als hätte sie am Straßenrand einen fast verhungerten Igel gefunden. Dabei kennt sie noch nicht einmal ihren leiblichen Vater, sondern nur Kerle, die halbjährlich bei ihrer Mutter ein und wieder ausziehen. Ich bin wahrscheinlich, der erste konstante Mann in ihrem Leben. Darum hängt sie so an mir, wie ein Kaugummi an der Sohle.
»Mein Bruder ist zurzeit nicht in München«, sage ich und überspringe einen dampfenden Hundehaufen.
»Ich dachte, du hättest keinen Kontakt«, Fritzi lässt einfach nicht locker.
»In irgendeiner Illustrierten stand was«, lüge ich schon zum zweiten Mal. Das Gerichtsgebäude hat keinen guten Einfluss auf mich, scheint mir.
Warum dieses wirklich liebe Mädchen zum Film will, ist mir vollkommen schleierhaft. Warum will sie nicht Tierärztin oder Meeresforscherin werden?
Vielleicht ist ja der leibliche Vater ein Schauspieler oder Regisseur gewesen.
»Hier in Berlin wimmelt es doch von Kreativen und Filmleuten«, sage ich und bin stolz darauf, dass auch mein Unterbewusstsein beides voneinander trennen kann.
»Hier laufen doch nur selbstverliebte Arschlöcher herum«, erwidert Fritzi und stampft fest mit einem Stiefel auf, dass die Hundescheiße bis auf die Straße spritzt.
Fritzi will weg. Ich kann sie ja verstehen. Aber warum ausgerechnet nach München, und dann auch noch zu meinem Bruder. Das erste, was mein Bruder mit ihr machen wird, ist das, was er mit allen das erste Mal macht. Er vergewaltigt sie. Er vergewaltigt sie mit seinen Geschichten, seinen Anekdoten über das Filmgeschäft. Er schmeißt nur so um sich mit seinen Geschichtchen und Namen. Natürlich sind es die Bundesfilmpreisträger, die Oscargewinner und die Lolaabräumer, die seinen erstunkenen und erlogenen Geschichten Glanz verleihen sollen. Nein, mein Bruder kann keine Geschichten erzählen, nein das kann er nicht. Das wissen auch die Frauen, seine Opfer und geben sich bereitwillig hin, bloß um keine Geschichten mehr hören zu müssen.
»Ich lade dich auf einen Kaffee ein«, höre ich mich sagen und wünsche mir, dass es mir gelingt, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen.
»Aber nur, wenn ich aussuchen darf wo!«
Manchmal ist Fritzi wirklich noch ein Kind.
Wir überqueren die Straße wie die Hasen und müssen lachen. Warum will dieses hübsche und nette Mädchen ausgerechnet zum Film?
Zwei Tage hat der orangefarbene Umschlag auf meinem Küchentisch gelegen, der auch gleichzeitig als mein Schreibtisch, meine Zeitungsablage, mein Archiv und meine Müllvorsortierung dient.
Ein in Österreich abgestempelter Brief mit dem Absender meines Bruders beziehungsweise der Filmfirma seiner Frau aus München, muss doch jeden intelligenten Menschen misstrauisch machen.
Zehn Jahre, ach was, mehr als zwanzig Jahre habe ich von meinem Bruder nichts mehr gehört. Und dann dieser Umschlag. Dick und prall hat er auf meinem Tisch zwischen leeren Fischdosen, Tellern, Kaffeetassen, Joghurtbechern und anderem Unrat gelegen.
Mein Bruder schreibt mir einen Brief, da kann nichts Gutes drin stehen. Mein Bruder hat mir noch nie einen Brief geschrieben. Das Leben neigt sich dem Ende zu und die Bilanz ist, dass mein Bruder es nicht geschafft hat, sich mir schriftlich mitzuteilen.
Meinem Zahnarzt ist es letztendlich zu verdanken, dass ich überhaupt weiß, was mein Bruder so treibt. Im Wartezimmer liegen die bunten Blätter eingepackt in trister Pappe eines Lesezirkels. Zwar hat es mein Bruder bisher nicht auf die Titelseiten eines dieser bunten Blätter geschafft, aber unter Vermischtes oder der Party der Woche ist er immer anzutreffen. Manchmal ist er gleichzeitig auf mehreren Veranstaltungen, die angeblich am gleichen Tag, aber auf verschiedenen Kontinenten stattgefunden haben, zu sehen. Immer ein Glas und eine Zigarette in der Hand. Natürlich dürfen der weiße Anzug und der Panamahut nicht fehlen, sind sie doch letztendlich sein Markenzeichen. Beim Betrachten der Bilder meines Bruders, die ihn immer heiter zeigen, obwohl er als Kind ein ernster, fast bigotter Mensch gewesen ist, überkommt mich ein schrecklicher Verdacht. Er hat sich verkauft. Nicht an die Film- oder Fernsehindustrie, nein an Photoshop oder ein anderes Computerprogramm. Will man auf einem Bild etwas retuschieren oder Farbe ins Spiel bringen, drückt man einfach eine Tastenkombination und mein Bruder erscheint, samt Zigarette und Cocktailglas.
Durch meinen Zahnarzt bin ich im Bilde: Mein Bruder ist immer noch verheiratet, kocht im Promilokal gegen den Hunger der Welt, fährt die Streif ohne Stöcke herunter und spendet den Erlös der Gaudi für einen Verein für Hirngeschädigte. Letzte Weihnachten hat er in einem Bordell Baudelaire gelesen. Die Einnahmen sind an einen Verein zur Verhütung von Gebärmutterkrebs gegangen. Na wunderbar. Mein Bruder, der mit mindestens tausend Frauen ungeschützt Verkehr gehabt hat.
Fritzi hat ausgerechnet den Hungerkünstler ausgesucht, um mit mir einen Kaffee zu trinken.
Ausgerechnet zum Hungerkünstler, der einem umtriebigen Wiener gehört, muss mich Fritzi entführen.
Mein Gott, wie umtriebig alle sind. Mit nichts, außer ein paar Rezepten, ist der Kellner eines Hütteldorfer Beisls nach Berlin gekommen und hat seine Millionen gemacht. Der Wiener Dialekt und die österreichische Sprache sind es, die alle blind gemacht haben, erinnert doch die Sprache, die Melodie der Sprache, an den letzten Skiurlaub oder den ersten Sex in einer Scheune.
Im Hungerkünstler tragen sie alle Uniform und geben den Österreicher. Den unterwürfigen, demütigen Österreicher. Dabei ist es der Österreicher, der längst die Oberhand hat. Ein paar wenige von ihnen haben ausgereicht, die einst so mächtige Bayerische Landesbank nicht nur ins Schwanken zu bringen, sondern zu vernichten.
Zur gleichen Zeit, als ein bayerischer Finanzminister in einem Bierzelt seine Wahrheit ans Wahlvolk herausgeschrieen hat, dass die Sozis nicht mit Geld umgehen können, haben sich ganze Armadas an Luxusjachten an der Dalmatinischen Küste in Luft aufgelöst. Dafür hat jeder achtzehnjährige Kärntner von seiner Landesregierung einen Tausender zur Begrüßung bekommen, - bezahlt aus den Töpfen der Bayerischen Landesbank.
Hungerkünstler, der Österreicher kann wenigstens mit der deutschen Sprache umgehen. Spielerisch bedient er sich der Ironie. Während auf Berliner Kleinkunstbühnen der Prolet kabarettistische Erfolge feiert, ist es in Wien ein Kaiser mit Hofmarschall und Gefolge, der für Furore sorgt.
Lustlos rühre ich in einer Melange, die in Wirklichkeit ein Milchkaffee ist, herum und starre auf die farbigen Kellner in ihren K. und K. Phantasieuniformen. Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach, ob Österreich Kolonien gehabt hat.
»Weißt du, in München hätte ich einfach mehr Möglichkeiten«, sagt Fritzi und holt mich zurück in die Wirklichkeit. »Vielleicht kann ich ja bei deinem Bruder wohnen. Siebzehn Zimmer soll seine Stadtvilla haben.«
»Noch einmal zum Mitschreiben. Ich habe keinen Kontakt zu meinem Bruder, seit Jahren nicht, ach was sage ich, seit Jahrzehnten nicht!«
Ich schlage so laut mit der flachen Hand auf den Tisch, dass augenblicklich alle Gäste des Hungerkünstlers verstummen. Denn naturgemäß gibt es im Hungerkünstler keine Musik, wegen der Authentizität.
»Und der Brief? Der riesige Umschlag, der fast eine Woche in deinem Briefkasten gesteckt hat?« Fritzi macht nicht den Eindruck, aufgeben zu wollen.
Was bereue ich es, ihn doch aufgemacht zu haben.
Schon beim Öffnen des Umschlags habe ich den Piepton gehört. Dieses elektronisches Geräusch, der Auslöser einer Zeitbombe, die letztendlich immer getickt hat.
»Denk an den Artikel«, sage ich in Funktion des Mentors zu meiner Volontärin.
»Habe ich längst fertig. War doch klar, dass bei dem Richter die Sache so ausgeht. Wusstest du eigentlich, dass die Tochter des Staatsanwalts drogensüchtig ist und die Frau des Richters mit einer Frau ihr Glück versucht.«
Nein, das habe ich nicht gewusst. Aber es ist mir im Grunde auch egal. Wenn ich Tag für Tag in der Kathedrale der Gerechtigkeit die glatten Stufen emporsteigen muss, ist das Verzweiflung genug. So weit habe ich es also gebracht. Die Fünfzig gerade erreicht, sitze ich in den Reihen der Volontäre und Studenten, was den anderen Zeitungsredaktionen gar nicht recht ist. Raube ich doch allein durch meine physische Anwesenheit einer kostenlos arbeitenden Generation die letzte Illusion.
»Also, was ist jetzt mit deinem Bruder?«, bohrt Fritzi weiter. Sie wird es mal weit bringen.
Vielleicht sollte ich meinen Bruder doch anrufen. Aber dann müsste ich ihm ja auch gratulieren, weil er aus dem so genannten Drecksnest wie er unser Heimatdorf immer bezeichnet, eine international anerkannte Künstlerkolonie gemacht hat.
Mein Bruder, der in der Lage ist selbst aus Kuhscheiße, Gold zu machen.
Ja, als ich den orange leuchtenden Umschlag, den es so nur in Österreich zu kaufen gibt, geöffnet habe, ist ein Rauschen in meine Ohren gestiegen. Ein Rauschen und ein Toben haben in meinem Kopf geherrscht, dass mir regelrecht schwindelig geworden ist. Hochglanzprospekte, kleine wie große sind auf den Küchenboden gepurzelt und mit ihnen die Menschen, die das kleine Dorf in Kärnten einmal ausgemacht haben.
Jetzt im Nachhinein kommt es mir vor, als ob ich beim Öffnen des Umschlags ein leises Zischen vernommen habe, wie wenn man eine Kaffeetüte öffnet, die vakuum- verschlossen ist.
Beim Herausfallen der Hochglanzprospekte habe ich die Gesichter gesehen, habe Musik gehört, das Lied vom Schönen Wald, ein Lachen und ein Weinen. Und dann hat ein Rauschen und Toben von mir Besitz ergriffen.
Als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich auf dem Küchenboden gelegen und mir die Augen gerieben. Da wo einst der stattliche Stettner Hof gestanden, signalisiert eine kindlich gemalte Sonne auf einem ausgeblichenen Bretterzaun den Sonnenhof. Das große Wallener Anwesen schmückt ein Regenbogen. Beim Harather ist es ein Schmetterling und beim Lachner die Picasso Möwe. Das ganze Dorf im Besitz von Außerirdischen.
Auf allen Vieren bin ich zum Küchenfenster gekrabbelt. Luft, Luft, Luft.
Ein Presslufthammer, der vor dem Haus die Straße aufreißt, hat mich zurück in die Gegenwart geholt und mich in die Verfassung versetzt, den Begleitbrief zu lesen.
Im Briefkopf schon das Konterfei meines Bruders. Einem Foto, das bei einem seiner letzten Erfolge entstanden sein muss. Eine internationale Produktion, die auch schon wieder über fünfzehn Jahre her ist. Hat er danach überhaupt noch einen Film gedreht? Und was ist mit dieser russischen Balletttänzerin, die er mit Kokain versorgt haben soll?
Nein, ich mische mich nicht in ein in das Leben meines
Bruders. Es ist mir egal wie er lebt. Aber warum lässt er mich nicht in Ruhe?
Ich bestelle im Hungerkünstler einen Schnaps. Seit meiner Ankunft in Berlin, die ja auch schon wieder mehr als fünfzehn Jahre zurück liegt, habe ich keinen Schnaps getrunken. Im Grunde habe ich immer einen großen Bogen um harte Drogen gemacht. Während mein Bruder sein ganzes Erbe in harte Drogen wie Tequila und Kokain umgesetzt hat, bin ich brav ins Wirtshaus geschlichen und habe Bier getrunken und vielleicht mal etwas Gras geraucht.
Nein, mit der Phantasie habe ich keine Probleme, ganz im Gegenteil. Die sprudelt aus mir heraus, immer noch, trotz oder wegen meines hohen Alters.
»Den Drachen in mir, den gibt es immer noch, er schlängelt sich durch Klagenfurt und kommt nicht zur Ruhe«, so mein Bruder in einer der Hochglanzbroschüren.
Nichts erinnert mehr an mein Dorf. Nein, der Hochglanz strahlt Optimismus aus.
Hochglanz, die Patina der Banken und Versicherungen. Der Rahmen meines Bruders.
»Mein lieber Bruder«, so beginnt der zweite Brief , den ich erst einmal weggelegt habe.
Mein lieber Bruder, mein lieber Bruder, was soll das denn heißen?
»Nein, auf so etwas habe ich überhaupt keine Böcke.«
»Was ist?«, fragt Fritzi.
Verdammt, ich habe mal wieder laut gedacht.
»Warum ich? Warum Film? Warum mein Bruder? Warum München?«, ich bin laut geworden.
Das Besteck wird beiseite gelegt und das Mündchen abgeputzt. Die Gäste des Hungerkünstlers sind zu einem sensationslüsternen Publikum mutiert.
»Weil dein Bruder Bundesfilmpreisträger ist«, zischt Fritzi und fügt leise hinzu, dass seine Frau oder Freundin Filmproduzentin sei.
»Meinetwegen kann er mit der Bundeskanzlerin verheiratet sein. So eine Null nimmt doch niemand ernst!« Warum soll ich leise sein? In dieser Lokalität kennt mich ohnehin niemand.
»Dann gib mir wenigstens seine Handynummer«, Fritzis Augen verwandeln sich zu gefährlichen Schlitzen.
»Handy, dass ich nicht lache. Mein Bruder hat nicht einmal einen Computer. Für ihn ist das Teufelszeug. So zumindest Gala oder Bunte!«
Bis in die Küche wird man mich nicht nur gehört, sondern auch verstanden haben. Jetzt wird für die Galerie gespielt. Vielleicht bringt ja die schmatzende Masse ein Mädchen zur Vernunft, das am Anfang seines Lebens steht.
»Natürlich hat dein Bruder ein Handy. Jeder Mensch, ach was, jedes Lebewesen hat ein Handy.«
Niemand kann sich so schön auf die Lippen beißen wie Fritzi.
»Entschuldigen Sie bitte. Könnte ich vielleicht ein Autogramm von ihrem Bruder haben?«, eine ältere Dame, deren Hut mit einem ganzen Büschel an Fasanenfedern, sie als Nichtberlinerin ausweist, hat sich einfach an unseren Tisch gesetzt.
»Wie bitte?«, frage ich entgeistert zurück. Denn ich sehe meinem Bruder auch nicht im Entferntesten ähnlich. Alle in unserer Familie haben blaue Augen. Mit Ausnahme meines Bruders, der mit braunen Augen und wie ein Affe behaart auf
die Welt gekommen ist.
»Den hat uns einer ins Nest gelegt«, soll anfangs der Großvater beim Anblick des Säuglings gesagt haben. Auch soll er bereit gewesen sein, so mein betrunkener Vater, bei einem der unsäglichen Familienfeste, die immer in einem Besäufnis geendet sind, den Neugeborenen in einem Kartoffelsack in der Gurk zu entsorgen. So wie er es immer mit den neugeborenen Katzen getan hat. Erst als ich Jahre später auf die Welt gekommen bin, hat sich der Großvater meines Bruders angenommen. Mein Anblick soll ihn zuerst stumm und dann unheimlich wütend gemacht haben. Böse Zungen im Dorf haben eine zeitlang behauptet, dass er den Tierarzt angewiesen hat, das Sperma meines Vaters auf seine Tauglichkeit zu untersuchen.
»Sie haben doch bestimmt ein Autogramm Ihres Bruders dabei«, die ältere Dame in ihrem folkloristischen Jagdkostüm lässt nicht locker.
»Sie kennen weder mich und schon gar nicht meinen Bruder!«
Natürlich entgeht mir nicht, wie Fritzi versucht, ihre Freude zu unterdrücken.
Immerhin bin ich auf dem besten Weg sie von ihrer Schnapsidee zum Film zu wollen, abzubringen.
»Aber mein Herr«, sagt das in die Jahre gekommene Flintenweib, »natürlich kenne ich Sie. Sie sind Maler. Ihr Herr Bruder hat doch extra für Sie ein Lied geschrieben.«
»Mein Bruder schreibt keine Lieder. Er komponiert wenn überhaupt Cocktails. Die er dann allesamt nach seinen Abenteuern benennt«, erwidere ich und freue mich, dass Fritzi ganz fasziniert von meinem Tun ist.
»Gestatten Tarantula«, ein Herr mit Gamsbart an der Hutkrempe hat sich zu uns an den Tisch gesellt. »Unsinn«, berichtigt er sich selber, »Spinne, Dr. Spinne, Wirtschaftsprüfer, staatlich Vereidigter sowieso!«
Fast schon bereue ich es, meinen Mund so weit aufgerissen zu haben, nur um ein Mädchen wieder auf den rechten Weg zu bringen.
»Natürlich sind sie der Bruder, genau die gleiche Stimme«, die rüstige Dame scheint sich sicher.
»Aber ja, Sie müssen wissen, wir fahren mindestens zwei Mal im Jahr nach Kärnten. Meine Frau hat dort eine Jagd.«
Dr. Spinne zieht den Hut.
»Eigentlich waren wir ja schon im Gehen begriffen, aber dann meinte meine Frau, dass Sie sich sicherlich freuen würden, wenn wir Ihnen kurz Grüße für Ihren Bruder ausrichten.«
»Sie wollen also allen Ernstes behaupten, dass Sie meinen Bruder kennen?« Langsam entglitt mir die Sache.
»Aber natürlich«, erwidert die passionierte Jägerin, »wer kennt Ihren Bruder nicht? Über all die langen Jahre, man kann sagen, über unsere gesamten Ehe, die nicht immer glücklich gewesen ist, das können Sie mir glauben, begleitet uns Ihr Bruder. Man kann auch sagen, dass Ihr Herr Bruder ein Teil unserer Familie geworden ist.« Für einen Moment muss das rüstige Flintenweib Luft holen, dabei verschiebt sich ihr Gebiss ein wenig.
»Was meine Frau zum Ausdruck bringen möchte ist, dass wir Ihrem Herrn Bruder unerhört dankbar sind. Er hat uns über so manche dunkle Stunde hinweggeholfen. Fünfzig Ehejahre sind kein Zuckerschlecken«, ängstlich schaut der Gamsbartträger zur Seite.
»Ist das Ihre Freundin? Ganz wie der Bruder, der hat ja auch den Hang zu diesen jungen Dingern. Aber warum nicht? In Künstlerkreisen ist das erlaubt. Ein Künstler braucht ja eine Muse, einen Brunnen, aus dem er jeden Tag schöpfen kann«, der Ton der alten Dame bekommt etwas schnippisches.
Niemand kennt meinen Bruder fünfzig Jahre. Mit den Enttäuschten, den Sitzengelassenen, den Geprellten, den Leichen, könnte ich eine Partei gründen. Ich kenne niemanden, der so verschwenderisch mit seinem Genmaterial um sich schießt, wie mein Bruder. Eine Eigenart, die er von meinem Großvater geerbt hat, der auch kein Kind von Traurigkeit gewesen sein soll. Von Brest über Trondheim, Riga, Stalingrad, Kreta, Monte Cassino, Wien, Klagenfurt und sein Tal, überall hat er seine genetischen Spuren hinterlassen.
»Sie sagen ja gar nichts?«, die alte Jägerin ist nur die Speerspitze des Publikums, das sogar die Kellner im Hungerkünstler maßregelt, leise das Geschirr abzuräumen.
Nein, die Sache ist mir entglitten. Ich weiß es, Fritzi weiß es, und das nehme ich ihr übel. Siegessicher sitzt sie mir gegenüber. Für den Eingeweihten, den Kenner, strahlt ihr Gesicht reinstes Vergnügen aus, für die anderen, die Gäste im Hungerkünstler, gibt sie die gelangweilte junge Gör..., ach was Geliebte.
Natürlich schmeichelt mir das, eine Geliebte in dem Alter. Unsinn, es schmeichelt nicht, macht mich zum Narren. Künstler hin oder her, vor allem im Hungerkünstler. Nein, im Hungerkünstler möchte ich kein Künstler sein. Da habe ich ohnehin keine Chance. Vom Einkäufer, über den Kellner, den Koch, alle sind sie Künstler. Nur eines sind sie nicht: Hungerkünstler!
Erst jetzt, wo mich das ältere Ehepaar mit dem Hang zum Töten, angesprochen hat, wird mir wieder diese Art Fälschung bewusst. Genauso, wie drüben in der Kathedrale der Gerechtigkeit Recht gesprochen wird. Im Grunde alles nur Kulisse. Eine gigantische Freitreppe, die nur Selbstzweck ist, einschüchtern soll, weil die Gestalten in ihren glatten Talaren ohnehin die Angsthasen der Nation sind. Sind es nicht immer die Angsthasen, die die Welt regieren, mit ihrem pathologischen Größenwahn, der mit einem pathologischen Verfolgungswahn einhergeht und dadurch mehr als krankhafte Züge trägt.
»Wir müssen«, sage ich und winke den Kellner an unseren Tisch, der diese übertriebene Geste als Höchststrafe empfindet. Sieben Euro für einen Kaffee. Der Hungerkünstler macht seinem Namen alle Ehre.
»Aber was ist denn jetzt mit unserem Autogramm. Sie haben es versprochen.«
Fasanenhütchen und Gamsbart nicken synchron.
»Wir müssen«, wiederhole ich und stehe auf, »mein Bruder wartet.«
Jetzt, ohne sich umzudrehen, einfach gerade durch den Raum
»Dann grüßen Sie den Udo Jürgens ganz nett von uns«, ruft mir die passionierte Jägerin hinterher, was unter den Gästen ein erstauntes Raunen hervorruft.
Ich und der Bruder von Udo Jürgens? Ja, wie haben wir es denn? Auch wenn ich mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mich gebracht habe, so alt sehe ich wirklich nicht aus. Der Bruder von Udo Jürgens, was für eine Unverschämtheit. Wenn überhaupt der Sohn, wenn nicht gar der Enkel. Aber der Bruder. Dass sie meinen Bruder nicht gemeint hat, ist mir ja von Anfang an klar gewesen. Zu unterschiedlich ist unser Aussehen. Während mein Bruder eben der dunkle Typ ist und gerne im Fernsehen als Italiener oder Türke besetzt wird, so bin ich eher der helle Typ, der in der Fußgängerzone von Stockholm oder Tallin überhaupt nicht auffallen würde. Dennoch bin ich oft für meinen Bruder gehalten worden, besonders dort, wo wir seit Jahrzehnten nicht mehr gemeinsam aufgetreten sind. Gerade in unserem Heimatort gibt es viele, die glauben, dass meine Eltern nur einen Sohn gehabt haben. Auch ist es nicht selten vorgekommen, dass ich wegen meines Bruders zusammengeschlagen worden bin. Die Burschen aus dem Nachbardorf, wo mein Bruder wieder einmal ein Mädchenherz gebrochen hat, haben mich einfach verwechselt und mir ein gebrochenes Nasenbein hinterlassen. Während mein Bruder also heute für seine griechische Nase bewundert wird, werde ich höchstens gefragt, ob ich früher geboxt hätte.
Nein, ich habe nicht geboxt, ich bin bloß zusammengeschlagen worden.
»Nein, wir fahren nicht zu meinem Bruder nach München!«
Einer muss doch dieses Kind erziehen.
»Aber ich dachte...«, Fritzi ist den Tränen nahe.
Nein heißt nein, Fritzi fehlt die Konstante in ihrem Leben. Es wird Zeit, dass sie das endlich lernt.
2.
Seit mehr als einer Stunde befinden wir uns auf der Autobahn. Von wegen Berlin ist nur ein Dorf. Ich habe den Beifahrersitz nach hinten gedreht und liege mehr oder weniger im Auto. Ich starre aus dem Fenster und zähle die Lampen der Straßenbeleuchtung.
Warum lässt sich Hochglanzpapier so schlecht anzünden? Zum Glück führe ich einen soliden Haushalt. Und mit Reinigungsbenzin gehen nicht nur alle Flecken weg. Nein, Reinigungsbenzin richtig angewandt ist eine sehr patente Lösung.
Hat mein Bruder etwas anderes erwartet? Mir nach all den Jahren des eisernen Schweigens, des berechtigten Schweigens, zu schreiben, hätte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ich bin felsenfest davon ausgegangen, von meinem Bruder nichts mehr zu hören. Selbst auf der Testamentseröffnung ist er seinerzeit nicht persönlich erschienen, sondern hat einen Nobelanwalt aus der Sophienstraße in München vorgeschickt. Auch ans Telefon ist er damals nicht persönlich gegangen und hat sich von seiner Frau verleugnen lassen.
Und jetzt das! Hochglanzprospekte, die einfach nicht brennen wollen!
Was für eine Frechheit, mich für sein Projekt gewinnen zu wollen. Er, der immer von einem Drecksnest gesprochen hat, wenn von Weißberg die Rede gewesen ist, will mit einem Mal ein Künstlerdorf aufbauen? Wo ist denn da der Haken? Was will uns mein Bruder denn da verkaufen? Was hat er da unten überhaupt zu schaffen? Alle direkten Verwandten sind tot.
Sicher es gibt noch Tanten und zahlreiche Cousinen, die mein Bruder entjungfert hat. Aber es ist ja kaum anzunehmen, dass gerade meine Cousinen, die alle eher von kräftiger Statur sind, sein Heimweh beflügelt haben. Also stellt sich die Frage, was macht er da, was hat er da zu suchen? Zudem er immer behauptet hat, den Anteil seines Erbes für einen Film veräußert zu haben.
Mir kann es egal sein. Ich habe Reinigungsbenzin, überall finde ich die kleinen Fläschchen und komme so auf fast einen Liter.
Naturgemäß ist mein Bruder auf der Rückseite der Hochglanzprospekte immer im Profil abgebildet, damit auch ein jeder seine wohlgeformte klassizistische griechische Nase bewundern kann.
Nein, ich will das alles gar nicht wissen. Zudem ein Anruf bei der Tante, ausreichen würde, um die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken. Die Schwester meiner Mutter ist doch diejenige, die alles regelt, das Elternhaus in Ordnung hält und den großväterlichen Besitz, soweit noch vorhanden, verwaltet.
Mir kann es egal sein. Ich habe vor fast zehn Jahren die Finger gehoben. Ein nüchterner Verwaltungsakt, vorgenommen an einem uralten Computer des Gerichtsvollziehers, dessen Einrichtung nicht gerade nach Wohlstand ausgesehen hat. Ja, ich bin vogelfrei, etwas, was meine Hamburger Frau ja immer schon vorausgesehen hat.
»Ich will kein Kind, sondern einen Mann, einen richtigen Mann«, hat seinerzeit meine Frau geflucht und sich nicht mehr bei mir gemeldet. Zwei Wochen später habe ich erfahren, dass sie an Masern erkrankt ist. Nein, da gibt es keine Zusammenhänge. Irgendeiner ihrer so genannten guten Bekannten wird ihr den Virus ins Haus geschickt haben.
Europäisches Künstlerdorf, kleiner hat es mein Bruder nicht. Vielleicht will er das alte Holzscheißhaus meines Großvaters als Weltkulturerbe verkaufen. Zuzutrauen wäre es ihm. Jahrzehntelang hat mein Bruder immer von einem Drecksnest gesprochen, wenn er Weißberg gemeint hat und jetzt will er mit meiner Hilfe ein Europäisches Künstlerdorf aus dem Nichts entstehen lassen. Ein Konzept soll ich schreiben, ein Drehbuch für einen Werbefilm über meine Heimat. Ja, Deine Heimat hat mein Bruder geschrieben und nicht von unserer Heimat gesprochen. Für ihn ist das alles nur ein Projekt, ein Job, den er macht, um seinen extravaganten Lebensstil zu finanzieren. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je etwas ohne Hintergedanken gemacht hat. Durch und durch eine auf das Geld fixierte Person, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Sollte ich vielleicht den Bürgermeister von Weißberg anrufen und ihn über die Charaktereigenschaften meines Bruders informieren? Unsinn, der Ignaz, den alle nur Nazi gerufen haben, ist ja erst mit meinem Bruder in einer Klasse und später bei mir in der Klasse gewesen. Wenn er nur einen Funken, wohlgemerkt nur einen Funken Verstand besitzt, wird er sich auf den Pakt mit dem Teufel nicht einlassen. Sicher, der Nazi ist in der Schule nicht der Beste gewesen und hat, so weit ich weiß, mit der Grundschule auch seine schulische Laufbahn beendet. Aber was heißt das schon? Nein, der Nazi ist schon in Ordnung gewesen. Leid hat er mir getan, weil er auf dem väterlichen Hof wie ein Leibeigener behandelt worden ist. Schon als Zehnjähriger hat er Hände wie ein Erwachsener
gehabt, rau und voller Schwielen. Manchmal hat er ganze Nächte Holzhacken müssen, nur weil der despotische Vater, es so befohlen hat. Während der Erntezeit ist der Nazi überhaupt nicht in der Schule gewesen. Da hat er bis zum Umfallen schuften müssen. Zudem verfügt der Kirschnerhof über solche Steilhänge, das selbst die Haflinger nicht in der Lage gewesen sind, den Pflug oder das Schneidemesser zu ziehen. Der Kirschner, der immer nur vom Rotzbua gesprochen hat, wenn er seinen Sohn den Nazi gemeint hat, ist ihm mit der Peitsche oder dem Ochsenziemer entgegengetreten und hat ihn vor die Wahl gestellt. Fast immer hat er sich seinem Schicksal ergeben und sich vor den Pflug oder die Schneidemaschine einspannen lassen. Der Nazi ist das einzige Kind in der Schule gewesen, das im Sportunterricht mit langen Ärmeln hat antreten dürfen, damit wir anderen Kinder die Striemen und blaue Flecken nicht sehen sollen. Dabei ist es im ganzen Ort, im ganzen Tal bekannt gewesen, das der Kirschnerbauer, Frau und Kinder schlägt, nein, regelrecht verprügelt.
Den Kirschner hat man dann in seinem Scheißhaus tot aufgefunden und nicht so recht gewusst, ob er erstickt oder am Herzstillstand gestorben ist. Normalerweise wäre die Geschichte mit dem Tod des Kirschners auf dem Scheißhaus auch gar nicht so publik geworden. In Weißberg und Umgebung sind die Menschen recht häufig auf dem Scheißhaus gefunden worden. Im Winter sind sie erfroren aufgefunden, im Sommer voller Fliegen angetroffen worden. Nur der Kirschner hat falsch herum im Scheißhaus gesteckt, worauf nicht nur der Gendarmerieposten in der Stadt geholt, sondern auch die beiden benachbarten Freiwilligen Feuerwehren. Der Kirschner hat sich so im Loch des Scheißhauses verkeilt, dass er nur mit schwerem Gerät unter zur Hilfenahme des Bundesheers in die Gerichtsmedizin abtransportiert hat werden können. Der Tieflader einer Pioniereinheit hat ihn mitsamt dem Scheißhaus in die Landeshauptstadt fahren müssen. Böse Zungen behaupten, dass am Rande der Straße die Menschen applaudiert haben sollen.
Später hat in der Zeitung gestanden, dass dem Kirschner beim Brunzen das Gebiss heraus gefallen sei und auf der Suche nach selben, er in der Öffnung des Abortes hängen geblieben sei. Durch die Gase der Sickergrube sei er gleich in Ohnmacht gefallen und hat somit überhaupt nicht leiden müssen. Dass sein Rücken zahlreiche Verletzungen und Striemen aufgewiesen hat, ist damit erklärt worden, dass der Kirschner regelmäßiger Gast bei einer Frau gewesen sein soll, die auf einer abgelegenen Alm ihre Dienste angeboten hat. Die Lederleni, so ihr Künstlername, soll für viel Geld so manchen Würdenträger und so manche Berühmtheit, grün und blau geschlagen haben. Leider, so die Zeitungen, hätte man die Lederleni nicht mehr einvernehmen können, da sie ganz überraschend hier ihre Zelte abgebrochen und zurück nach Jugoslawien gereist sei, um ihre kranken Eltern zu pflegen.
Frage: Warum gibt es in Österreich so wenig frischen Fisch?
Antwort: Weil er sich weigert in eine österreichische Zeitung eingepackt zu werden.
Warum brennt diese Hochglanzscheiße auf meinem Küchentisch nicht?
Es saugt und saugt gierig das Reinigungsbenzin auf, aber das ist schon alles. Ein paar kleine blaue lächerliche
Flämmchen, damit kann ich das Dauergrinsen meines Bruders nicht beenden. Gut, seine klassische griechische Nase verläuft ein wenig, entwickelt sich erst zu einer klassischen Pinocchionase bevor sie zum Elefantenrüssel mutiert. Kläglich das Ganze.
Im Bad müsste ich noch Haarlack haben. Brennt Haarlack nicht immer? Ich suche in meiner Wohnung alles ab, auf dem ein Feuer mit einem X abgebildet ist und gieße die Flüssigkeiten und den frisch geriebenen Grillanzünder über die mit Benzin getränkten Hochglanzprospekte. Warum sind jetzt die Streichhölzer nass, brechen ab, bei jedem Reiben?
Irgendwo muss ich noch ein Feuerzeug haben.
Nein, dem Nazi gönne ich den Aufstieg. Bürgermeister, das ist doch was. Auch wenn ich weiß, dass sich sonst niemand für diesen aufreibenden Job gemeldet hat. Das Internet ist eine große Petze, wie früher die Jellinek aus dem 2. Bezirk, die es einfach nicht ertragen hat, dass ich mit meiner großen Liebe aus den Fängen des Großvaters nach Wien geflohen bin.
Warum brennt es nicht? Warum will diese Hochglanzscheiße einfach nicht brennen?
Fast zehn Jahre habe ich in friedlicher Eintracht gewohnt, seinerzeit in Bonn mit den letzten Spitzenkräften nach Berlin geschwemmt worden. Den wirklichen Grund habe ich vergessen.
Gehirnwäsche, das Markenzeichen der Berliner Republik.
In Kreuzberg gelandet, wo sich erwachsene Menschen die Augen gerieben haben, weil plötzlich und unerwartet die eigene Mutter mit Hundertzwei Jahren gestorben ist.
Ja, das sind Schicksale.
Die Berliner Presse, hat mich sofort mit Kusshand empfangen. Die Berliner Presse!
Eine Anhäufung an Dilettanten und Speichelleckern, die froh gewesen sind, zumindest einen Menschen mit einer gewissen Allgemeinbildung gefunden zu haben, den sie mit Zeilengeld abfertigen können.
Seit zwei Jahrzehnten prangert in Kreuzberg ein großes Graffiti mit der Aufschrift: Bonner go home.
Wenn ich mich dunkel erinnere, habe ich seinerzeit die Miete nicht mehr zahlen können. Unsinn, ich habe dort ja nie Miete zahlen müssen, weil ich dort den Hausverwalter, den Hausmeister und den Spitzel gegeben habe. Bis zu dem Tag, als mein so genannter bester Freund das Haus verkauft hat, weil er es durch mich, zwar von mir nicht gewollt, fast mieterfrei für einen Höchstpreis hat verkaufen können. Eine ukrainische Prostituierte, die sich als tschechisches Jahrhundertgenie in der bildenden Kunst ausgegeben hat und angeblich über eine stattliche Sammlung an deutschen und russischen Expressionisten verfügt haben soll, hat ihm das ganze Geld nach und nach abgeknöpft. Selbst sein Pferd hat mein so genannter bester Freund verkaufen müssen.
Im Grunde verdanke ich ihm meinen Umzug nach Berlin.
Zum Glück ist es Sommer gewesen, als ich seinerzeit in Bonn obdachlos geworden bin. Der Moment der vollkommenen Schutzlosigkeit ist wohl das allerschlimmste gewesen. Plötzlich hat ein Tag wirklich vierundzwanzig Stunden. Vierundzwanzig Stunden, an denen man aufpassen muss. Ich erinnere, mich als wäre es gestern. Mit einem Mal habe ich das Gefühl gehabt, besser zu hören und zu sehen. Auch die Fähigkeit Dinge vorauszusehen, sind plötzlich Bestandteil meines Lebens gewesen. Naturgemäß habe ich jeden Kontakt zu den anderen auf der Straße lebenden Menschen und Kreaturen gemieden. Bin in Museen gegangen, die keinen Eintritt verlangt haben. Habe mich in Buchhandlungen und öffentlichen Bibliotheken herumgedrückt und bin seltsamerweise immer wieder auf dieselben Menschen gestoßen, die so wie ich reflexartig verschämt zu Boden geschaut haben.
Dann ist es kälter geworden, nicht langsam, dass sich ein Körper daran hätte gewöhnen können. Nein, von einem Tag auf den anderen sind die Temperaturen um mindestens fünfzehn Grad gesunken. Im Kaufhof, in der Elektroabteilung, haben mir neunundvierzig geklonte Nachrichtensprecher mitgeteilt, dass so etwas, seit der Aufzeichnung des Wetters noch nie vorgekommen sei. Ich gehe auf der gleichen Etage auf Toilette und wasche mich mit lauwarmem Wasser.
Für einen Außenstehenden bedeutet so etwas das Ende. Schnell wird da von der Kugel gesprochen, die man sich gibt; den Tabletten, damit es schnell geht; dem Strick, um es allen ein letztes Mal zu zeigen; der Vor den Zugspringer sagt nichts, der steigt die Böschung hoch, ekelt sich über den Fäkaliengeruch, der vom Bahndamm ausgeht und findet es nach ein paar tiefen Lungenzügen verdammt ehrlich, weil nicht nur das Leben, sondern auch die Welt scheiße ist. Dem Zug entgegengehen, dabei Kopfhörer auf, the doors oder Kurt Cobain, ein kleiner Stolperer und schon liegt man auf der Fresse. Die Nase blutet, aber das bekommt man nicht mehr mit. Nur das Blut, das über die Nebenhöhlen in den Rachenraum rinnt, schmeckt eisern. Ja, beschissen ist das Leben und eisern das Ungetüm, das sich nähert. Die Gleise vibrieren, das ist der Beat, the doors, Kurt Cobain. Leonard Cohen ist nur etwas für die Badewanne. Wenn man die Lichter näher kommen sieht, ist es wie mit der Schlange und dem Hasen. Nein, dann gibt es kein Zurück mehr. Es sei denn, man scheidet mit einer oder durch eine Rechts Links Schwäche aus dem Leben. Da geht man und geht man die Gleise entlang und hört zum wiederholten mal the doors, oder Kurt Cobain, denkt, verdammt, das muss ein Zeichen sein: kein Zug weit und breit, nirgendwo diese kleinen Lichter, die immer größer und größer werden. Das ist doch ein Wink des Schicksals. Verdammt, die Welt hört auf mich, hat mich kleine Wurst erhört, mich gesehen. Ach was die Welt, das Universum ist auf mein Schicksal aufmerksam geworden. Und plötzlich glaubt man, selbst zu strahlen und tatsächlich, die Gleise, die Dornenbüsche am Rand des Bahndamms erhellen sich. Aus Nacht wird Tag, das Universum hat mir Macht gegeben. Natürlich braucht man in dem Moment keine the doors, oder Kurt Cobain mehr, sondern reißt die Stöpsel aus den Ohren, um ein geistiges Meer vor Augen zu teilen. Aber da ist es der Schnellzug aus München, der mit fast zweistündiger Verspätung, nicht nur die Träume platzen lässt.
Wir fahren durch die Nacht und haben Berlin immer noch nicht verlassen. Vielleicht findet Fritzi nicht heraus. Immerhin ist sie hier geboren. Ich bin es nicht, der ihr die Nabelschnur kappt, so dick und lang wie ein Bungeeseil. Wenn wir die Stadtautobahn verlassen, wird das Seil zurückschnellen.
Scheiße kalt ist es von einem Tag auf den anderen geworden. Körper und Geist haben von einem Moment auf den anderen reagiert. Was nichts anderes geheißen hat, dass ich mir wirklich eine Bleibe zu suchen habe. Auch das, was schon in der ersten Nacht passiert ist, kann ich mir nur mit dem funktionierenden Leitsystem meines Urinstinkts erklären.
Ich weiß zum Beispiel überhaupt nicht, warum ich weit nach Mitternacht auf einem Parkplatz gelandet bin. Auch alles weitere Tun hat mir relativ wenig zu schaffen gemacht. Wie von fremder Hand bin ich ziellos über den großen Parkplatz gelaufen, habe nicht gewusst wieso und warum. Ein paar leere Flaschen habe ich eingesammelt, das sicher. Aber dann? Wie bin ich auf das Auto gestoßen, wo ich noch nicht einmal einen Führerschein besitze? Ja, das rote Auto hat da gestanden, ist offen gewesen, nachdem ich mindestens vierzig andere Autotüren vergebens versucht habe, auf zu machen. Das rote Auto ist mir den Winter über Heimstatt und ein Zuhause gewesen.
Am 23. April ist der rote Wagen weg gewesen, abgeholt mit all meinen Sachen, in der Hauptsache dreckige Wäsche. Dennoch, dieser rote Wagen hat mir das Leben gerettet.
Immer noch befinden wir uns auf der Stadtautobahn und drehen unsere Runde. So groß kann Berlin überhaupt nicht sein. Vielleicht dreht Fritzi ja eine Ehrenrunde, mit der Absicht...
Unsinn, sie will ja weg.
»Weißt du eigentlich, dass du immer noch nach Rauch stinkst«, das ist das erste Mal, dass Fritzi seit unserer Abreise mit mir spricht. Dankbarkeit lässt sich daraus nicht heraushören. Selbst beim besten Willen nicht.
»Ich habe momentan nichts anderes zum Anziehen«, sage ich und starre weiter durch die Windschutzscheibe, in der ich meinen Kopf wie einen Geist hüpfen sehe.
Ja, das rote Auto, denke ich. Daran habe ich auch gedacht, als die Hochglanzbroschüren von meinem Bruder auf dem Küchentisch nicht gebrannt haben.
»Das ganze verdammte Drecksnest einfach anzünden«, davon hat mein Bruder oft gesprochen und es bei dem Bushäuschen außerhalb des Ortes belassen. Es hat direkt neben dem Spritzenhaus aus Holz gestanden, das direkt an den Fischteich angegrenzt ist, in dem die Forellen von einem Teichbecken in ein anderes gesprungen und auf dessen Oberfläche immer leere Flaschen geschwommen sind. Der Fischteichbesitzer ist in dritter Generation Alkoholiker gewesen. Wie die Demonstranten in vielen europäischen Hauptstädten hat mein Bruder, der auch einen Armeeparker getragen hat, die Weinflasche, die randvoll mit Benzin gewesen ist, am Lappen angezündet, der aus der Öffnung herausgelugt hat. Lichterloh ist das Bushäuschen in Flammen aufgegangen und mit ihm ein Plakat der Drei Amados, die alle drei ziemlich Scheiße ausgesehen haben.
»Rotfront« , hat mein Bruder noch gesagt und die geballte Faust in den blutorange roten Himmel gestreckt.
Als mein Bruder sein nagelneues Rennrad und ich das alte Klapprad der Mutter bestiegen haben, sind die ersten Funken übergesprungen.
»Es brennt, es brennt«, habe ich meinen Bruder angeschrieen, »das ganze Dorf wird abbrennen!«
»Ach was«, hat er mich angeraunzt und hinzugefügt, »und wenn. Um das Drecksnest ist es nicht schade. Schlimmer kommt’s nimmer.«
Während mein Bruder geradelt ist, habe ich gestrampelt, um mein Leben bin ich in die Pedalen getreten. Die ganze Nacht sind wir gefahren, bis wir an der Kreuzung, an der zwei Bundesstraßen aufeinander treffen, gehalten haben.
»Hörst du die Sirene?«, hat mein Bruder mich gefragt. »Also!«
Ja, das rote Auto hat mich über den Winter gebracht. Seine Ansprüche sind relativ gering gewesen. Jeden Tag ein paar Liter, um die Batterie aufzuladen und um ein paar Runden um den Block zu fahren, damit der Frost aus den Sitzen verschwinden kann.
In meiner Küche in Berlin riecht es nach Benzin. Der Holzboden weist schon Flecken auf. Hoffentlich bekomme ich sie wieder heraus, denn mein Vermieter ist ein penibler Einheitsgewinnler aus dem Westen, genauer gesagt aus Bonn. Ein hochrangiger Beamter, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und rechtzeitig, eine Immobilie nach der anderen aufgekauft hat.
»Ich mag Sie«, hat er mir erst vor einer Woche auf der Treppe gesagt, »deswegen zahlen Sie ja auch nur die Hälfte von den anderen Spinnern im Haus. Falls Sie mal einen dieser Autoanzünder dingfest oder zumindest identifizieren können, lassen Sie es mich wissen. Ein Auto oder eine Jahresmiete ist mit Sicherheit drin.«
Zum Glück gibt es in meinem Kiez jetzt Häuser, in denen man die eigenen Autos mit ins Bett nehmen kann.
Während oben auf meinem Küchentisch die Hochglanzprospekte meines Bruders liegen, knie ich längst unter dem Tisch und versuche dem tropfenden Benzin Herr zu werden. Da ein Fleck, da ein Spritzer, das Fischgrätenparkett weist Spuren auf, die mir der Ministerialdirigent niemals verzeihen wird.
»Sie kommen aus Bonn, Sie haben die Wohnung«, hat er seinerzeit freudestrahlend gesagt, nachdem er mindestens zehn Minuten meinen Personalausweis beäugt, gegen das Licht gehalten und geistig darauf herumgekaut hat.
Und jetzt das. Wie ein Verrückter habe ich auf diese Wohnung aufgepasst. Anfangs kein Loch gebohrt, noch nicht einmal einen Nagel in die Wand geschlagen. Die Schuhe ausgezogen, versucht nicht zu kochen, kein heißes Wasser zu benutzt. Alles Maßnahmen, die nicht einzuhalten gewesen sind. Denn im Kiez gibt es Regeln. Natürlich kann man sich aus allem heraushalten. Die Frage ist nur, ob die anderen das auch tun. Nein, in der Regel tun sie es nicht.
Es klingelt.
»Party!«
Dann stürmen sie auch schon den Eingang. Befehle werden gerufen:
»Wo ist die Küche?«
»Geht der Kühlschrank?«
»Wo ist das Bier?«
»Verdammt, hinter der Doppeltür war kein Balkon!«
»Das Klo ist verstopft.«
»Das war ein Bidet.«
Nein, all das habe ich überstanden. Meine Wohnung hat immer noch den jungfräulichen Charme eines Erstbezugs. Wäre da nicht der triefende Küchentisch, auf dem die Hochglanzprospekte meines Bruders liegen.
Ich liege gern unter dem Tisch und versuche dem Benzin und den Flecken Herr zu werden.
Ich liebe diese Wohnung. Sie ist mir Heimstatt, Trotzburg, Bibliothek, Archiv, einfach alles. Diese Wohnung repräsentiert mein künstlerisches Leben. Ich habe es geschafft, dass meine Bücher, meine Filme, meine Manuskripte, meine Drehbücher, Romane, Gedichte, Theaterstücke, meine Sammlung Avantgarde - Musik der 20er Jahre, Tonträger wie Videos, Briefe, Postkarten, einfach alles, einen Platz gefunden haben.
Mein Vermieter ist der erste und im Grunde der einzige gewesen, der diese Ansammlung an wirklichen Werten respektvoll kommentiert hat.
»Allein die Bilder sind ein Vermögen wert«, hat der Ministerialdirigent zu mir gesagt. Mag sein, mag sein. Ich glaube, dass die umfangreiche Briefmarkensammlung meines Vaters ein Vermögen wert ist.
»Verkauf die Briefmarkensammlung und du bist Millionär«, hat mein Bruder zu mir gesagt.
»Die Briefmarkensammlung ist deine Rettung.«
Und die Münzen habe ich mich gefragt, die ganzen Bücher, die es nicht mehr zu kaufen gibt. »Unsinn, Sie besitzen einen Schatz!«
Natürlich kann mein Vermieter lustig sein.
Ich lege den Küchenfußboden mit Zeitungen aus. Denn zu allem Pech tropft auch noch einer der beiden vollen Benzinkanister, die ich an der Nachttanke in unserem Kiez gekauft habe. Berlin, die Weltstadt mit Herz schläft nie.
Sie ist immer in Bewegung. Nur der Kassierer in der Nachttanke hat sich am Hinterkopf gekratzt, als ich ihm die Nummer der Zapfsäule gesagt habe. Weiß er doch um die Todesursache in meiner Familie. Mit Ausnahme der Großmutter, die friedlich in ihrem eigenen Bett eingeschlafen ist, sind sie alle durch das Auto ums Leben gekommen. Ist es da nicht zu verstehen, dass ich kein Auto, geschweige denn einen Führerschein habe.
Gegen das Benzin von der Nachttanke hat selbst das ewig grinsende Gesicht meines Bruders keine Chance. Es verläuft gnadenlos und erinnert mich an der Tischkante an Salvador Dali. Auch das neu erschaffene Künstlerdorf, das mit EU Geldern geförderte Drecksnest meines Bruders, verteilt sich auf der Tischoberfläche. So wie seinerzeit mein Bruder, die brennende Flasche auf das Bushäuschen neben dem Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr geworfen hat, so schnippe ich im hohen Bogen ein brennendes Streichholz Richtung Küchentisch. In einem mittelmäßigen Kinostreifen wäre das brennende Streichholz in Zeitlupe Richtung Küchentisch geflogen. Es hätte sich in der Luft mehrmals gedreht, ohne dass dabei die Flamme ausgegangen wäre. Film ist nicht Wirklichkeit. In der Wirklichkeit herrschen physikalische Gesetze.
Alles passiert fast gleichzeitig. Während ich ungläubig auf eine riesige Feuerwalze blicke, die auf mich zukommt, schmeißt mich schon eine Welle gekonnt aus der Küche. Fenster zerbersten, Gläser klirren, und ich liege unter Holz. Ist das schon das Ende? Irgendetwas drückt auf meine Rippen. Ist es das Kruzifix, dass der Bestatter innen angebracht hat, damit anstatt der Würmer, wenigstens der Tote, den INRI betrachten kann.
Sirenen, von überall höre ich Sirenen, ich kann also nicht tot sein, obwohl mein Mund voller Staub und Lehm ist.
Mein Bruder und ich sind stundenlang durch die Dunkelheit geradelt, Hauptsache weit weg vom Tatort.
»Das ganze Drecksnest kann abbrennen, die Idioten merken eh nichts«, hat mein Bruder gesagt und sich wie John Wayne eine Zigarette angezündet. Ein eh nichts, ist seinerzeit einer der Lieblingsfloskeln meines Bruders gewesen. Dann haben wir die Sirene gehört und am stockfinsteren Himmel hat sich ein blauer Kreisel gezeigt. Mein Bruder ist der erste gewesen, der Rennrad hat Rennrad sein lassen und ist mit einem gewagten Kopfsprung in den Graben gesprungen. Ich hingegen, auf dem Klapprad der Mutter sitzend, habe langsam abgebremst und habe gesehen, wie ein weißer Mercedes und der VW Bus der Rettung an uns vorbeigefahren sind.
Später hat sich herausgestellt, dass die Lattringerin einen Herzinfarkt erlitten hat. Die Lattringerin, die mit fast achtzig Jahren als Hebamme immer noch Kinder auf die Welt gebracht hat.
Fred Astaire, Robert Wagner, Steve McQueen, Paul Newman in Flammendes Inferno, einer meiner ersten Kinofilme. Aber warum muss ich jetzt dafür büßen? Es kann sein, das wir uns den Film verbotenerweise zweimal oder dreimal hintereinander angesehen haben. Aber dafür jetzt die späte Rache?
Alle im Haus werden herunter getragen. Ein Event der städtischen Feuerwehr. Alle Autos haben sie aufgeboten, nur um mir zu zeigen, dass meine Phantasie nicht ausreicht. Ich werde zusammen mit meinem Hausbesitzer herunter getragen. Unten im Flur leisten sich die Hilfskräfte ein Wettrennen.
»Es tut mir leid«, sagt mein Vermieter, bevor sie ihn in den Wagen schieben.
Ich verstehe gar nichts, schaue nach oben. Da, wo einst meine Wohnung gewesen ist, lodern die Flammen. Nur der Himmel sieht schön aus. Blassrosa, dann werde ich in den Krankenwagen geschoben.
»Mein Bruder ist ein feiges Arschloch«, sage ich, während Fritzi, den Berliner Ring verlässt.
»Mein Gott stinkst du nach Rauch«, erwidert sie und lässt mit einem Knopfdruck die Seitenscheibe in der Tür verschwinden.
Na klar stinke ich nach Rauch. Drei Gründerzeithäuser in meinem Kiez sind abgebrannt. In den Nachrichten hat nur der Dachstuhl gebrannt. Aber, wenn man davor steht, würde man sagen, alles ist verloren. Natürlich stehen die Mauern noch, sie bröckeln. Im Grunde ist alles verloren.
Es regnet Papier- und Kunststoffflocken. Ein Stadtteil scheint verloren.
Erst als ich meinem Bruder aus dem Graben heraus geholfen habe, erst da, ist meinem Bruder bewusst geworden, was ich eigentlich mache.
»Trottel«, hat er zu mir gesagt.
Dabei sind ja am Anfang nur ein weißer Mercedes mit deutschem Kennzeichen und der VW-Bus des Roten Kreuz an uns vorbeigefahren. Dass die Lattringer im Sterben gelegen ist, hat ja niemand wissen können.
Natürlich sind wir zurück geradelt. Der Täter kehrt immer an den Tatort zurück. Eine Ewigkeit hat das gedauert, weil wir
jedes Mal, wenn ein Lichtkegel in der Dunkelheit aufgetaucht ist, vom Fahrrad aus in den Graben gesprungen sind.
Von überall her sind die Löschzüge der Freiwilligen Feuerwehren gekommen.
Da mein Bruder und ich von der Schattseite aus nach Weißberg gekommen sind, hat es so ausgesehen, als hätte die alte Wehrkirche gebrannt.
»Die Kirche brennt«, habe ich zu meinem Bruder gesagt und hinzugefügt, dass das der Untergang unser beider Existenz bedeuten würde.
»Du glaubst ja auch noch an den Weihnachtsmann«, hat er lachend gesagt und mich einen Idioten geschimpft, weil ich auch zu denen gehöre, die glauben, dass der Mann der Haushälterin unseres Herrn Pfarrers draußen im Salzburg‘schen den Bau der Tauernautobahn vorantreibt.
»Es gibt doch überhaupt keinen Mann, du Idiot«, hat mein Bruder gesagt und sich eine Zigarette angezündet, »der liebe Herr Pfarrer ist der Mann, der der Haushälterin alle zwei Jahre ein Kind macht!«
Mit zitternden Händen habe ich mir auch eine Zigarette angezündet, um anschließend erleichtert festzustellen, dass das Gotteshaus aus dem 13. Jahrhundert vom Funkenflug verschont geblieben ist. Bis zum Kaufhaus haben wir uns heranschleichen können. Ab da ist die ganze Straße von Feuerwehrautos blockiert gewesen. So ist meinem Bruder und mir nichts anderes übrig geblieben, als über die Friedhofsmauer zu klettern, um dort von einem der Schießscharte aus, das Geschehen auf der anderen Seite zu beobachten. Vom hölzernen Bushäuschen ist nicht mehr als ein Haufen dampfender nasser Holzkohle übrig gewesen. Nur das
anliegende Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr hat immer noch lichterloh gebrannt.
Nichts, aber auch gar nichts, hat man retten können, so oder ähnlich hat es zwei Tage später in der Zeitung gestanden. Dabei ist es egal gewesen, ob man die Kleine Zeitung oder den Kurier aufgeschlagen hat. Ein Verlust unendlichen Ausmaßes, hat der Feuerwehrhauptmann gesagt und aufgeführt, dass neben der Fahne aus dem neunzehnten Jahrhundert, auch das gesamte Archiv, das bis in das 13. Jahrhundert zurückgegangen ist, vernichtet worden ist. Was die Türken seinerzeit nicht geschafft haben, ist durch einen feigen Anschlag über Nacht zerstört worden.
Alles ist weg, alles verloren. Niemand wird darüber berichten. Dass drei Häuser aus der Gründerzeit abgebrannt sind, hat naturgemäß in allen Zeitungen gestanden, weil es letztendlich nur eine dpa Meldung gewesen ist. Lückenfüller, die nicht viel kosten. Aber, dass ich alles, wirklich alles verloren habe, darüber ist nichts, aber auch gar nichts in der Zeitung gestanden. Dass die deutsche Literatur, das deutsche Theater und nicht zu vergessen der deutsche Film über Nacht einen schweren Verlust erlitten haben, davon hat nichts, aber auch gar nichts in der Zeitung gestanden. Wen interessiert es schon, dass ich nun vor dem künstlerischen Nichts stehe? Alles ist verbrannt. Jedes noch so kleine Gedicht, jeder Brief, jedes Manuskript, alles ist weg.
»Sie haben doch bestimmt Sicherungskopien ausgelagert!«
Nein, habe ich nicht. Ich habe auch keine Kopie von meinem Ausweis angefertigt. Wieso auch? Jetzt werde ich schon misstrauisch beäugt, wenn ich nur meinen Namen sage.
Das kann ja jeder behaupten, steht auf ihrer Stirn geschrieben. Alles habe ich verloren, nur weil ich das ständige Grinsen meines Bruders nicht habe ertragen können, der aus meinem Heimatdorf, das er immer als Drecksnest bezeichnet hat, eine europäische Künstlerbegegnungsstätte hat machen wollen. Ja, und er hat ja noch die Frechheit besessen, mich um Hilfe zu bitten. Einen Film soll ich drehen. Ein Drehbuch soll ich schreiben über das Dorf mit der blinkenden Straßenlaterne.
Selbst die Klamotten, die ich trage, hat mir Fritzis Mutter gegeben. Irgendeiner ihrer vielen Liebhaber hat zum Glück meine Größe gehabt.
Jetzt, kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag stehe ich nicht einmal mehr vor einem Scherbenhaufen. Von meinem künstlerischen Leben ist nur Asche geblieben, die entweder in die Berliner Kanalisation geschwemmt oder in allen Himmelsrichtungen verstreut ist.
Die Fotoalben von drei Generationen, über hundert Stück an der Zahl, sind Opfer der Flammen geworden.
»Beherbergst du das österreichische Staatsarchiv?«
Wie oft habe ich mir diese blöde Frage anhören müssen. Jetzt ist alles weg.
»Wo ein Ende ist, da ist auch ein Anfang!«
Welcher Trottel hat das nicht immer gesagt?
Warum fällt mir bei soviel Elend, jetzt, wo ich mit Fritzi auf der Stadtautobahn mindestens dreimal Berlin umrundet habe, meine Exfrau in Hamburg ein? Sind es die Allgemeinplätze, die sie wieder zum Leben erweckt haben? Marion, warum habe ich plötzlich ihr Bild vor Augen? Was will sie mir sagen?
»Wenn du mich verrätst, bringe ich dich um«, hat mein Bruder auf dem Friedhof gesagt, der von einer meterdicken Wehrmauer aus dem 13. Jahrhundert umrandet ist. Beide hängen wir an dem Schießschacht und beobachten, wie die Feuerwehr nichts tut. Ja, sie tut nichts. Im Grunde stehen da zehn Löschzüge aus den Nachbargemeinden und schauen zu, wie das alte Spritzenhaus zu Weißberg abbrennt. Auch um die beiden Löschfahrzeuge, die aus alten Wehrmachtsbeständen stammen, scheint es den Feuerwehrleuten nicht schade. Da wird sich abgeklatscht und sich freudig in den Armen gelegen.
Der Kirchenwirt, der längst mit seinem Kochlehrling im Bett gelegen ist, hat sich von der Jugend getrennt und draußen ein dreißig Liter Fass Bier angeschlagen. Alle scheinen guter Dinge. Warum haben wir eigentlich Angst?
»Der Schein trügt«, hat mein Bruder gesagt, »der Schein trügt immer. Sie werden uns lynchen, wie einen gemeinen Pferdedieb einfach aufhängen. Unten gegenüber der Schmiede und der Trafikantin. Du weißt, der Baum, der fast nie Blätter trägt.«
Natürlich habe ich den Galgenbaum gekannt. Meine Großmutter und selbst die Hundertjährige sind nur mit einem Kreuzzeichen an und unter dem Baum vorbeigegangen.
Meine Großmutter und die Hundertjährige da hat es doch ein Bild gegeben. Auf dem Schreibtisch habe ich es stehen gehabt, eingerahmt in einem dunklen schwarzen Holzrahmen.
Die Großmutter und die Hundertjährige, in Hamburg haben sie noch auf dem Schreibtisch gestanden. Und in Bonn? Verschwommen die Bilder. Ähnlich wie mein Spiegelbild in der Windschutzscheibe. Es hat angefangen zu regnen. Warum hat es nicht geregnet, als meine Küche explodiert ist und ich samt Tür weit hinaus in den Flur geflogen bin? Hätte ich auf der anderen Seite der Küche gestanden, wäre ich mit samt dem Küchentisch unten auf der Straße gelandet. Hätte es geregnet, wären die Dachstühle der benachbarten Häuser sicher vom Funkenflug verschont geblieben.
Nein, in Bonn hat das Bild mit der Großmutter und der Hundertjährigen nicht auf dem Schreibtisch gestanden. Nein, in der Wohnung in Bonn hat am Anfang überhaupt nichts gestanden. Auch nach Jahren, als ich die letzte Kiste gesichtet und geleert habe, ist das Bild nicht wieder aufgetaucht.
»Ja, ja, ja«, schreie ich laut, als wollte ich einen Orgasmus vortäuschen, was Fritzi nur mit einem Kopfschütteln kommentiert.
Ja natürlich. Wie habe ich das all die Jahre vergessen können.
»Fritzi, wir fahren nach Hamburg«, sage ich mit so einer Bestimmtheit, dass Fritzi in die Eisen steigt und rechts heranfährt.
»Aber das ist die entgegengesetzte Richtung!«
Bestattung
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
Die Straße hinunter, immer dasselbe Bild, die Straße hinunter, vorbei an der Armensiedlung, links der Hof mit den Zwillingen und der bildhübschen Cousine aus der Stadt, die hier ihre Ferien verbringt, die Straße hinunter, es ist heiß, der Teer mit dem die Straße im Frühling notdürftig geflickt worden ist, hat sich aufgelöst und bleibt an den Schuhen kleben, rechts der Fischweiher, der dem Einarmigen gehört, er sitzt vor seiner Hütte und grüßt mit erhobener Flasche, der Hund bellt, die Straße hinunter, immer dasselbe Bild, die Straße hinunter, am Wegkreuz vorbei, das an das elfjährige Mädchen und an dessen Unfall vor drei Jahren erinnert, Gott nahm sie viel zu früh von uns, steht da, nicht Gott, sondern ein Betrunkener mit seinem Auto ist es gewesen, links der verfallene Hof der Steiners, die aufgeben mussten, nur die beiden Emailleschilder, das von der Brandschutzversicherung und das der Bank, lassen vermuten, dass das Haus neue Besitzer hat, gleich die scharfe Rechtskurve und dann das Haus, ich brauche nur die Straße hinunter, das Bild verschwimmt.
Ich werde wach.
Der Zug hat auf offener Strecke gehalten.
Es muss sich jemand auf die Gleise gestellt haben. Von weitem ein Signalhorn, das sich langsam nähert. Die Strecke ist auf einmal hell erleuchtet. Ein paar Fahrgäste sind ausgestiegen und gehen in Richtung Lok.
Auf manchen Strecken haben die Züge immer eine Verspätung, konstatiert mein Gegenüber. Schlimm nur für die Lokführer. An die Lokführer denkt so ein Selbstmörder nicht. Alle Selbstmörder sind asozial. So ein Lokführer kann doch frühestens im nächst größeren Bahnhof ausgewechselt werden.
Ein gleichmäßiges Röcheln, dann ist mein Gegenüber wieder eingeschlafen.
Als die Nachricht vom Tod meines Onkels mich erreichte, dachte ich sofort an Selbstmord, obwohl mein Onkel, soweit ich ihn gekannt hatte, überhaupt nicht dem Typ eines Selbstmörders entsprach. Dennoch, eine andere Todesart konnte ich mir nicht vorstellen, ganz konkrete Bilder hatte ich. Ich sah meinen Onkel zwischen dem Gebälk hängen, leicht pendelnd, mit dem dazugehörigen knarrenden Geräusch des angespannten Seils.
Mein Onkel ist aus dem Fenster gesprungen, aus dem Mansardenfenster, so sein einziger Freund, ein gewisser Hutter, der mir einen langen Brief, nachdem die Familie und ganz besonders mein Vater, obwohl der eigene Bruder, sich geweigert hatten, ihm, meinem Onkel, die letzte Ehre zu erweisen, geschrieben hatte.
Der Name Hutter war mir kein Begriff. Auch Vater hörte diesen Namen zum ersten Mal.
Hutter schrieb mir, dass ich mich um nichts zu kümmern bräuchte, und er alles in die Wege leiten würde. Selbst eine Fahrkarte 1.Klasse und ein Scheck waren dem Brief beigelegt. Es schien, dass er über mich Bescheid wusste.
So saß ich im stehenden Zug und versuchte, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken.
Weit nach Mitternacht, nachdem sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, schlief ich ein.
Der kleine See, schwarz und kalt, es ist August und an der Tafel steht mit Kreide die Wassertemperatur, achtzehn Grad, ich bin in dem Alter, wo die Haut noch kein Sonnenöl benötigt, der Rücken dunkelbraun, die Haare weißblond, auf Zehenspitzen gehen wir über den heißen Asphalt, manchmal versinken die Füße im weichen Teer, es ist eine lange Straße mit einer leichten Rechtskrümmung, als wir die parkenden Autos nicht mehr sehen, zünden wir uns Zigaretten an, nach fünf Minuten haben wir das Gasthaus erreicht, die Badesachen sind trocken, ein paar schnelle, flüchtige Küsse ehe die Bedienung kommt, Bier und Zigaretten ja, aber keine Küsse, die Jungen müssen sich ein T-Shirt überstreifen, auch das ist Vorschrift, die Mädchen dürfen in ihren Badeanzügen Platz nehmen, wir bestellen Bier, unter dem Tisch halte ich Gerdis Hand, ich mag Gerdi, zumindest heute, jetzt, sie weiß, dass ich Marietta sehr lieb habe, sie wusste es schon vor mir, als sie mir den Zungenkuss beibrachte, sagte sie es mir, hinterher, Gerdi nimmt alles nicht so eng, wie sie sagt, sie will leben, sie will genießen, Gerdi ist zwei Jahre älter als ich, draußen auf der Terrasse riecht es nach Sonnenöl und Würstchen, auf dem Tisch, ein Körbchen mit gesäuertem Brot, auf dessen harten Kanten wir herumkauen, das weiche Innere beträufeln wir mit Maggie, nur einer von uns bestellt Wiener Würstchen, obwohl es keine Wiener Würstchen sind, Ansgar hat neben den Toiletten die großen Blechdosen entdeckt, die Würstchen kommen aus Oldenburg und sind vom Schwein, für den Heimweg kaufen wir uns Pfefferminzbonbons, auf dem Rückweg lassen wir uns Zeit, die Zigaretten müssen aufgeraucht werden, einmal hat Ansgar eine fast volle Packung hinter dem Parkplatz begraben, dann hat es drei Tage lang ununterbrochen geregnet, seitdem habe ich immer eine eigene Packung dabei, am Abende haben wir die Sonne im Rücken, bis zum Parkplatz sind auch die Haare trocken, die bei mir nach allen Seiten abstehen, Australischer Grasbaum, sagt der Postbusfahrer, wir lachen, keiner von uns hat je einen Australischen Grasbaum gesehen.
Jemand rüttelt mich zum wiederholten Mal. Ich weigere mich aufzuwachen.
Eine Taschenlampe wird mir ins Gesicht gehalten.
Pass - und Zollkontrolle!
Deutscher Boden ist erreicht. Schneidige Burschen mit Walrossschnauzern mit ebenso schneidigen Fragen und Befehlen.
Es kann sich nicht um einen Traum handeln. Ich bin in Deutschland.
Einer der Beamten, der ohne Mütze und Pistole, sächselt.
Ich bin in Deutschland. Meine Koffer muss ich öffnen.
Naturgemäß deshalb nur, wie mein Gegenüber konstatiert, da ich bei der ersten Aufforderung den Pass zu zeigen, nicht reagiert habe.
Mein Gegenüber scheint es zu amüsieren, dass ausgerechnet meine Koffer auf das genauste durchsucht werden.
Das hätte es früher nicht gegeben, eine Kofferdurchsuchung in der 1.Klasse, so mein Gegenüber. Er bietet mir einen Obstler an, den ich dankend entgegennehme.
Nichts für ungut.
Die Grenzer verabschieden sich schneidig.
Mit der Hoffnung auf Schlaf nehme ich einen weiteren Obstler von meinem Gegenüber an.
Das Dach des alten Postbusses ist aufgerollt, allein dafür lohnt sich das Mitfahren, Gerdi sitzt einen Platz vor mir, sie weiß, Marietta wird an der Haltestelle auf mich warten, neben mir Klaus, der seinen Kopf in den Fahrtwind hält, hinter uns Gabi und Ansgar, er ist der älteste in der Gruppe, dennoch tut er alles für uns, wenn wir wollen, bläst er sogar das große Schlauchboot auf, mit dem Mund, alle drei Kammern, fast immer bezahlt er die Zigaretten und die Halben, wir haben kein schlechtes Gewissen, warum auch, seine Eltern haben Geld wie Heu, dafür ist er etwas zurückgeblieben, alles kann man in einem Leben nicht haben, sagt mein Vater, dreimal die Woche muss Ansgar den neuen silbergrauen Mercedes waschen, dafür war er aber schon in Paris und Madrid, nur vor Blindschleichen hat er Angst, seine Mutter hatte schon zwei Liebhaber, alle im Ort wissen davon, nur Ansgar und sein Vater nicht, Ansgar liebt seine Mutter über alles, eine Freundin hatte er noch nie, ich werde nie heiraten und wenn, dann Marietta, die an der Haltestelle auf mich warten wird, im einzigen Tunnel der Strecke küsst mich Gerdi, die sich unbemerkt über den Sitz gebeugt hat, direkt auf den Mund, es geht den Berg hinauf, Serpentinen fahren ist fast so schön wie Achterbahn, sagt Gerdi, dabei ist sie in ihrem Leben überhaupt noch nicht Achterbahn gefahren, auf halber Strecke, an der Jausenstation hält der Bus, wir steigen aus und helfen dem Fahrer das Faltdach anzubringen, hier oben auf der Jausenstation ist es schon merklich kühler, bis zur Weiterfahrt haben wir noch etwas Zeit, der Fahrer erzählt von früher, vom Großglockner, von Heiligenblut, auf der Herrentoilette zieht Gerdi ihr Bikinioberteil aus, weil es zwickt, wie sie sagt, sie hat große stehende Brüste, ich werde rot, als sie mich küsst, ihr Busen glüht, als ob sich die Sonne des Tages darin gespeichert hätte, der Busfahrer hupt, wir müssen weiter, Gerdi drückt sich beim Einsteigen von hinten fest an mich, ein schönes Gefühl, alles ist schön, es ist der erste Sommer, an dem ich nichts auszusetzen habe, auch mit mir bin ich zufrieden, nicht mehr so schmächtig wie ein Jahr zuvor, auch halten sich die Pickel in Grenzen, zum Glück bin ich verschont geblieben, mit meiner Schlagfertigkeit erreiche ich alles, ich habe ein Gespür dafür, wie weit ich gehen kann, der Instinkt des Schwachen, des Schwächlings, so immer der Vater, den ich ignoriere, um ich scharren sich plötzlich die Menschen, ich kann Geschichten erzählen, ich, und nicht mein Vater, so geht es weiter den Berg hinauf, der Fahrer muss in den ersten Gang zurückschalten, ich schaue aus dem Fenster und freue mich auf die Haltestelle, auf den Empfang, auf die Küsse und auf das Hupen des Postbusses, wenn ich Marietta in den Arm nehme, der Busfahrer mag mich, er nennt mich einen Glückspilz, ich der kleine Schmächtige bin mit dem hübschesten Mädchen, dass man sich vorstellen kann, zusammen, Marietta ist hübscher als Gerdi, denke ich und schließe die Augen, noch ein paar wenige Kurven und ich kann aussteigen, Gerdi und die anderen fahren zum Glück eine Station weiter, nur Ansgar könnte mit mir aussteigen, aber der möchte den anderen noch beim Moserwirt einen ausgeben, vielleicht kommen wir ja nach, denke ich, wir schmusen, ich streichle ihr über den kleinen festen Busen, sie kratzt dafür meinen Rücken auf, es ist der Sommer der Neugierde, alles will sie wissen, erforschen, Zuhause liegen verwaist meine Englisch - und Lateinbücher, Latein und Englisch muss ich schaffen, dabei sind zwei Fremdsprachen einfach zuviel für mich, ich werfe alles durcheinander, Ende August ist Nachprüfung, ich will nicht daran denken, das Leben liegt auf der Straße, sagt auch Marietta, sicherlich wartet sie schon an der Haltestelle, Marietta mag keine blassen Jungen, vor allem die mit Brille und kurzem Haar sind ihr zuwider, der Bus quält sich den Berg hinauf und stößt immer größer werdende schwarze Rußwolken aus, wenn die Passstraße erreicht ist, sind es nur mehr drei Stationen.
Ein Rucken geht durch den Zug.
Ich werde erneut wach. Durch das Fenster sehe ich gelbe Elektroautos an mir vorbeifahren.
München, sagt mein Gegenüber, Sackbahnhof.
Er bittet mich, mit ihm den Platz zu tauschen.
Ich ziehe das Fenster hinunter. Draußen herrscht rege Betriebsamkeit. Die verlorene Zeit muss aufgeholt werden.
Mein Aufstehen nutzt mein Gegenüber für einen Platzwechsel, obwohl ich auf seine Bitte, mit ihm den Platz zu tauschen, noch keine Antwort gegeben habe. Ich bin immer noch in einer anderen Welt und kann mich nicht wehren, will es auch überhaupt nicht.
Mein Gegenüber, der es sich jetzt auf meinem Platz bequem gemacht hat, versucht eine Unterhaltung mit mir anzufangen. Er erzählt irgendetwas. Dadurch aber, dass ich momentan in einer anderen Welt bin, kann er mir nichts anhaben. Seine Stimme, sein Geschwätz perlt ab, wie das Wasser auf den Ölmänteln der Arbeiter, die draußen auf dem Bahnsteig gerade dabei sind, die Post zu verladen.
Ich schließe das Fenster, mein Gegenüber, der sich sichtlich wohl auf meinem Platz fühlt, reicht mir seine Karte, hält sie mir dann, da ich nicht sofort reagiere, brutal unter die Nase, so nah, dass ich die Druckerschwärze riechen kann. Ohne einen Blick darauf zu werfen, stecke ich sie ein.
Es macht einen Ruck und ich lande auf seinem alten Platz. Der Zug verlässt langsam München.
Waren Sie schon einmal in München, mein Gegenüber gibt nicht auf.
Da ich nicht antworte, kommt er noch einmal auf den unfreiwilligen Halt zu sprechen.
Es wäre nicht sein erster Selbstmörder, so mein Gegenüber, nein, nein, ganz im Gegenteil.
Vor allem warnt er mich vor dem Intercity mit dem Namen Van Gogh.
Der Van Gogh, so mein Gegenüber, hat immer Verspätung. Es ist der Zug der Künstler, wohlgemerkt der, der erfolglosen Künstler, der Unverstandenen, die immer wieder eine Verspätung verursachen.
Mein Gegenüber grunzt noch etwas, dann ist er wieder eingeschlafen.
Es dauert lange, bis ich erneut in den Schlaf zurückfinde.
Marietta wartet nicht an der Haltestelle, ohne die Station auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, habe ich bei den Brüdern Stättner, denen auch die Tankstelle gehört, eine Wurstsemmel gekauft, Marietta ist sonst immer pünktlich, sicher hat die Mutter sie nicht weggelassen, sie wird schon noch kommen, ich genieße die Wurstsemmel und blinzle in die immer noch starke Abendsonne, die Stättnerischen Wurstsemmel sind in der ganzen Gegend die allerbesten, die Stättners waren einmal fünf Brüder, drei davon stehen auf dem großen Obelisk gegenüber der Postbushaltestelle, und während ich meine Wurstsemmel esse und auf Marietta warte, suche ich auf dem Obelisk nach den Stättners, alle drei waren in der selben Einheit, alle drei in Stalingrad, der halbe Ort, so heißt es, sei in Stalingrad gefallen, alle drei Stättners am selben Tag, was ich nicht glaube, aber dem Steinmetz eine Menge Arbeit erspart hat, ich sehe in Richtung Fischweiher, nichts ist zu sehen, wenn Marietta bei der Großmutter gewesen ist, kommt sie von der anderen Seite, ein paar Camper aus den Niederlanden fahren vorbei, seitdem der Einarmige vom Fischweiher überall herumerzählt, die Holländer würden ihre schmutzige Wäsche im Bach waschen, was dann letztendlich die Ursache für das große Fischsterben Anfang Juni gewesen sein soll, sind sie hier nicht mehr beliebt, obwohl, eigentlich waren sie hier nie richtig willkommen, zu wenig Geld lassen sie hier im Ort, sie trinken einen Kaffee und holen dann mit aller Selbstverständlichkeit fünfzig Liter Wasser für ihre Tanks von der Toilette, der Ort aber ist auf jede Übernachtung angewiesen, wer gar mit Kindern kommt und Vollpension bucht, ist überall gleich beliebt, alle leben hier von den Touristen, selbst die Polizei, sie fährt Doppelschichten auf den Straßen, auch sind die Radarfallen wieder in Betrieb, auf dem Dorfplatz hat man Anfang Juni zum ersten Mal Halteverbotsschilder aufgestellt, sie aber so postiert, dass ein Fremder sie nur schwerlich entdecken kann, im Sommer sind die Polizisten immer gutgelaunt und geben gern mal ein Bier aus, die Deutschen sieht man hier am liebsten, die Deutschen lassen das meiste Geld hier, man fährt wieder in Urlaub, mit der ganzen Familie, sogar zweimal, im Sommer und im Winter, man kann es sich jetzt wieder leisten, im Schutz der überdachten Haltestelle rauche ich eine Zigarette, so lange werde ich noch warten, wenn sie nicht kommt, werde ich zum Krainer gehen, auf eine Partie Billard, ich verstehe es nicht, Marietta ist sonst so ein pünktlicher Mensch, einmal habe ich sie beobachtet, wie sie eine halbe Stunde zu früh am verabredeten Treffpunkt auf mich gewartet hat, ich bin nur dagesessen und habe sie beobachtet, ganz ruhig hat sie auf mich gewartet, eine halbe Stunde später als verabredet bin ich bei ihr aufgetaucht, nicht einmal böse ist sie mir gewesen, meine Marietta, eine Wurstsemmel, drei Zigaretten, eine halbe Stunde habe ich jetzt auf sie gewartet, ich werde zum Krainer gehen, auf eine Partie Billard, vielleicht ist ihr Bruder da, obwohl erst früh am Abend ist der Gastraum schon gut gefüllt, ich gehe in den Nebenraum, Max, Mariettas Bruder spielt mit einem Touristen, einem Berliner, um Geld, ab und zu schaue ich aus dem Fenster, vielleicht kommt sie ja doch noch, der Berliner wirft den Queue auf den Tisch und verlässt fluchend den Raum, Max und ich lachen, wie viel frage ich nur, Tausend, antwortet Max grinsend und lädt mich auf ein Bier ein, Max ist Forstarbeiter, lebt aber über seine Verhältnisse, er ist der beste Billardspieler in der ganzen Gegend, in der Hochsaison macht er mit dem Billardspiel das zehnfachen von seinem Gehalt, Max ist schwul, aber das darf im Ort niemand wissen, bei der Madonna habe ich es ihm schwören müssen, durch ihn habe ich Marietta kennen gelernt, ich gehöre zu seiner Schwester, er hat es akzeptiert, obwohl er anfangs in mich verliebt gewesen ist, dafür schweige ich wie ein Grab, sicher muss Marietta der Mutter helfen, sagt Max und bestellt eine neue Runde, die Bushaltestelle unverändert, keine Nachricht, auch am Kriegerdenkmal nicht, unserem gemeinsamen geheimen Briefkasten, nachdem wir im Wanderkino zusammen einen Agentenfilm gesehen haben, zum Moserwirt könnte ich gehen, vielleicht ist sie ja da, bei den anderen, dort steht auch eine Wurlitzer und ein Flipperautomat, beim Moserwirt trinke ich einen Kaffee und esse eine ganze Packung Kaugummi, damit die Eltern nichts merken.
Was ist Schmerz?
Wann wird Schmerz laut?
Ich kenne keine Schmerzenslaute, fresse alles in mich hinein. Immer hinein damit, immer nur hinein mit dem ganzen Unrat!
Begegnungen finden statt, gewollte aber auch zufällige. Begegnungen werfen einen aus der Bahn oder beschleunigen einen, naturgemäß zu schnell für die nächste Runde. Rundenrekord, dafür aber ist die Strecke immer dieselbe.
Der Rundenrekord erweist sich leider allzu oft als reine Täuschung. Man denkt Rundenrekord, dabei ist man längst herauskatapultiert, längst auf einer anderen Strecke, auf einer unbekannten Nebenstrecke. Und erst, wenn man in der Kurve, von der man glaubte, es sei die bekannte, herausfliegt, begreift man, dass es sich um eine völlig neue und unbekannte Strecke handelt.
Mein Onkel ist gestorben. Ein Toter hat es geschafft, mich auf eine andere Strecke zu bringen. Was Lebenden als unmöglich erschien, hat mein toter Onkel geschafft.
Zwei Tage habe ich jetzt nicht schlafen können. Leicht verzerrt kann ich mein Gesicht in der Scheibe erkennen, mal hell, mal dunkel. Nur wenn ein hellerleuchteter Zug entgegenkommt, kann ich mein Gesicht in der Scheibe gut erkennen.
Wieder steht mein Gegenüber vor mir und möchte mit mir die Plätze tauschen.
Frankfurt, Sackbahnhof, Sie verstehen.
Nichts verstehe ich, möchte nur endlich zu Ruhe kommen. Naturgemäß tausche ich den Platz mit meinem Gegenüber. Er bringt es sonst fertig einfach so, breitbeinig und grinsend und vor allem unentwegt redend, die ganze Fahrt über, vor mir stehen zu bleiben.
Es ist eine alte bekannte Strecke: München - Frankfurt. Zwei allzu bekannte Haltepunkte. Über fünf Jahre immer dieselbe Strecke, dieselben Hoffnungen, dieselben Träume.
Die Straße hinunter, immer dasselbe Bild, die Straße hinunter, vorbei an der Armensiedlung, die Straße hinunter, am Wegkreuz vorbei, links der verfallene Hof der Steiners, gleich die scharfe Rechtskurve und dann das Haus, ich brauche nur die Straße hinunter, ein weißes Cabriolet steht am Wegesrand, ein Mercedes mit roten Ledersitzen und deutschem Kennzeichen, das Radio läuft leise, Hugo Strasser, Tanzmusik, sicher ein Liebespaar, ein schöner Sommerabend für die Liebe, irgendwann habe ich auch so einen Wagen, mit Marietta werde ich hier halten und mit ihr in den Wald gehen, vorsichtig werden wir uns auf das weiche Moos legen, eine ganze Weile werden wir uns anschauen und streicheln, ich werde ihr die Bluse öffnen und sie wird mir das T-Shirt über den Kopf ziehen, ihre kleinen wunderschönen Brüste werden ich liebkosen und sie wird eine Gänsehaut bekommen, dann werden wir eins sein, viele Sommertage werden wir haben, unzählige, Marietta wird stolz neben mir sitzen, wenn wir durch die Landschaft fahren, am Fischweiher hupen, den Einarmigen ärgern, an diesem Sommerabend genug getrunken, mutig für einen Streich, genau die richtige Stimmung, wieder eine neue Geschichte, die ich dann Marietta erzählen kann, Marietta hört mir gern zu, kann gar nicht genug bekommen von meinen Erzählungen, ob sie stimmen oder nicht, ist ihr vollkommen egal, für sie ohne Bedeutung, sie mag meine Stimme, hört mir gern zu, Marietta liegt dann seitlich im Gras und schaut mich unentwegt an, während ich meiner Phantasie freien Lauf lasse, ich pirsche mich an das weiße Cabriolet heran, lautlos versteht sich, beim Räuber - und Gendarmspiel immer einer der besten gewesen, der Schlüssel steckt, einfach einsteigen, bis zur nächsten Kurve und dann in den Wald fahren, zu Fuß zurück und leise anschleichen, Reaktionen abwarten, das blöde Gesicht des Besitzers sehen, wenn er entdeckt, dass sein Wagen weg ist, vom Plan, den Wagen im Wald verschwinden zu lassen, komme ich ab, das letzte Auto, ich bin sieben Jahre alt gewesen, habe ich in den Bach gesetzt, was eine Feuerwehrübung und eine Tracht Prügel zur Folge gehabt hat, nein, diesmal mache ich etwas anderes, ich werde hupen, die Hupe feststellen, das reicht, vielleicht kommt ja jeden Moment Marietta, das Haus, geradeaus liegend, in Sichtweite, unten in der Küche brennt Licht, vielleicht wäscht sie gerade ihre Haare, sie hat wunderbare lange Haare, die Marietta, wenn sie frisch gewaschen sind, duften sie, das man es nicht beschreiben kann, in der Hosentasche suche ich nach Streichhölzern, breche eines ab und stecke es in die Mitte des Lenkrades, die Hupe ist festgesteckt und verbreitet einen ohrenbetäubenden Lärm, der Hund am Fischweiher bellt, Flaschen klirren, der Einarmige wird mal wieder besoffen sein, ich springe in den Straßengraben, Zeit vergeht, mein Herz klopft schnell vor Aufregung, ein Mann taucht aus dem Wald auf, dabei den Reißverschluss an der Hose schließend, mit rotem Kopf und Schweiß auf der Stirn, ich unterdrücke mein Lachen, er schaut auf die Straße in beide Richtungen, bevor er das Streichholz entfernt, mit einem lässigen Sprung ist er im Wagen, wischt sich mit dem Taschentuch über die Stirn, fährt sich, mit einem Blick in den Rückspiegel, durch das Haar, im Handschuhfach sucht er nach Zigaretten, fündig geworden, zündet er sich eine an, genüsslich macht er den ersten Zug, fast so wie in der Kinoreklame, dann, urplötzlich, fängt er an zu lachen, ein lautes, unangenehmes Lachen, Zahngold wird sichtbar, er dreht den Zündschlüssel um und fährt los, sein Lachen aber ist lauter als der Motor, sein Lachen ist unerträglich.
Dieses Lachen lässt mich keinen Schlaf mehr finden, bewirkt Schweißausbrüche. ich ertrage kein Lachen mehr. Jedes Lachen ist unerträglich, verdächtig. Alpträume verfolgen mich bis tief in den Tag hinein. Ich meide auf einmal Menschen, die andauernd einen Witz auf den Lippen haben. Lachen ist zum Alptraum geworden. Fröhliche Menschen verursachen einen Brechreiz. Ich bin ein Gefangener dieser Bilder. Dieses Lachen hat mich an die Kette gelegt.
Gerade in dem Moment, als ich den Straßengraben wieder verlassen will, taucht Marietta aus dem Wald auf, der Mund blutig, geschwollen, die Wangen rot mit dem weißen Abdruck einer Männerhand, ihre Bluse zerrissen und voller Dreck, ihre Hände in den Schoß gepresst, sie weint lautlos, warum stehe ich nicht auf und gehe auf sie zu, ich schäme mich, will das Blut nicht sehen, verquollene Augen, drehe mich ab, der Vater hat recht, ich bin ein Feigling, ein Schwächling, zu nichts zu gebrauchen, Traumtänzer, Taugenichts, sie taumelt nach Hause, die Straße hinunter, eine gerade Strecke, das Haus immer in Sichtweite, vielleicht ist sie nur gefallen, über einen Baumstumpf gestolpert, alles nur ein dummer Zufall, wäre da nicht dieses Lachen, dieses unerträgliche Lachen.
Ich werde wach.
Mein Gegenüber grinst mich an.
Sie hätten sich sehen sollen, wirklich zu komisch.
Ich stehe auf und verlasse das Abteil.
Die Toilettentür klappert. Ein beißender Geruch auf dem Gang. Mich friert. Einfach lächerlich, jetzt hier draußen auf dem Gang zu stehen und eine Zigarette zu rauchen. Ich spüre die Blicke meines Gegenübers im Rücken. Gehe ein paar Abteile weiter. Überall sind die Vorhänge zugezogen. Der beißende Geruch wird stärker. Aber jetzt wieder in das Abteil zurückgehen, nein, diesen Triumph gönne ich ihm nicht.
Seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und vor Aufregung kaum geschlafen. In der Nacht immer wieder dieselben Träume, aufgeschreckt, verschwitzt, die Decke angestarrt. Vielleicht noch eine Stunde, und ich habe mein Ziel erreicht. Lese die Schilder an den Bahnhöfen, die wir durchfahren, langsam zurückkommende, bekannte Namen.
Die Zigarettenpackung ist noch fast voll. Eine Stunde auf dem Gang ist damit auszuhalten.
Blut auf der Toilette. Ich schließe die Tür.
Mir graut davor, in einer Stunde auszusteigen. Papierkrieg wird mich erwarten und vielleicht sogar die Identifizierung des Onkels im Leichenschauhaus.
Wie sieht ein Mensch aus, der aus dem Mansardenfenster gesprungen ist?
Und dann dieser Hutter, der mir geschrieben hat. Seit Tagen kreisen meine Gedanken um diesen Hutter. Was ist das für ein Mensch, der sich als Freund meines Onkels ausgibt, mir ein Ticket und einen Barscheck schickt?
Der Onkel hatte mich die ganze Zeit unseres Zusammenseins immer wie ein
Erwachsener behandelt. Wahrscheinlich aber in mir doch nur das Kind gesehen, den Sohn seines verhassten Bruders. Sein Haus kannte ich nur von außen. Mich hatte er immer im besten Hotel der Stadt untergebracht. Über fünf Jahre in regelmäßigen Abständen hat er mir an den Wochenenden das Hotel bezahlt.
Menschenscheu, hat der Vater über meinen Onkel gesagt, der mich bei unseren gemeinsamen Essen immer vor dem Humanismus gewarnt hatte. Immer wieder hatte er vom Humanismus gesprochen und mich gewarnt.
Wieder Schweißausbrüche wie vor fünfzehn Jahren, Mittelstufenschüler, Angst vor der großen Stadt, vor neuen Bekanntschaften, vor allem Neuen.
Mit einem Bild von Marietta auf dem Zugflur gestanden, von Australien geträumt, Fluchtpläne gemacht, im Gepäck den Grafen von Monte Christo.
So wie damals gehe ich den langen Gang entlang, wechsle die Klassen, bis ich am Zugende angelangt bin. Die Tür lässt sich einen Spalt öffnen, kalte frische Nachtluft dringt herein. Ich schaue auf die Gleise, zähle die Hochspannungsmasten, die an mir vorbeischießen.
Ein guter Schütze, eine ruhige Hand, ich schieße den Mädchen, die nach jedem Schuss vor Vergnügen kreischen Plastik - und Papierrosen, für Marietta schieße ich einen Teddybären aus Plüsch, wozu ich nur ganze fünf Schuss benötige, Marietta ist stolz auf mich, nur auf den Fotoapparat mit Selbstauslöser schieße ich nicht, irgend etwas hindert mich, die Begeisterung schlägt um, nein, ich schieße nicht auf diesen Fotoapparat mit Selbstauslöser, auch wenn jetzt Marietta mir den Teddybären zurückgeben will, sie möchte das Bild von mir, Marietta hat sich verändert, seitdem sie keine Röcke mehr trägt, ich hätte es ihr sagen sollen, alles, aber ich bin ein Feigling, da hat sie schon ganz recht, sie ist mit den anderen gegangen, hat mich einfach stehen lassen, mit dem Teddybären aus Plüsch, dem jetzt schon ein Auge fehlt, gehe ich nach Hause, ich schieße nicht auf Fotoapparate, irgendwann am Fischweiher, werfe ich den Bären hinein, Hunde bellen, der besoffene Einarmige flucht, kehre auf halber Strecke wieder um, das verlorene Knopfauge zu suchen, der Tanz ist zu Ende, die meisten Stände geschlossen, nur der Vogelstimmenimitator verkauft noch seine Plättchen an ein paar Betrunkene, die sie beim ersten Ausprobieren sofort wieder verlieren, auf unserem Platz, hinter der Musikkapelle, verwaist Mariettas Lebkuchenherz, der kleine Spiegel obenauf zerbrochen, suche zwischen den Sägespänen und dem hohen Gras nach dem verloren gegangenen Knopfauge, ein hoffnungsloses Unterfangen.
Der Zug vermindert seine Fahrt.
Ich verliere ein wenig an Halt, gehe mit in Fahrtrichtung, meinem Ziel entgegen.
Filmriss
Dieser Roman wurde mit einem Arbeitsstipendiums des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
1.
Ich ertappe mich dabei, wie ich im Badezimmer stehe und die Luft anhalte. Selbst das Licht habe ich ausgemacht, um mich besser auf die Geräusche konzentrieren zu können. Da ist aber nur mein Herzschlag, der immer schneller wird, je länger ich die Luft anhalte. Nicht einmal eine halbe Minute halte ich aus, dann japse ich nach Luft, verfalle in meinen chronischen Raucherhusten und mache das Licht wieder an, weil ich in der Dunkelheit das Gefühl habe, der Boden unter mir würde wanken.
Hinter den Kacheln der dünnen Badezimmerwand befinden sich auch Kacheln. Sie werden dieselbe Farbe wie die meinen haben. Da wird er stehen und vielleicht so wie ich auf die Geräusche aus der benachbarten Wohnung lauschen. Ich halte mein rechtes Ohr ganz dicht an die Steckdose, die hoch über dem Waschbecken angebracht und durch eine Klappe, die von einer strammen Feder gehalten wird, gesichert ist. Beim Zurückweichen muß ich schnell sein, sonst schnellt die Klappe einfach zurück und klemmt mein Ohr ein. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich schmerzfrei an der Steckdose habe lauschen können. Kleinere Narben sind zurückgeblieben, aber das nehme ich in Kauf.
Ich drehe den Wasserhahn auf, lausche den Geräuschen. Lasse es lange laufen, ehe ich in Sekundenschnelle wieder abdrehe. Mein unsichtbares Gegenüber scheint genauso flink wie ich zu sein. Nicht einmal die kleinste Verzögerung, geschweige denn ein Echo ist zu hören.
Eine Zeitlang habe ich geglaubt, die Nachbarwohnung stehe leer. Zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten habe ich meine Wohnung verlassen, aber nie jemanden im Flur angetroffen.
Eines Tages aber, habe ich dann doch im Badezimmer die ersten Geräusche gehört. Erst ein schüchternes Toilettendeckel Aufklappen, dann das Öffnen einer Hosenschnalle. Das tiefe Ein- und Ausatmen eines Menschen, der es besonders schwer hat. Und zum Finale das bombastische Rauschen der Wasserspülung.
Ab dem Tag ist es mit der Schüchternheit meines Gegenübers vorbei gewesen. Radiogeräusche, das Öffnen und Schließen von Türen, Stühlerücken, Staubsaugergeräusche, Gläserklirren.
Schonungslos und zu allen Tages- und Nachtzeiten habe ich plötzlich am Leben meines Nachbarn teilgenommen.
Ich weiß nicht, wann mein unsichtbarer Nachbar mich wahrgenommen hat. Aber dass er es getan hat, beweist die Tatsache, dass er seit geraumer Zeit versucht sich mir anzupassen. Erst sehr ungeschickt, hat er es bis heute zu einer fast perfekten Übereinstimmung geschafft. Gehe ich durch die Wohnung, geht auch er durch die Wohnung, schalte ich das Radio ein, höre ich durch die Wand denselben Sender in seiner Wohnung. Benutze ich das Klo, ist auch er schon zur Stelle, tauche ich in die Badewanne ein, was meist mit einem wohltuenden Seufzer verbunden ist, tut er mir nach - wobei ich nicht einmal weiß, ob dieser obligatorische Seufzer von mir oder vielleicht von meinem unsichtbaren Nachbarn ist.
Wenn ich in den Spiegel schaue, mir überlege, ob ich mich rasieren soll oder nicht, eine Frage, die in letzter Zeit über Tage im Raum stehen bleiben kann, sehe ich oft meinen Gegenüber. Plötzlich wird mein unsichtbarer Nachbar, der in perfekter, aber auch in penetranter Art und Weise ein Meister seines Faches in punkto Synchronisation geworden ist, im Spiegel sichtbar. Ein unangenehmes Gesicht mit leeren Augen. Ein fremdes Gesicht mit der Botschaft auf der Stirn, mich muss man nicht kennen lernen.
Anfangs habe ich gedacht, ich würde in leere Augen, folglich in eine leere Welt schauen. Aber so ist das nicht. Hinter dem Schleier der Ausdruckslosigkeit befindet sich eine Welt, eine in sich funktionierende eigene Weltkugel, die mir nur verschlossen ist. Ich bilde mir durch das konstante, manchmal über Stunden in den Spiegel starren, ein, irgend etwas doch über den anderen hinter den Kacheln, der Wand, da wo dieselben Kacheln kleben, wie bei mir, etwas zu erfahren. Man muss nur lange genug in diese, der Außenwelt verschlossenen leeren Augen schauen. Zwei große Gummischläuche, die sich dehnen, wenn man in sie eindringt und die sich, je tiefer man vordringt, als kompliziertes Wegenetz entpuppen. Ich beuge mich weit über das Waschbecken, versuche so dem Spiegel und somit den Augen meines unsichtbaren Nachbarn so nah wie möglich zu sein.
Wie schnell doch ein Ausblick und dadurch ein Einblick beschlägt.
In Sekundenschnelle ist mein Gegenüber verschwunden. Ein leichter hauchdünner Nebel, hervorgerufen durch meinen flachen Atem, der beweist, dass ich lebe, zerstört das Bild, lässt tiefere Einblicke nicht zu. Es ist an der Zeit, dass ich das Bad, die Wohnung, das Haus verlassen muss. Die Zunge trocken, wie Schamottestein aus einem Brennofen, ist ein untrügliches Zeichen, dass ich schon viel zu lange nicht mehr draußen gewesen bin.
So bin ich dann mit dem Brief, der den Stempel des Amtsgerichts trägt und ungeöffnet in der Innentasche meiner Jacke zwischen Futter und Futter steckt, in das Café gegangen.
Das Öffnen des Briefes würde überhaupt nichts ändern. Sicherlich kann ich binnen zehn Tagen Widerspruch einlegen, aber das ändert die Tatsachen nicht. Der Tatbestand ist nun mal eindeutig. Ich bin in die Realität zurückgeholt worden. Der Brief ist nicht ausschlaggebend gewesen. Den Brief mit dem Stempel des Amtsgerichts habe ich erwartet, so wie ich alle Katastrophen in meinem Leben habe kommen sehen. Die kleinen Warnungen habe ich stets ignoriert. Der Brief jetzt ist nur eine Konsequenz meines Lebensstils, meines fehlenden Lebensstils. Ich besitze nichts, noch nicht einmal eine Anstellung. Ohne Lebensanstellung auch keine Lebenseinstellung, die man herzeigen könnte.
Schatten, Schattenriss, damit bin ich stets zufrieden gewesen, habe mich beispielsweise im Kino immer so gesetzt, dass mein Schatten auf der Leinwand zu sehen gewesen ist. Ohne zu fragen, habe ich mich jedem Film aufgedrängt, mich in jede abgeschlossene Geschichte gezwängt.
»Rübe runter! Rübe weg!«, haben sie im Kino lauthals gerufen, was mich keineswegs irritiert hat, im Gegenteil, das Gefühl wahrgenommen zu werden, ist stets ein sehr schönes gewesen. Was hat man nicht alles auf mich geworfen? Bier- und Coladosen, einmal sogar ein paar nagelneue braune Herrenschuhe. Was für ein Triumph, wie bei einem Schauspieler oder Sänger, den das Publikum immer wieder mit ihren da capo, da capo Rufen auf die Bühne zurückholt und ihn mit Rosen überschüttet.
Auch der Brief, der den Stempel des Amtsgerichts trägt und ungeöffnet in meiner Jacke zwischen Futter und Futter steckt, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich wahrgenommen werde. Ich bin registriert, habe eine Aktennummer.
Natürlich ist es für den Briefträger ein innerer Triumph gewesen, mir solch einen Brief zu überreichen, wo ich doch der einzige im Haus bin, der ihm kein Weihnachts- , geschweige denn Neujahrsgeld gegeben hat. Mir solch einen Einschreibebrief mit Rückschein zu überreichen, darauf hat der Briefträger lange warten müssen.
Sein hämisches »bitte unterschreiben sie«, ist mir noch im Ohr.
»Eine Einschreibesendung vom Amtsgericht«, hat er so laut gebrüllt, dass alle Hausbewohner es haben hören können.
Mein Nachbar über mir, der mit den grünen Kniebundhosen, ist natürlich sofort die Treppe heruntergestolpert und hat fadenscheinig nach seiner Post gefragt. Ein Mann, der stets vorgibt, schlecht zu Fuß zu sein, besitzt plötzlich die Leichtigkeit einer Gazelle in seinen Bewegungen. Ohnehin weiß der Nachbar über mir Bescheid. Schon zweimal hat er meine Bankkorrespondenz geöffnet, die er zuvor geschickt mit seinen Fingern aus meinem Briefkasten gefischt und sie dann, nachdem er die Kontoauszüge ausgiebig studiert hat, ohne Umschlag in meinen Kasten zurückgeworfen.
»Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht«, sagt mein Nachbar von oben in seinen lächerlichen grünen Kniebundhosen und wird auch noch vom Postboten durch ein Nicken und ein Grinsen unterstützt, das mich dazu veranlasst, einfach die Tür hinter mir zu schließen, was zur Folge hat, dass mein Nachbar von oben den Postboten über meine finanziellen Verhältnisse aufklärt, natürlich so laut, dass alle Hausbewohner es hören können.
Diese Wohnung ist von vornherein ein großer Fehler gewesen. Ich bin kein Wohnungsmensch, geschweige denn ein Hausgemeinschaftsmensch. Allein das Grüßen auf der Treppe bereitet mir Unbehagen. Im Hotel könnte ich ewig leben. Im Hotel habe ich mich immer wohl gefühlt. Vielleicht nur deshalb, weil ich die Hotelrechnung nie habe selber zahlen müssen.
Oft, wenn ich die Wohnung für ein paar Stunden verlassen habe, träume ich davon, dass bei meiner Wiederkehr das ganze Haus in Flammen steht und ich, Dank der Versicherung, wieder ins Hotel ziehen kann. Aber leider ist das bisher nicht eingetreten, obwohl ich des Öfteren die Herdplatte oder die Kaffeemaschine angelassen habe.
Der Nachbar von oben, der mit den grünen Kniebundhosen, wird, da ich keine Stimmen mehr im Treppenhaus gehört habe, den Postboten in seine Wohnung gelockt haben, um ihm Kopien meiner Kontoauszüge zu zeigen.
Mir ist schwindelig geworden, Nebel vor meinen Augen, der dem beschlagenen Badezimmerspiegel gleicht. Ich bin durch den Flur geschwankt, habe mich immer wieder an den Wänden abstützen müssen, bis ich die rettende Terrassentür erreicht habe.
Ein schöner Freitagnachmittag. Mit Bestimmtheit der letzte sonnige Tag in diesem Jahr, denkt der andere und macht es sich auf der Terrasse, die zu seiner Wohnung gehört, bequem. Da, wo die Bodenplatten abgesackt sind, steht das Wasser. Auf den dunklen Pfützen schwimmen gelbe Oleanderblätter. In den letzten Tagen hat es schon die ersten Regenstürme gegeben. Der Herbst kündigt sich an. Gut, dass es letzte Nacht geregnet hat, denkt der andere, endlich hat es ein Ende mit der mühseligen Gießkannenschlepperei, mit der tagtäglichen Wohnungsgebundenheit, nur damit die Blumen und Sträucher ihr Wasser bekommen.
Jetzt liegen die meisten Blüten und Blätter auf dem Rasen.
Wären es meine Blumen und Sträucher, denkt der andere, würde ich ja nichts sagen, mich nicht beklagen und schon gar nicht über den bevorstehenden Herbst freuen.
Das zweistöckige Haus, in dem er wohnt, und der angrenzende große Garten gehören seiner Schwester. Er ist nur Mieter. Da er aber den hohen Mietzins nicht aufbringen kann, ihn wohl auch nie aufbringen wird können, hat er vor Jahren einen Vertrag unterschrieben, der ihn fast mietfrei wohnen lässt, auf der anderen Seite ihn aber dazu verpflichtet, sich um das Haus und den Garten zu kümmern.
Für die Mieter ist er der Hausmeister und Gärtner. Man hält ihn für mittellos, dass er so eng mit der Besitzerin des Hauses verwandt ist, weiß hier niemand. Es ist von Seiten der Schwester sogar ein Bestandteil des Vertrages gewesen, über die verwandtschaftlichen Besitzverhältnisse zu schweigen.
Nur der große Nussbaum im hinteren Teil des Gartens gehört ihm, ist sein ganzer Stolz.
Dieses Jahr wird er sicherlich zwei Zentner Nüsse abwerfen, die kann ich dann auf dem Wochenmarkt verkaufen, wenn da nicht die Nachbarn wären, denkt der andere und zündet sich eine Zigarette an. Immer wenn er ärgerlich ist, hat er das Bedürfnis zu rauchen.
Erst heute Morgen in aller Herrgottsfrühe hat er durch das Schlafzimmerfenster beobachten können, wie der Nachbar von oben, die durch den Sturm heruntergefallenen Nüsse aufgesammelt hat.
Jeder im Haus weiß, dass es sein Baum und folglich auch seine Nüsse sind. Aber genau dieser Tatsache verdankt er es, dass sich die Mieter im Haus einen Sport daraus machen, ihn zu bestehlen. Im letzten Jahr habe sogar einige Mieter des Nachts unter Zuhilfenahme von Taschenlampen die Nüsse aufgelesen.
Gesindel, alles Gesindel, denkt der andere und schaut durch die Ritzen des Zauns, der neben dem Nussbaum sein ganzer Stolz ist, auf die Straße. Der Zaun ist eine Eigenkonstruktion aus alten Jalousien, die einen Blick nach draußen möglich, einen Einblick aber unmöglich machen.
Gleich werden sie kommen, wie jeden Freitag, denkt er, vollbepackt mit Lebensmitteln und Alkohol, gut gerüstet für das Wochenende. Die übervollen Plastiktüten, die Bierkästen, der Wein und der Schnaps sind doch nur ein Zeichen ihrer Angst, nicht über das Wochenende zu kommen. Gleich werden sie kommen, vorfahren, wie jeden Freitag, in meine Einfahrt werden sie sich stellen, obwohl sie genau wissen, dass es verboten ist. Nacheinander werden sie die Einfahrt blockieren und ihre Tüten und Kästen in ihre Wohnungen schleifen. Montagmorgen werden die Mülleimer überfüllt sein. Er kann dann wieder alles herunterdrücken, muss in die stinkenden Tonnen steigen, damit es bis Mittwoch, wenn die Müllabfuhr kommt, ausreicht. Rückwärts werden die Mieter einparken, den Auspuff direkt an den Zaun setzen und noch einmal Gas geben.
Die Zigarette ist bis zum Filter geraucht, wird mit einer gekonnten Daumendrehung ausgedrückt, bevor er aufsteht und in die Wohnung geht, um seine Polaroidkamera zu holen. Er spielt schon lange mit dem Gedanken seine Nachbarn anzuzeigen. Die Fotos sollen ihm als Beweismittel vor Gericht dienen.
Seiner Schwester ist diese Art von Vorfällen vollkommen egal. Sie wohnt außerhalb der Stadt und kümmert sich wenig um das Haus. Nur im Sommer kommt sie in regelmäßigen Abständen, um Blumen, die er über das ganze Jahr pflegt, zu schneiden.
Die Polaroidkamera hat er von seiner Schwester zu Weihnachten bekommen, damit er bei eventuellen Schäden, beispielsweise bei einem Wasserrohrbruch, Fotos machen kann, als Beweismittel für die Versicherung. Seine Schwester schenkt ihm nur Dinge, die auch nützlich für das Haus und somit steuerlich absetzbar sind. Zum Geburtstag eine Bohrmaschine, zum Namenstag ein Spannungsprüfer und zu Weihnachten besagte Polaroidkamera.
Die Polaroidfotos von den falsch geparkten Autos der Nachbarn in seiner Einfahrt kommen in einen extra gekennzeichneten Karton mit der Aufschrift Freitag.
Auch von den überfüllten Mülltonnen mit dem nicht getrennten Unrat hat er im Laufe der Zeit Fotos gemacht, die im Karton mit der Aufschrift Montag aufbewahrt sind.
Der andere ist ein ordnungsliebender Mensch. Eine Veranlagung, die man auf den Vater zurückführen kann. Der Vater, Beamter in einer Bundesbehörde, ist bis zu seiner Pensionierung für die Archivierung zuständig gewesen. Zwar sind auch damals schon alle Daten elektronisch auf großen Magnetbändern gespeichert worden, aber, wohl um auf Nummer sicher zu gehen, hat man die Suchkartei, den so genannten Suchkeller, nicht aufgegeben.
Die Suchkartei besteht aus zwei großen Kellergewölben, die während des letzten Krieges als Luftschutzräume genutzt worden sind. In der Abteilung I sind die Akten nach Kennziffern sortiert, in der Abteilung II nach Namen.
Früher haben in den Semesterferien Studenten im so genannten Suchkeller ausgeholfen. Aber in den letzten Jahren vor seinem Ruhestand sind auch diese nicht mehr gekommen. Überhaupt hat der Vater den Eindruck, dass die Bundesbehörde seinen Keller, dem er vorsteht, vergessen hat. Immer mehr verbringt der Vater allein seine Zeit in der Suchkartei. Selbst in den Mittagspausen bleibt er immer häufiger unten. Zuhause spürt nicht nur die Frau, sondern auch die beiden Kinder die Veränderung. Der Vater spricht nicht mehr, sondern beginnt damit Kartons zu sammeln und zu beschriften. Erst schenkt niemand in der Familie dem Bedeutung. Was ist schon dabei, seine Kontoauszüge und Versicherungsunterlagen geordnet in beschrifteten Kartons zu lagern?
Die Mutter befällt ein befremdliches Gefühl erst, als der Vater auch für sie Kartons anlegt. Einen mit der Aufschrift Haushaltsgeräte und ihre Bedienungsanleitungen, ein anderer mit dem Titel Küchenrezepte. Auch die Kinder bekommen ihre eigenen Pappschachteln. Hervorzuheben sind unter anderem die Kartons mit der Aufschrift Lob und Freude und Enttäuschungen.
Für den Vater besteht kein Zweifel, dass er gebraucht wird. Ist er doch der einzige in der ganzen Bundesbehörde, der beide Abteilungen der Suchkartei ohne Mühen miteinander verbinden kann. Mit seiner Fähigkeit, Zahlenkombinationen sofort mit dem jeweiligen richtigen Namen in Verbindung zu setzen und fast blind die jeweilige Akte aus einem der unzähligen Regale ziehen zu können, hätte der Vater im Varieté auftreten können. So wenigstens lobt ihn sein Vorgesetzter bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand.
Gully oder die Pfütze des Zufalls
Alle Rechte bei Johannes Wierz
1.
Ein endlos scheinendes Meer, an einem beliebigen Punkt, schwarzgrau das Wasser, Wellen steigen, übertreffen in ihrer Größe Hochhäuser. Die Natur hat ihr Spielzeug gefunden. Die Natur spielt mit sich selber. An den Rändern der Schaumkronen scheint die Farbe des Wassers ins türkis zu gehen. Ein schöner Kontrast zu den weißen Schaumkrönchen obenauf. Zum Land hin bekommt das Wasser einen blasseren Ton. Blau setzt sich durch, bis das Wasser leise den Sandstrand hoch läuft.
Ein Ohnmächtiger im Outfit eines Schiffbrüchigen könnte jetzt im feinen Sand liegen. Die nackten Beine, die aus der ausgefransten Hose lugen, werden vom Wasser umspült. Ein Stück Treibholz neben dem Kopf macht sich immer gut.
Bevor die Flut kommt, wird der ohnmächtige Schiffbrüchige von einem armen Fischermädchen gefunden. Naturgemäß hat er sein Gedächtnis verloren und wird von dem Mädchen gesund gepflegt. Am Schluss aber weiß er wieder wer er ist und heiratet die arme Fischertochter.
Solche Geschichten enden immer da, wo die Probleme erst beginnen.
In der Realität ist alles anders. Ein Besoffener verlässt die Kneipe, stürzt unglücklich, fällt in eine Pfütze mit Regenbogenrand, denkt vielleicht noch, schmeckt aber komisch, und ertrinkt.
Die Kinder weinen. Eine Frau atmet auf. Ein halbes Zimmer mehr und der Gestank wäre endlich aus der Bude.
Wenn man trinkt, sollte man einen großen Bogen um Pfützen machen. Vor richtigen Säuferkneipen gibt es keine Pfützen. Da kann es noch so geregnet haben. In den Straßen können sich die ersten Grachten gebildet haben. Die Rampe vor dem Eingang ist knochentrocken. Nicht umsonst heißt die schmierige Hütte: Schwemme. Glatteis im Winter, vor der Schwemme nicht, da ist ganzjährig alles trocken.
»Scheiße«, so beginne ich den Dialog mit der Welt, denn ich bin in eine Pfütze getreten. Meine hellen Wildlederschuhe saugen alles auf. Die Küchenrolle, der Tampon, sie haben keine Chance. Meine hellen Wildlederschuhe sind Siegertypen. Entweder war Moses Alkoholiker oder er trug helle Wildlederschuhe. Vielleicht braucht man auch beides, um ein Meer zu teilen.
Ich stehe jedenfalls mit voll gesogenen Schuhen vor einer Tür, in deren Kopfhöhe ein kleines Türchen angebracht ist.
Wer mit vierzig Jahren noch keine Mark auf die Seite gebracht hat, vom Euro oder Dollar ganz zu schweigen, ist ein Idiot oder Schriftsteller.
Mit dreißig Jahren dachte ich schon, ich wäre beides.
Seit drei Jahren lebte ich in diesem Loch und hatte das Gefühl von der Außenwelt nicht mehr wahrgenommen zu werden.
Mit neunzehn Jahren hätte ich alles darum gegeben, hier wohnen zu dürfen. Mit neunzehn Jahren bezeichnete man mich als hoffnungsvolles Talent, selbst das Prädikat Jahrhunderttalent wurde mir bescheinigt.
Ab dem dreißigsten Lebensjahr kam es mir vor, als würde der Abreißkalender auf meinem Klo von selbst dünner werden. Und zwar nicht Tag für Tag, sondern Sekunde um Sekunde.
Das morgendliche Geschäft, nach Genuss der ersten Zigarette, noch nicht ganz erledigt, ich wollte mich gerade erheben, da sah ich, dass schon wieder ein Monat vergangen war.
Wie ein Preisausschreibenjunkie brachte ich damals meine dicken Manuskripte zur Post, unterstützte so ein Staatsunternehmen und sorgte später durch meine ungeheuren Portokosten für einen gesunden Start in eine Aktiengesellschaft. Hätte ich damals statt Briefmarken in Aktien investiert, wer weiß, wo ich heute mein geschwollenes Haupt betten würde.
Ich war so weit heruntergekommen mit dreiunddreißig Jahren, dass ich keinerlei Drogen mehr bedurfte, um meine Birne weich zu bekommen. Ein Monat laues schwammiges Weißbrot aus den Containern der einschlägigen Großhandelsketten und man kommt auf einen ganz besonderen Trip. Vielleicht lag es auch an den Schimmelpilzen, aber diese Erforschung in Bezug auf das Weichmachen von Hirnen überlasse ich gern arbeitslosen Naturwissenschaftlern, die ja zuhauf ratlos durch die Gegend laufen sollen.
Mit vierunddreißig Jahren verkauft längst ein arbeitsloser, ein aus der Universität nie hinausgekommener, akademischer Verlierer das Geoabo an der Tür und verdrängt so den Exknasti mit seiner Praline.
Mit dreiunddreißig Jahren war die Prosa nur Hunger, nur Durst, war alle Enthaltung so viel geworden, dass ich der felsenfesten Überzeugung war, dass im Grunde die Verlage ausschließlich von den unaufgeforderten eingesandten Manuskriptbergen lebten. Ich bildete mir ein, dass Tausende von Menschen jeden Tag zur Post gingen, um ihre literarischen Ergüsse zu verschicken. Bestes Papier hervorragend geeignet zum Recyceln. In jedem, der unzähligen Copyshops, in denen ich seinerzeit auftauchte, mehr als hundert Seiten gleich fünf Mal kopierte, sah ich ein verkanntes Schriftstellergenie. Unterernährt wie ich, mit weicher Birne, hervorgerufen zum Teil auch durch die Tonerabsonderung der Kopierer und der Klebstoffzusammensetzung der Briefmarken.
Bei jedem Postüberfall, bei dem ausschließlich Briefmarken und große Umschläge geklaut worden waren, schreckte ich auf. Wieder hatte einer dieser unzähligen anonymen Schriftsteller, die sich wie Bakterien über das ganze Land vermehrten, keinen anderen Ausweg mehr gewusst.
Es war doch nur eine Frage der Zeit, dass ich soweit war.
Unterernährt wie ich mit dreiunddreißig Jahren war, fand ich selbst in der Gastronomie oder in Krankenhäusern als dritter Spüler keine Anstellung mehr. Unvermittelbar war das Ergebnis, was mein schwammiges, in Fieberschweiß schwimmendes Gehirn dazu veranlasste, mein Loch nicht mehr zu verlassen. Einzige Ausnahme, die täglichen Streifzüge zu den Containern der einschlägigen Großhandelsketten.
Schnell stellte es sich für mich heraus, dass es nächtens überhaupt keinen Sinn machte, nach etwas Essbarem zu suchen. Die Konkurrenz war einfach zu groß. Neben Katzen, streunenden Hunden, dem Wachpersonal, das immer brutaler wurde, kamen auch noch Typen hinzu, denen es ähnlich ging wie mir, aber im Gegenteil zu mir, vor Gewalt nicht zurückschreckten.
«Musst du ausgerechnet jetzt schreiben?«, fragt meine Frau Heidi, in ihrer seltsamen so eigenen Sprache, die ich so liebe.
Eigentlich gibt es nichts, was ich an ihr nicht liebe. Ja, ich bin ein glücklicher Mensch. Ein zu beneidender ekelhaft glücklicher Mensch.
Aber hier an diesem Ort werde ich von niemand beneidet. Im Gegenteil, man lächelt mir anerkennend zu und schaut unverblümt auf den geilsten Busen der Welt. Heidis Brüste kennen keine BHs. Sie sind groß und prall. Selbst die dünnste Membran hätte keine Chance von ihnen festgehalten zu werden. Vor zehn Jahren gehörte Heidi noch zur Olympiaauswahl der Synchronschwimmerinnen. Ihre Figur, die braune Haut mit dem blonden Flaum rauben mir immer noch den Atem.
Mein Blick fällt nach rechts und ich schaue wie hypnotisiert auf ihre Brustwarzen, die sich mehr als deutlich unter ihrem hautengen Glitzerkleid eines italo-amerikanischen Designers hervorheben.
»Die Leute schauen schon«, zischt sie, »gerade heute musst du doch nicht den Schriftsteller heraushängen lassen.«
Wenn nicht heute, wann dann, fährt es mir durch den Kopf. Heute ist doch mein Tag. Gleich werden sie meinen Namen aufrufen und ein Bild von mir zeigen. Der Kamerakran wird sich mir auf bedrohliche Weise nähern, damit mich die ganze Welt sehen kann, sozusagen als Beweisstück, dass es mich wirklich gibt.
«Niemand schreibt mehr mit der Hand«, flüstert Santor, der links von mir sitzt.
Santor ist Ungar, wie er behauptet, aber ich glaube ihm kein Wort. Santor ist eine Mischung aus allem. Eine Kreuzung zwischen Straßenköter und Strandhund. In Santor stecken die Gene der ganzen Welt. Vielleicht ist es ja doch möglich, dass mehrere Männer eine Frau befruchten können. Mit Santor könnte ich das auf jedem Genetikerkongress beweisen. Santor ist das Ergebnis eines übergroßen Spermacocktails, den sich seine Mutter reingepfiffen haben muss.
Jeder Mensch hat seine Legende. Also bleibt es dabei. Santor ist Ungar und mein Manager. Alle juristischen und finanziellen Dinge erledigt er. So hat sich seit meiner Geburt im Grunde nichts verändert. Ich besitze nach wie vor keine müde Mark, geschweige denn Euros oder Dollars.
Mit dreiunddreißig Jahren war ich von Schimmel und Mikroben umgeben. in meinem Badezimmer hatten sich dieselben Kulturen angesiedelt wie fünfzig Meter tiefer in der Kanalisation. Mein Bett, das ohnehin immer feucht war, roch wie ein Partykeller aus den siebziger Jahren, der mehrmals von Hochwasser oder zumindest von geplatzten, falsch angestochenen Bierfässern heimgesucht worden war.
Außer Büchern, Manuskripten, Ordner mit Ablehnungsschreiben und defekten Schreibmaschinen besaß ich nichts. Keine Frage, meine Wohnung stank.
Selbst die bekiffteste oder besoffenste Thekenschlampe hätte sich nicht mehr in meine vier Wände verirrt.
Sechsundneunzig Parteien hatte mein Wohnsilo und in einem der heruntergekommenen Wohnklos wurde immer gevögelt. Das Bad mit der Kölner Lüftung, - anfangs mein Zufluchtsort vor den dünnen Wänden -, brachte nichts. Alles musste ich schonungslos mit anhören. Unzählige Abende mit der Bolero-Musik von Ravel in den unterschiedlichsten Versionen. Aber das Gestöhne fing meist erst an, wenn der Tonarm sich diskret auf die Gabel zurückgezogen hatte. Das Aufreißen einer Kondompackung, selbst das Überziehen, meine Ohren waren gezwungen live dabei zu sein.
Ich war der felsenfesten Überzeugung, dass selbst meine Einzeller im Bad sich in diesen Augenblicken wünschten, Säugetiere zu sein.
Es gab Notstände, wo ich kurz davor war, in die Steckdose zu wichsen, um meinem Martyrium ein Ende zu setzen.
Gerade jetzt, wo es spannend wird, reißt mir Santor meinen Block aus den Händen. Heidi öffnet mit zarter Gewalt meine rechte Hand und fischt meinen Füller heraus, den sie in ihrem zauberhaften Dekolleté verschwinden lässt.
»Wehe du lächelst jetzt nicht«, zischt Santor.
Für alle unsichtbar hat sich Heidis Hand unter meiner Smokingjacke ihren Weg zu meinen Rippen gebahnt.
Der Kamerakran nähert sich mir auf bedrohliche Weise. Heidi massiert meine Rippenknochen. Santor macht das Victoryzeichen und zeigt mit der anderen Hand auf mich.
Ich lächle. Ja, ich lächle wie blöde und kann es nicht fassen.
»The winner is....«
Zum ersten Mal höre ich von einer ausgebildeten Stanislawski Schülerin meinen Namen auf amerikanisch. Das klingt so seltsam, dass ich mich überhaupt nicht angesprochen fühle, also auch gar keine Anstalten mache, aufzustehen, nach vorne zu gehen und den Preis entgegen zu nehmen.
»Shit«, zischt Santor.
»Liebling, du musst aufstehen und nach vorne.«
Die Welt starrt mich an, dass ich das dringende Bedürfnis habe mit einem Kosmonauten den Platz in der MIR oder anderen Schrotteilen, die im All herumfliegen, zu tauschen.
Wie ferngesteuert erhebe ich mich und schaue nur in glückliche Gesichter. Kollegen reichen mir die Hand und wollen mir auf meinen verschwitzten Smokingrücken klopfen, dem ich aber geschickt ausweiche.
Federnden Schrittes geht es die Stufen zwischen den Sitzreihen herunter. Um mich herum nur glückliche Gesichter.
Die Bühne erklimme ich wie ein Zehnkämpfer nach dem Gewinn der Goldmedaille.
Überall grelles Licht, so hell, dass ich mich nicht wundern würde, wenn mir Petrus plötzlich entgegentritt, um mir den großen Schlüssel zu überreichen.
Vielleicht in Erwartung dieses großen Mannes mit Bart habe ich zu spät die schimmernde Pfütze vor dem Rednerpult gesehen. Ich trete voll hinein und lege mich dann der Länge nach hin, nachdem mir die Schauspielerin, die den versiegelten Umschlag geöffnet hat, mir unverhofft auf die Schulter klopft. Beißender Geruch, denke ich. Meine Nase taucht zur Gänze in die schimmernde Pfütze ein und schon verliere ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, trage ich Weiß, halte in meinen verkabelten Händen ein vergoldetes Männchen ohne Geschlechtsteile. Unentwegt piept es.
»Mach doch einer dieses gottverdammte Handy aus«, stöhne ich.
Meine Lippen schmecken säuerlich bitter. In der Nase immer noch diesen beißenden Gestank.
»Was ist passiert?«, frage ich ohne meine Augen zu öffnen.
»Die Zeitungen sind voll von dir. Es gibt keine Fernsehstation in der Welt, die nicht über dich berichtet hat«, höre ich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache sagen.
»Du bist in die Geschichte eingegangen. Du bist der erste, der die Trophäe bewusstlos in Empfang genommen hat!«
»Bullshit«, flucht im Hintergrund Santor.
»Du bist ein Held!«
»Leider, kein Studio wird uns mehr anrufen!«
»Der deutsche Botschafter hat Blumen geschickt und wünscht gute Besserung. Auch war der Anwalt der Schauspielerin da. Bevor wir erwägen zu klagen, bietet er uns einen Vergleich über zwanzig Millionen an.«
Mir ist das alles zu viel. Ich höre auf das gleichmäßige Piepen. Wenn das kein Handy ist, kann es sich nur um meine Eingeweide handeln, die sich elektronisch zu Wort melden.
So lange es piept, lebe ich noch. Ein beruhigendes Gefühl.
»Du bist in einer Pfütze ausgerutscht«, flüstert mir Heidi zu und drückt mir ihre heiße Wange ans Gesicht.
»Die Preisträgerin, die für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden ist, leidet an Blasenschwäche, so ihr Anwalt.«
Geahnt habe ich es schon längst, von Anfang an, als mir der beißende Geruch in die Nase gestiegen ist und ich die kleinen Fettaugen gesehen habe, die obenauf schwammen. Jetzt, durch die Gewissheit, weiß mein Körper sich nicht anders zu wehren, als sich vom Mageninhalt zu befreien.
Ich breche, nein, ich kotze, was das Zeug hält. Ich würge, ich verkrampfe, ich weine, würge, würge, um auch den letzten Tropfen dieser alternden fast scheintoten Schaupielerfregatte aus meinem Körper zu bekommen.
Nie Kokain genommen und doch sind jetzt meine Nasenwände verätzt, für immer verloren, denke ich und falle in einen tiefen Schlaf.
Ich kenne meine Träume. Realistisch von Anfang bis Ende. Anstatt in ein Koma zu fallen, werde ich so wieder heimgesucht.
Da liege ich also auf dem Boden und schaue auf einen halbgeschlossenen Frauenschuh.
Ein Geruch von gefärbten Italoleder, einer süßlichen Salbe und schwitzenden Füßen, hervorgerufen durch einen hartnäckigen Pilz, bahnt sich seinen Weg in meine Nebenhöhlen.
Was gäbe ich darum, noch Polypen zu haben, in der Hoffnung, die Dinger könnten den Geruch vielleicht stoppen, zumindest aber filtern.
Der Anblick des blauroten Aderdeltas gemischt mit weißem Schorf nicht ertragend, schaue ich nach oben ins ungewisse Dunkle. Ich orientiere mich an den Krampfadern, die so dick sind wie Aufzugsstahlseile.
Ein beißender Geruch, eine Mischung aus Verwesung, Alkohol, verbranntem Plastik und hochgiftigen Medikamenten dringt in meine Nase.
Viel zu spät bemerke ich das Rinnsal. Und als ich es bemerke, ist daraus längst ein Wasserfall geworden. Unverblümt gehen in meine Richtung Gase ab.
Aus innerer Not heraus weiß ich mir nicht anders zu helfen und zünde das Feuerzeug, um Licht in die Dunkelheit zu bringen.
Über mir eine gewaltige Explosion.
Ich gehe in Deckung, werde aber von riesigen Fleischstücken getroffen. Eine harte Leber streift zum Glück nur meinen Kopf. Eine Perücke landet neben mir. Gebogene starre Augenwimpern bohren sich wie Akupunkturnadeln in meinen Rücken. Da folgt ein Gebiss, das an meinem Hintern abprallt und zur Seite kullert. Das Auge, das genau vor meinem Gesicht zum Liegen gekommen ist, starrt mich an. Ich drehe mich auf den Rücken und schon kommen sie geflogen, diese dicken Dinger, die ich wie ein Baseballspieler fange. Implantate der dritten Generation.
Ein langer warmer Kuss holt mich rechtzeitig zurück ins Leben.
Mit beiden Händen halte ich Heidis wunderbaren Synchronschwimmerbusen. Ich spüre, wie ihr Herz schlägt. Das ist die Wirklichkeit.
Verschämt lasse ich los.
»Hast du wieder einen Alpentraum gehabt?«, fragt mich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache.
»Alptraum, mein Schatz. Es heißt Alptraum.«
Erst jetzt registriere ich, dass wir uns in unserem Strandhaus in der Nähe von Santa Barbara befinden.
Mein Krankenbett hat man direkt an das große Panoramafenster gerollt, von wo aus ich einen wunderbaren Blick auf das Meer habe
Mit dreiunddreißig Jahren war ich anderes gewohnt. Da flogen nach einem verpatzten Fußballspiel der Nationalmannschaft Fernseher aus dem Fenster oder vor Beginn der Sommerferien kleine Hunde oder Katzen aus dem zwölften Stock des gegenüberliegenden Wohnsilos. Ein paar vertrocknete, ausgehungerte Rentner versuchten denselben Weg, wurden aber meist im zehnten Stock auf die Balkone geweht.
So einfach ist das nicht, aus dem Leben zu scheiden.
Die Löffel kann man ins Pfandhaus tragen, solange sie nicht aus Blech oder Plastik sind. Aber sich wirklich den letzten Rest aus einem schwammigen Hirn zu pusten, dazu gehört schon mehr.
Der Hausmeister, der mir bei meinem Einzug die gebrauchte Klobrille montiert hatte, erzählte irgendwann, nachdem fünften oder zehnten Bierchen, als die Flasche Bauernstolz auch nichts mehr hergab, dass einer aus dem vierzehnten Stock, den Strick um den Hals vom Balkon gesprungen ist und eine Etage tiefer, seine letzten Zuckungen hatte. Es aber immerhin noch geschafft hatte mit seinem unkontrollierten Urinstrahl, den Holzkohlegrill der Familie Grabowsky auszulöschen.
Für mich keine Frage, wessen Nachfolger ich in Bezug auf die Klobrille war.
Eine Woche nach meinem Einzug erlebte ich die erste Zwangsräumung. Ich lag im Bett, schlief oder träumte irgendetwas Aufmunterndes, da knackte es laut von allen Seiten, so als ob Knochen gebrochen würden. Es war aber nur Holz, was ich beruhigend feststellen konnte, als ich schlaftaumelnd zu meinem Türgucki schlich und in Fischaugenperspektive beobachten konnte, wie Typen in braunen Overalls in der gegenüberliegenden Wohnung, die komplette Einrichtung aus dem Fenster warfen. Nur die Stereoanlage, der Fernseher und das immense Leergut hielten sie zurück.
Ich nahm eine meiner beiden Matratzen und lehnte sie gegen die Tür, um den Lärm zu mildern. Dann schlurfte ich zurück ins warme Bett.
Eine Woche nach meinem Einzug wollte ich von der Realität nichts wissen.
Natürlich las ich damals die Zeitungen, bekam auch mit, wie die Arbeitslosenzahlen immer mehr in die Höhe schossen, obwohl gleichzeitig immer mehr Familienväter sich und ihre Frauen und Kinder gewaltsam auslöschten.
Noch aber war mein Bett warm, von Feuchtigkeit keine Spur und meine Schreibmaschine funktionierte.
»Sie müssen sich in der Akademie vertan haben. Du bist der erste, der auf Anhieb gewonnen hat. So viele Feinde haben wir auch nicht, dass sie uns so etwas antun würden«, klagt Santor.
»Ich will nur meine Ruhe habe«, stöhne ich wehleidig.
»Die nächsten Jahre werden wir von der Substanz leben müssen. Darauf gilt es sich einzustellen.«
»Du vergisst die zwanzig Millionen Dollar Schmerzensgeld.«
»Vielleicht ist mit einem guten Anwaltsbüro das Doppelte herauszuholen?«
Heidi, die ohnehin meine Gedanken lesen kann, zieht aus ihrem zauberhaften Dekolleté meinen Stift, worauf Santor auch nicht anders kann, als mir den Block zurückzugeben.
Durch die Fernbedienung an der Seite verstelle ich das Kopfende meines Krankenbettes bis ich aufrecht sitze.
Vor mir die Brandung des Meeres.
Ein endlos scheinendes Meer, aber das hatten wir ja schon.
2.
Mit achtundzwanzig Jahren war ich endlich so weit, um die Spielklasse zu wechseln. Aus Arbeitslosengeld wurde Arbeitslosenhilfe. Ein kleiner Schritt für die Verwaltung, aber gegen alle Erwartungen ein noch kleinerer für mich.
Ich war endlich da, wo ich hinwollte. Endlich hatte ich meine Ruhe, war mit meiner Schreibmaschine allein und eine wunderbare Liebesbeziehung konnte beginnen.
Ich nahm mir vor, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Aus der Distanz heraus wollte ich schreiben, ohne ständige Musikberieselung und dummen Sprüchen, billigem Parfüm und aufdringlichen Alkoholfahnen.
Das, was ich tagsüber, aber auch nächtens, durch meine Steckdose, die dünnen Wände und nicht zu vergessen die Kölner Lüftung hörte, reichte aus für mehrere Romane. Außerdem hatte ich noch das Nachtglas mit dem ich von meinem Balkon aus eine wunderbare Aussicht auf die Fenster des gegenüberliegenden Wohnsilos hatte, die die Wirklichkeit zu genüge widerspiegelten.
Eines Nachts, zu Beginn meiner schöpferischen Phase, kam ich auf die geniale Idee, morgens gegen drei Uhr meinen Müll nach unten zu bringen.
Allein das minutenlange Warten auf den Aufzug hätte mich stutzig machen müssen. Ich rauchte eine Kippe bis weit über den Tabak hinaus, zündete mir an der glimmenden Watte eine Neue an, die ich dann, als der Aufzug endlich auf meiner Etage hielt, auf dem Glas des Feuermelders ausdrückte.
Die Lifttür öffnete sich und im selben Moment drückten ungefähr zehn zahnlose aschfahle Typen mit Mülltüten in ihren zittrigen Händen ihre selbst gedrehten dünnen Zigaretten auf dem PVC-Boden aus.
Als einziger nicht Zahnloser, auch war mein Äußeres zu diesem Zeitpunkt noch recht gepflegt, hielten sie mich wohl für eine Art Respektsperson.
Ich tat so, als wollte ich nur nächtens kontrollieren, ob der Fahrstuhl ginge und gab mit der freien Hand ein Zeichen zur Weiterfahrt, wie ein Fahrgast an der Haltestelle beim Auftauchen des falschen Linienbusses.
Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, da befand ich mich bereits auf der Feuertreppe und lief wie ein Wahnsinniger nach unten.
Natürlich war unten im Parterre der Notausgang verschlossen, zumindest vermutete ich das, denn ab den letzten fünfzig Stufen war kein Durchkommen mehr.
Bis zur Decke stapelten sich die Mülltüten. Ich warf meine dazu und stieg keuchend, wie ein Fisch an Land nach Luft schnappend, wieder nach oben.
Im zehnten Stock angekommen, öffnete ich mit zittriger Hand meine Wohnungstür und taumelte in mein Wohnklo, wo ich vor meiner ersten Schreibmaschine, die ich als Kind geschenkt bekommen hatte, völlig entkräftet zu Boden kam. Eine alte Continental mit runden Tasten. Die Muckibude unter den Schreibmaschinen.
Angefangen hatte eigentlich alles in der Pubertät, in der Phase, wo meine Schulkameraden zu Karnickeln mutierten, nur ich irgendwie nicht. Vielleicht hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon zu viele Bücher gelesen und war so folglich für das Leben versaut. Ich wollte reden, Händchen halten und wartete gespannt darauf, dass auch mich die große Liebe erfassen und ich alsbald wie ein Heliumballon vom Boden abheben würde.
Nichts dergleichen geschah. Bleischwer saß ich auf meinem Stuhl, ähnlich wie im Sportunterricht, wo ich auch nur als letzter unter murren der Mannschaft, der ich zugeteilt wurde, mich erheben durfte.
Auf den Partys jedenfalls blieb ich immer allein sitzen.
Bis dato gab es nur zwei Möglichkeiten, um über diese Abende zu kommen. Entweder Musik auflegen, was meist von dem Jungen mit der stärksten Akne erledigt wurde oder als Kurierfahrer Kneipen und Tanken abfahren, um den Getränkenachschub zu gewährleisten.
Beides kam für mich überhaupt nicht in Betracht. Einfach diesen Veranstaltungen fern zu bleiben, auf die Idee kam ich nicht.
Natürlich stellte ich mir damals schon die Frage, zu welcher Minderheit ich eigentlich gehörte. Es musste ja einen Grund geben, warum diese Zicken mit mir keinen Blues tanzen wollten. Vielleicht hätte ich eins der kleinen Biester ansprechen sollen, die mir das Leben so schwer machten.
Nach kurzer Überlegung, entschied ich mich für die aristokratische Lösung.
Die Königin von England war damals auf Besuch. Sie zwinkerte mir durch den Fernseher zu und machte mich dadurch insgeheim zu ihrem Ritter.
Nicht ausgelebte Hormonstöße haben wohl dieselbe Wirkung wie Drogen.
Natürlich musste noch die Frage beantwortet werden, welchem Tätigkeitsfeld ich mich zu widmen hätte.
Drachen töten, kam nicht in Betracht, dafür war die Königin von England damals schon zu alt. Außerdem hieß es, dass Englands Drachen in der Gewerkschaft seien und nur noch selten auftraten. Ich aber suchte eher nach einer ganzjährigen Beschäftigung. Polospieler (mit Pferden hatte ich es nicht so), Wohltätigkeit (meine Taschen waren damals schon leer). Ich entschied mich nach kurzer Überlegung fürs Schreiben.
Draußen auf den Straßen tanzte der Bär, der kurz davor war, ein kleines Ei zu legen. Startbahnwest und Gorleben zu weit weg und außerdem machte mich das Danke beim Slogan Atomkraft nein danke ziemlich misstrauisch.
Während die anderen in meinem Alter ihren Trieben freien Lauf ließen und in den Rammelpausen Joints und Alkohol in sich hineinpfiffen, saß ich auf den alten Plüschsofas, den Block in den Händen und schrieb, immer die Angst im Gesäß, gleich könnte sich die Feder einen Weg durch den abgewetzten Stoff bahnen.
Lyrik und Lieder waren das erste, was ich zu Papier brachte. Ein paar Griffe auf der Gitarre konnte ich und die Liedermacher hatten allerorts Oberwasser.
Eine Aneinanderreihung von Wörtern, die in kleinen Blöcken schnell eine Seite füllten und vor allem bei den Mädchen für Aufmerksamkeit sorgten.
Was brauchte ich ein Mofa, einen Roller, ein Auto, bei der Fülle an Gedichten, die entstanden.
Draußen auf der Straße machte es unterdessen Plop und das Taubenei war gelegt.
Unten in den Partykellern verklärte leuchtende Augen mit einem Wasserfilm. Nach jedem Drink oder Joint etwas schwammiger bis hin zu einem rötlichen Schimmer.
Ein endlos scheinendes Meer, das stetig die Farbe wechselt, bis sich das rötliche Tuch der untergehenden Sonne zur Gänze vor meinen Augen verteilt hat.
Aufrecht in einem Krankenbett in einem Strandhaus, das den Namen eigentlich nicht verdient, in der Nähe von Santa Barbara, zu sitzen, ist eine Sache, gleichzeitig auch noch zu schreiben, eine andere. Die Kräfte lassen nach und mir brummt der Schädel.
Ich machte Abitur, gestand auf der Abschlussfeier einer Mitschülerin meine Gefühle, worauf sie nur in ein schallendes Gelächter ausbrach.
Als sie mir sagte, dass ich mich verpissen sollte, blieb ich wie angewurzelt vor ihr stehen, beobachte, wie die Farbe aus ihrem geschminkten Gesicht wich, als sie mein Ding sah. Gern hätte ich es ihr in voller Pracht präsentiert, aufrecht und stolz, aristokratisch eben.
Immerhin war sie das erste weibliche Wesen, mit Ausnahme meiner Hebamme und meiner Mutter, die meine bis dato nutzlose Männlichkeit zu Gesicht bekam.
Irgendwo hatte es in meinem Hirn bei dem Wort verpissen Klick gemacht. Im Grunde nahm ich sie ja nur beim Wort.
Da ich schon einige Bierchen intus hatte, traf sie ein heller schaumiger Strahl. Ich versuchte ein Muster auf ihrem Kleid, aber sie drehte sich ab, was ihr nicht viel nutzte. Mein Tank war voll und der Druck ausreichend.
Ich folgte ihr auch noch aufs Klo, wo sie einen Weinkrampf bekam und sich zu allem Überfluss auch noch übergab.
Pick, Pick, das Ei bekam Risse und ein kleiner zerzauster Vogel entstieg der zerbrochenen Schale.
In der Universität hatte ich dann alles Geisteswissenschaftliche bis auf Theologie belegt.
Die Gesellschaft durchlebte mal wieder einen Wandel, wie es hieß. Es gab Stellenanzeigen in denen Sozialpädagogen, -arbeiter, selbst Soziologen und Germanisten noch zuhauf gesucht wurden. Institute wurden gegründet, Projekte, Bürgerzentren aus der Taufe gehoben. Zwar gab es Hausbesetzungen, aber der Bär hatte sich längst in seine Höhle verkrochen, was ein paar wenige nicht glauben wollten und immer noch unermüdlich vor allen Ein- und Ausgängen der Uni und der Mensa ihre Klassenkampf ideologisch gefärbten Flugblätter verteilten, wie die Brüder und Schwestern der Zeugen Jehovas.
Dabei mauserte sich die kleine Friedenstaube immer mehr zu einem ausgewachsenen Vogel.
Da Frauen zu diesem Zeitpunkt noch andere Prioritäten setzten, waren die Männer in meiner Fakultät in der Minderheit, was mir natürlich zum Vorteil geriet.
Der Heliumballon wollte zwar immer noch nicht starten, aber mich kurzfristig als kalifornischer Wellenreiter zu betätigen, gefiel mir in Anbetracht all dieser schönen wohlgeformten Wellen auch nicht schlecht.
So ließ ich mich vom Wasser tragen und erlebte mit jeder neuen Welle einen neuen Höhepunkt.
Rundherum ein schönes Bild, hätte es draußen am Haupteingang zum Campus nicht diesen Bücherkarren gegeben.
Ich war den Büchern, die mich für das Leben versaut hatten, treu geblieben. Vielleicht aus Dankbarkeit, immerhin hatten sie mich vor der Pubertät und ihrer Folgeschäden bewahrt. Die Akne war mit ihrer übermächtigen Streitmacht an Pickeln spurlos an mir vorbeigezogen. Auch war mir das erste Mal erspart geblieben, von dem man sagt, dass man voller Wehmut im hohen Alter noch daran denken würde, vor allem beim halbstündigen schmerzlichen Wasserlassen.
Für mich war jedes Mal das erste Mal und ich hoffte insgeheim, das, bis zum Ende meiner Tage, durchhalten zu können.
Mit der Dankbarkeit, noch einmal davon gekommen zu sein und der Leichtigkeit des Wellenreiters ging ich unbedarft auf die Holzbude zu und kaufte ab und zu ein paar Raritäten.
Kurz bevor der Bücherkarren in meinem Bewusstsein die Stelle eines Kiosk einnahm, an dem man die täglichen Wegwerfzeitung kaufte wie ein Ritual, kam ich mit dem Mann ins Gespräch, der bei Wind und Wetter bei seinen Büchern war, wie ein Hirte bei seiner Herde.
»Da habe ich auch mal studiert«, sagte er wie eine Erfolgsmeldung und fügte hinzu, dass er gerade an seiner Doktorarbeit schreiben würde.
Ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob ich die rollende Bude nicht übernehmen könnte, da sah ich eine wunderbare, gut erhaltene Gesamtausgabe von Kleist aus den zwanziger Jahren, die bei mir die Gier nach Besitzstand auslöste.
»Was soll die kosten?«, fragte ich den angehenden Herrn Doktor.
»Eigentlich unverkäuflich«, kam es knapp aus ihm heraus, als wollte er mir sagen, dass ich stattdessen eine Niere von ihm haben könnte.
»Und, warum steht sie denn da?«
»Als Blickfang.«
»Unsinn!«
»Seit sie da steht, habe ich mehr Kunden.«
An diesem Tag ließ ich ihn in Ruhe, obwohl mich seine Antworten nicht im Geringsten befriedigt hatten.
Das sie hätte mich stutzig machen müssen.
Später kamen wir dann doch ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er seit zehn Jahren an seiner Doktorarbeit schreiben würde. Sein Thema war die Deutung des berühmtesten Auslassungszeichens aus Die Marquise von O...
»Du weißt schon«, sagte er und tat so beflissentlich, als ob ich zu den Eingeweihten gehörte. Dabei war ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mit Kleist vertraut, hatte ich doch gerade meine Lern- und Lehrstunden als Wellenreiter.
Immer wieder nahm ich mir vor, mich mit Kleist zu beschäftigen, um mich mit dem Hirten der Bücher über Die Marquise von O... unterhalten zu können. Aber dazu kam es nie.
Eines Tages war die wunderbare, gut erhaltene Gesamtausgabe von Kleist aus den zwanziger Jahren aus dem Regal verschwunden und mit ihr auch der Hirte.
»Verkauft«, sagte knapp der neue Mann an der rollenden Bude, der eher ins Flohmarktgeschäft oder in eine Pommesbude gepasst hätte.
Zwei Wochen später erfuhr ich, dass sich der Hirt, nachdem er erfahren hatte, dass seine Gesamtausgabe verkauft worden war, von seinem letzten Geld eine Fahrkarte nach Berlin gelöst und sich am Wannsee, an derselben Stelle wie Kleist, erschossen hatte.
»Solch eine Geschichte kannst nur du erzählen«, sagt Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache und macht Anstalten sich zu mir ins Bett zu legen.
»Die Anrufe aus Europa häufen sich. Allein aus Deutschland über fünfzig Anfragen«, ruft Santor aus einem Nebenraum.
»Wilder hat ein Telegramm geschickt, soll ich es dir vorlesen?«
»Und was ist mit der Dietrich und der Garbo?«
»Dafür liebe ich dich«, sagt lachend Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache, presst ihre feuchten Lippen auf meinen spröden Mund und vertreibt endgültig den bitteren Geschmack der alten Schauspielerfregatte.
»Woody Allen will seine Preise zurückgeben, kommt gerade in den News«, schreit Santor aus dem Nebenraum.
»Er gibt gerade ein Interview. Hört euch das an. Er beschuldigt uns, ihm seinen Plot geklaut zu haben. Das mit der Pfütze auf der Bühne sei angeblich auf seinem Mist gewachsen. Bullshit! Jetzt ist unser Marktwert ins Unendliche gestiegen! Uns wird nie mehr ein Studio anrufen!«
»Ich glaube ich bekomme Fieber«, flüstere ich Heidi ins Ohr.
Eine Gänsehaut zumindest habe ich bereits.
Heidi legt sich zu mir. Ich spüre ihren Körper, der sich an den meinen schmiegt.
Ich schließe die Augen und höre die Brandung, die abends stärker wird.
Mit dem lauten Brandungsgeräusch taucht auch wieder dieser Schiffbrüchige auf. Jeder andere hätte das Unglück nicht überlebt, aber der Arsch steht auf und schleppt sich taumelnd an den rettenden Strand. Was für eine Kunst, im sicheren feinen Sand in Ohnmacht zu fallen.
Schneller als ich eigentlich wollte, war mein Studium zu Ende.
Gut, die Ansprüche, die an mich gerichtet wurden, waren nicht sehr hoch gewesen, aber ein, zwei Jahre hätte das Wellenreiten ruhig noch dauern können.
Als ich mit meinem Diplom in der Hand in irgendeiner, der unzähligen hölzernen Studentenkneipen meinen Erfolg begoss, hatte ich schon verloren, nur wusste ich das damals noch nicht.
Die Welt stand mir offen. Ich hatte die Möglichkeit, mich um schwer verhaltensgestörte Kinder, Schulabbrecher, Arbeitslose, Obdachlose, Junkies und, und, und, zu kümmern.
Ich entschied mich für den Babystrich der Stadt, der damals der größte der Republik war. Das ich dort alle Zielgruppen auf einmal antreffen würde, entsprach meinem Hang zum Glück.
Aber wundern, entsprach sowieso meinem Naturell.
Da war Gabi, gerade mal dreizehn Jahre alt. Ein Freier hatte ihr auf einem abgelegenen Parkplatz befohlen, auszusteigen und ihren Kopf durch das Beifahrerfenster zu stecken. In Sekundenschnelle hatte das Schwein das Fenster hochgekurbelt, und die kleine Gabi war gefangen.
Nachdem er sich ausgiebig mit ihrem kleinen zarten dreizehnjährigen Hinterteil vergnügt hatte, trat er ihr vom Fahrersitz alle Frontzähne aus, weil sie nicht aufhören wollte zu schreien.
Jetzt war Gabi mit ihren dreizehn Jahren der Geheimtipp für altfranzsösisch in der Szene.
»Ich hatte echt Glück gehabt«, sagte Gabi und zeigte grinsend ihre riesige Lücke, »die Tine dagegen hat es echt erwischt.«
Tine war erst seit vier Tagen wieder auf der Straße. Sie war zwölf, sah aber älter aus als ihre Mutter, die sie an Arbeiter einer Großbaustelle vermietet hatte.
Zwei Wochen war Tine in den Wohncontainern gewesen und als man sie völlig entkräftet am Bauzaun gefunden hatte, war mehr als ein stummes Weinen nicht aus ihr herauszubekommen. Seit dem zuckte sie mit den Augen und konnte den Mund nicht mehr geschlossen halten.
»Das Leben hört mit dreizehn auf«, sagte Zora, deren Spezialität es war, den Männern im Bahnhofskino einen zu blasen und gleichzeitig den beiden Nebenmännern einen runter zu holen.
»Nach dreizehn kommt nur noch der Abspann«, sagte Zora, gurgelte sich die Mundhöhle aus und schmiss anschließend ein paar Tabletten ein.
Ich war völlig fehl am Platz. Dauernd hatte ich wegen der Mädchen Ärger mit der Bahnpolizei, weil der Strich hinter dem Bahnhof lag. Die Drogenfahnder wollten mich als Käufer, Spitzel oder sonst was benutzen, naturgemäß ohne Rückendeckung. Außerdem nahm ich immer wieder Mädchen mit zu mir nach Hause, damit sie sich waschen und für ein paar Stunden zumindest zur Ruhe kommen konnten.
Naturgemäß klauten sie mir auch Geld, aber das war nicht wichtig. Viel schlimmer war die Arroganz der Ämter, die von mir verlangten, die Mädchen zu registrieren, auszuhorchen und in irgendwelche geschlossenen Anstalten zu verfrachten, wo sie ohnehin nach ein paar Tagen wieder ausbrechen würden.
Als mir dann auf einer Arbeitsbesprechung meine Vorgesetzte, eine dicke Matrone, die ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht hatte, mir den Vorwurf machte, ich fördere die Kinderprostitution und hätte wahrscheinlich selbst etwas mit den Mädchen, schmiss ich alles hin. Zum Abschied kaufte ich den Kindern ein paar Sachen, die sie am nötigsten brauchten.
Ein paar Küsse, die ich nicht wegwischte, ein paar Tränen, und ich stand mit einem Mal vor dem Hauptportal des Bahnhofs wie ein gerade neu Angekommener.
Ein paar Mal noch sah ich die Mädchen wieder. Sie zwinkerten mir von der anderen Straßenseite zu, bevor sie in die Wagen der Freier stiegen.
Wochenlang tat ich nichts. Ich frequentierte die verschiedensten Kneipen und versuchte die Ungerechtigkeit der Welt im Alkohol zu ertränken. Meine Mundwinkel wuchsen langsam nach unten. Je wieder mit einer Frau schlafen zu können, schien mir unmöglich. Ich besann mich meiner alten Continental, kaufte Papier und versuchte meine rauen Gedanken in eine Form zu bringen.
Ich rieche die Hand meiner Frau, die zärtlich über mein Gesicht fährt.
Das TNT auf ihrer Haut hat bei mir dieselbe Wirkung wie Riechsalz.
Ich öffne die Augen und schon ist der Schiffbrüchige verschwunden.
»Wie schön du bist«, sage ich leise.
Sie versteht ohnehin kein Wort, lächelt aber sanft und zeigt mir einen kleinen Teil ihrer riesengroßen Zähne.
An jedem beliebigen Punkt der Erde könnten wir sein. Ein Gedanke, der so schön ist, dass ich ihn auf keinen Fall aufschreiben darf.
In einer Nebenstraße
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
ERSTER TAG
1.
Es war ein kühler Spätsommermorgen, als der achtzigjährige Schreinermeister Frederik mit seinem Reisigbesen die Gosse von ersten welken Blättern befreite. Immer wieder richtete er sich auf, hielt sich am Besen fest und betrachtete sein zweistöckiges Haus, Lohn eines harten, über sechzigjährigen Arbeitslebens.
In der Mansardenwohnung brannte bereits Licht. Rainer Demuth war nach ihm der erste, der um Punkt 6.00 Uhr aufstand, wie jeden Tag. Pflichtbewusst vom Scheitel bis zur Sohle, dachte Herr Frederik nicht ganz ohne Wehmut, denn seine Tochter, die über ihm wohnte, war mit ihren fünfundvierzig Jahren immer noch nicht verheiratet. Rainer Demuth war einundfünfzig, ledig und Chefprogrammierer der größten Versicherung der Stadt, die erst vor kurzem von einem schweizerischen Konsortium aufgekauft worden war. Er trank nicht, rauchte nicht und führte auch sonst ein unauffälliges, solides Leben.
Frederik paffte genüsslich an seiner Zigarre, eigentlicher Grund seines frühmorgendlichen Tuns. Letztlich konnten die Blätter in der Gosse und auf dem Gehsteig meterhoch liegen, doch auf seine morgendliche Zigarre, diese ungestörte blaue halbe Stunde eines beginnenden Tages, wollte er auf keine Fall verzichten. Im ganzen Haus, eingeschlossen Garten und Vorgarten, herrschte striktes Rauchverbot. Seine Frau, deren Schlafzimmer nach hinten heraus ging, hätte dieses Verbot am liebsten auf die ganze Stadt ausgedehnt. Zum Glück schlief sie noch, was dem anbrechenden Tag einen Hauch von Freiheit verlieh.
In der kleinen Nebenstraße, die von einer größeren, zweispurigen Straße abzweigte, befanden sich auf Herrn Frederiks Seite achtundzwanzig Häuser, auf der Gegenseite sechsunddreißig, meist zwei- bis dreistöckige Mietshäuser, mit Ein- bis Dreizimmerwohnungen. Die schöneren Häuser mit gepflegten Vorgärten und adrettem Fassadenanstrich: das war seine Seite. Aber mittendrin in dieser Idylle von Gartenzwergen, Silberkugeln und grünlackierten Fensterläden klaffte ein großes Loch. Hier hatte über hundert Jahre lang eine große Schreinerei gestanden, die ein Bulldozer in zwei Tagen abgerissen und Platz für mindestens acht Häuser geschaffen hatte: ein Millionenvermögen, in einer nach Wohnraum lechzenden Stadt.
„Beste Wohngegend, vor allem wo ihre Schreinerei nicht mehr da ist. Der zukünftige Herr Bräutigam ist wirklich zu beneiden“, hatte ihm der Notar gesagt, als er den Schriftsatz aufsetzte, der Frederiks Tochter im Fall ihrer Heirat als Alleinbegünstigte für das Grundstück bestimmte.
Da immer noch kein Mann in Sicht war, musste zweimal im Jahr eine Gartenbaukolonne anrücken, um das plattgewalzte Grundstück von meterhohem Unkraut zu befreien.
Zu seiner Zeit, dachte Herr Frederik, hätten die Männer Schlange gestanden, um bei ihm um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Sicher war sein einziges Kind nicht gerade eine Schönheit, aber hätte das früher irgendjemanden interessiert? Damals spielten im Leben ganz andere Werte eine Rolle. Heutzutage dagegen, ja, da musste alles grell und ausgefallen daherkommen, schick musste es sein. Das hatte er nicht zuletzt am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Auf der großen Hauptstraße, die den Stadtteil hier durchtrennte, hatte es einst acht Gaststätten gegeben. Und jede von Ihnen hatte Herr Frederik als Besitzer der Schreinerei gern besucht, es war seine Art der persönlichen Kundenbetreuung gewesen. Mit Kaffee und einem Likör, meist einem Kosakenkaffee, hatte er am unteren Ende im Lindenhof angefangen und spät am Abend im Lachenden Eck mit einer Frikadelle und einem letzten Bier aufgehört.
Während der Ölkrise in den siebziger Jahren hatte das große Kneipensterben begonnen, was zur Folge hatte, dass die vielen kleinen Brauereien der Stadt fusioniert hatten und am Ende nur noch eine große mächtige Brauerei übrig geblieben war - die wiederum ein paar Jahre später von einer größeren Aktienbrauerei geschluckt wurde. Aus den restlichen vier Gaststätten mit warmer Küche hatten sich zwei in dubiose Studentenkneipen verwandelt, deren äußeres Erkennungszeichen darin bestand, dass die Fenster mit brauner Farbe überstrichen waren. Allerdings stieg zeitgleich die Nachfrage nach unbehandelten Hölzern niedriger Wahl, am besten noch mit Rinde und vielen Astlöchern, so dass Frederik seinen Betrieb um eine Holzhandlung erweitert hatte.
Wegen der Studenten, die plötzlich die Hauptstraße bevölkerten, hatten zwei Metzgereien, fünf Einzelhandelsgeschäfte, der Schuster, die Glaserei, drei Bäckereien, ein Hut- und Schirmmacher, die Schneiderei und das Fotogeschäft mit eigenem Atelier schließen müssen. Die leerstehenden Geschäfte erfuhren dann rasch die übliche Verwandlung, äußeres Kennzeichen: braungestrichene Fenster.
Bis es Ende der siebziger Jahre auf der Hauptstraße acht neue Kneipen, fünf Trödelläden und zwei Fotokopierläden gab.
Für Herrn Frederik waren nur zwei Lokale übrig geblieben, in denen er - auch er erlag den Veränderungen - einen Schoppen Wein trank und dazu ein Käsebrot mit daumendickem Gouda verzehrte, auf dessen stumpfer gelblicher Oberfläche in der Mitte wie ein aufgebahrter Leichnam eine Salzstange gelegen hatte, berieselt mit Neuschnee aus Rosenpaprika. Herr Frederik hatte es geschafft, auf zusätzlichen drei Zwiebelringen zu bestehen, die Anfang der achtziger Jahre schon nicht mehr selbstverständlich waren.
Jetzt, zwanzig Jahre später, gab es überhaupt keine bürgerliche Kneipe mehr, in die er sich setzen konnte. Dafür gab es zwei Bäckereiketten mit Bistrobereich und zwei Kebabbuden und einen Gyrosimbiss, in denen man einen alten Mann wie ihn gern als Gast bediente.
Während sich alles in der Welt pausenlos veränderte, hatte Herr Frederik das Gefühl, dass in seinem Haus alles beim Alten geblieben war. Sämtliche Möbel, mit Ausnahme der Küche und des Fernsehschranks, waren aus den fünfziger Jahren. Auch die möblierte Wohnung, in der sein Mieter lebte, war aus dieser Zeit.
„Ich mag es solide“, hatte Rainer Demuth bei der Besichtigung gesagt und für zwei Monate im Voraus die Miete bezahlt, obwohl es in den engen Räumen so stickig war, als ob dort jahrelang nicht mehr gelüftet worden wäre. Dafür war selbst in der Küche alle vorhanden: Töpfe, Geschirr und Besteck. Sogar ein Abtropfsieb stand auf der Ablage der Keramikspüle.
„Sie müssen nicht selbst kochen“, hatte Herr Frederik Herrn Demuth nicht ohne bestimmte Absichten zum Einzug gesagt, „meine Frau und meine Tochter sind ausgezeichnete Köchinnen.“
Dabei hatte er wie zum Beweis seinen gewaltigen Bauch herausgestreckt. In all den Jahren, in denen Demuth nun in diesem Haus wohnte, hatte er dieses kulinarische Angebot jedoch kein einziges Mal für sich in Anspruch genommen. Aber auch die eigene Küche schien der Untermieter nicht zu nutzen, denn in dem Hausmüll, den Demuth einmal die Woche unten in die Mülltonne warf, befanden sich seltsamerweise keinerlei Essensreste.
Die Zigarre war bis zur Hälfte herunter geraucht, da öffnete sich unten die Tür, und Demuth verließ, zusammen mit seinem dunkelgrauen Herrenrad, das Haus. Die dünnen rötlichen Haare zur Seite gekämmt, die frischpolierten Brillengläser, die seine Augen riesengroß erscheinen ließen, auf der Nase. Der braune Anzug sowie das blaue Hemd mit brauner Krawatte, ließen ihn als Einzelgänger erscheinen, der keinerlei Modetrends unterlag.
Herr Frederik grüßte freundlich, winkte mit seiner glimmenden Zigarre und wünschte einen guten Tag, während Demuth damit beschäftigt war, den Schlag seiner Hose, den eine Bügelfalte akkurat durchzog, auf die Seite zu legen, um die Fahrradklammer anzulegen. Wie jeden Morgen klingelte er einmal und fuhr mit gleichmäßigen Tritten auf die Hauptstraße zu.
Herr Frederik paffte weiter an seiner Zigarre und stützte sich auf den Besenstil. Dabei beobachtete er den Zeitungsboten, der nun endlich auch sein Haus erreicht hatte.
„Mal wieder spät dran, was?“, nuschelte Frederik mit der Zigarre im Mund. Der Bote hingegen grüßte freundlich im Vorbeigehen, als hätte er ihn nicht verstanden.
Herr Frederik stellte den Besen zwischen die Mülltonnen, richtete seinen Schreinerkittel und begab sich Richtung Hauptstraße, auf der der Berufsverkehr inzwischen zugenommen hatte. Die Hände auf dem Rücken schlenderte er paffend die Straße hinunter. Er ließ sich Zeit dabei, denn vor 7.00 Uhr würden die Großbäckereien ihre Filialen nicht beliefert haben.
Früher, ja früher, da konnte er um 5.30 Uhr bei seinem alten Freund Blum durch die Hintertür in die Backstube gehen und sich ein warmes Brötchen aus dem handgeflochtenen Weidenkorb nehmen, dachte er während seines Spaziergangs.
„Handwerk hat goldenen Boden“ stand auf der Stickerei, die neben dem großen Backofen hing. Die Keramikverschlüsse der Bierflaschen ploppten und man prostete sich zu. Sechs Angestellte hatte der Blum und das in nur einer Bäckerei.
Wahrlich, goldene Zeiten. In der Schreinerei Frederik hatten in den sechziger Jahren bis zu achtundvierzig Menschen gearbeitet. Er selbst stand damals seiner Innung vor und war Mitglied der Industrie- und Handelskammer gewesen. Lehrlinge, Gesellen, bis zu acht Leute wohnten in seinem Haus. Nichts hatte er ihnen dafür berechnet, sie mussten nur ab und zu an den Wochenenden die Werkstatt aufräumen und die Firmenwagen putzen. Für den damals ansässigen Fußball- und Handballverein hatte er die Trikots bezahlt und für die Renovierung der Kirche einige große Scheine in den Klingelbeutel gelegt. All das hatte er nie an die große Glocke gehängt. Nein, er war eher ein Mann der leisen Töne. Es sei denn, es wurde Karten gespielt oder auf der Kegelbahn Runden ausgeworfen. Auch im Männergesangsverein hatte er mit seinem kräftigen Bass so laut werden können, dass die Tenöre irritiert zu ihm herüber schauten und der schwäbische Chorleiter Schäufle mit seinem Stöckchen, das Frederik in seiner Schreinerei von Hand angefertigt hatte, abklopfen musste. Der Blum und der Schäufle, was hatten die saufen können: standfest bis zur Haustür. Und wenn dann noch der Metzgermeister Tarnat für eine Lokalrunde sein künstliches Auge auf den Tisch gelegt hatte - worauf die Bedienung jedes Mal ihr Tablett fallen ließ - war die Stimmung kaum noch zu bremsen gewesen.
Versunken in seine Erinnerungen, schritt Herr Frederik, die Hände auf dem Rücken, paffend die Hauptstraße entlang und atmete den herrlichen Duft seiner Zigarre ein.
*
Rainer Demuth ließ sein Fahrrad auf dem großen Parkplatz vor dem Versicherungsgebäude ausrollen. Wie an jedem Arbeitstag war er eine Viertelstunde zu früh. An einem dafür vorgesehenen Gitter sicherte er mit einer schweren Eisenkette sein Fahrrad und betrat über die große Granittreppe den gewaltigen Verwaltungskomplex. Der Empfang mit seinen vielen Kontrollmonitoren war unbesetzt. Auf dem dritten von links konnte er sich in einem blaugrauen Licht über den polierten Marmorboden gehen sehen. Eine gefährlich glatte Oberfläche, auf der schon so manche weibliche Mitarbeiterin ausgerutscht war. Wie gut, dass er sich mit Haftungsfragen nicht auseinanderzusetzen hatte. Er betrat den Aufzug und holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, der mit einer versilberten Kette an der Gürtelschlaufe gesichert war, und steckte ihn in das Schloss. Dann drückte er auf den blinkenden Knopf. Mit einem leichten Ruck setzte sich der Aufzug in das dritte Untergeschoss in Bewegung, zu dem nur wenige autorisierte Personen Zutritt hatten.
„Hier sitzt das Herz der Versicherung“, wie sein Vorgesetzter immer zu sagen pflegte, wenn er Mitglieder des Vorstandes durch die unendlich scheinenden Gänge führte. Vorbei an Panzerglaswänden hinter denen sich klobige Kästen befanden, an denen kleine Diodenlampen in verschiedenen Farben flackerten. Seinem Vorgesetzten sowie den oft wechselnden Mitgliedern des Vorstands, die nicht die geringsten Kenntnisse besaßen, wie so ein komplexer Rechner funktionierte, und nur das große Ganze im Augen hatten, gaben diese kleinen blinkenden Lämpchen das Gefühl, dass im Herzen ihres Konzerns auch gearbeitet wurde. Eine der größten Rechneranlagen des Landes als Herz zu bezeichnen, wäre sicherlich eine philosophische Betrachtung wert gewesen, aber Demuth dachte nicht daran, sich von solchen Gedanken aufs Glatteis führen zu lassen. Tatsache war, dass er jeden Tag achteinhalb Stunden in einem Tiefkeller verbringen musste, der weder Tageslicht noch Außenluft hereinließ.
In der Anfangszeit hatte er sich oft in den Weltraum geträumt, wenn er die neonlichtdurchfluteten, endlos scheinenden Gänge der Versicherung durchschritten hatte. Aber das lag nur daran, dass er im Kino einen Film von Stanley Kubrik gesehen hatte. Die Abende verbrachte er immer zu Hause. Er liebte es, alle Fenster seiner Mansardenwohnung zu öffnen, in den Sternenhimmel zu starren, ohne dabei wirklich Wesentliches zu denken. Über die Antenne seines Weltempfängers empfing er auf Kurzwelle Signaltöne, die so schwach klangen, als kämen sie vom anderen Ende der Welt.
Rainer Demuth betrat sein Büro, das einem Irrtum gleichkam. Jede Toilette, selbst die Abstellkammern des Reinigungspersonals, waren größer, in diesem gigantischen Koloss aus Stahl, Beton und Glas, der mehr als achthundert Menschen einen Arbeitsplatz bot. Als Chefprogrammierer stand ihm eigentlich das große Glasbüro - von allen nur Aquarium genannt - am Ende des Mittelgangs gegenüber dem Aufzug zu. Aber nichts war ihm mehr zuwider, als beobachtet zu werden. Im Unscheinbaren lag seine Kraft. Fast immer wurde er bei internen Feiern, wie Geburtstagen oder Ausständen, einfach in seiner Kammer vergessen, was er durchaus nicht als unangenehm empfand. Er konnte dem Kollektiv an aufgesetzter Fröhlichkeit nichts abgewinnen. Freunde hatte er unter den Kollegen sowieso nicht, mit Ausnahme vielleicht von Patzek. Mit Patzek hatte er immerhin schon mehre Male den Kantinentisch geteilt. Auch war er einmal dessen Einladung gefolgt, mit ihm einen Freitagabend zu verbringen. Aus reiner Neugier hatte er die Bitte nicht ausgeschlagen und war mit ihm von einer Kneipe in die nächste gezogen, bis man letztendlich in einem Klub gelandet war, in dem die Mädchen leicht bekleidet waren und außer Champagner nichts zu sich nahmen. Demuth war sich auch an diesem unsäglichen Abend treu geblieben und hatte nur stilles Wasser getrunken, obwohl der Preis dafür um ein vielfaches höher war als anderswo. Hinzukam, dass in dieser Lokalität das stille Wasser direkt aus dem Wasserhahn abgefüllt wurde. Er hatte es mit Gleichmut genommen. Patzek aber hatte Champagner bestellt und gleich zwei zierlichen Osteuropäerinnen an den Hintern gepackt und war anschließend mit den Damen hinter Glasperlenvorhängen verschwunden. Demuth hatte keinerlei Interesse an dieser Art von Unterhaltung gezeigt. Eine Stunde später war Patzek in Unterhosen und in Begleitung eines kräftigen, hochgewachsenen Albaners wieder aufgetaucht und hatte ihn um Hilfe gebeten. Demuth sollte ihm für einen kurzen Moment die Kreditkarte leihen, was er auch ohne Zögern getan hatte. Am Ende des Monats stand es schwarz auf weiß auf seinem Kontoauszug: Patzek war ihm tausendfünfhundert Euro schuldig.
„Mensch Alter, ich steh fest in deiner Schuld“, hatte Patzek zu ihm gesagt. Er hatte nur stumm genickt und ihn beim Wort genommen. Eine innige Umarmung, sogar Küsse rechts und links auf die Wange und das Versprechen, solch einen tollen Abend doch alsbald zu wiederholen, folgten. All das erinnerte ihn jetzt an das große Rundschreiben der Geschäftsleitung von Anfang Oktober, in dem es hieß, dass man in diesem Jahr auf das Weihnachtsgeld verzichten müsse, dafür aber Vorzugsaktien zum halben Preis erwerben könne.
„In weniger als zehn Jahren bin ich Millionär“, hatte Patzek gesagt und ihm voller Stolz seine Zeichnungen präsentiert. Demuth hingegen hatte als einer der wenigen Mitarbeiter des großen Versicherungskonzerns keine Aktien erworben.
Demuth schaute auf die Uhr, die exakt 7.00 Uhr anzeigte, der Tag konnte also beginnen. Ähnlich ging es dem achtzigjährigen Herrn Frederik, der seinen Gang längs der Hauptstraße beendet hatte und nun mit einer Tüte industriell hergestellter Brötchen und zwei Schnäpsen intus, den Heimweg antrat. 7.00 Uhr zeigten auch die großen Zeiger der Normaluhr an der Bushaltestelle. In diesem Moment war seine Frau - zehn Jahre jünger als er -aufgestanden, hatte die Fenster und die Holzläden geöffnet und zu den Klängen von Max Greger mit lächerlichen Rumpfbeugen, Hals- und Beckenkreisungen begonnen. Sieben Minuten würde dieses alltägliche Ritual dauern, dann würde er die Haustür aufschließen und wie all’ die Jahre zuvor den sinnentleerten Satz „Ich bin wieder da!“ in den Hausflur schmettern.
*
Gegen 9.00 Uhr morgens ging ein Grunzen, Schnaufen und ein Gestampfe durch das ganze Haus. Der Kristallleuchter im Wohnzimmer wackelte leicht. Ein sicheres Zeichen dafür, dass jetzt auch die Tochter des Hauses aufgestanden war.
Herr Frederik fand sich im ledernen Ohrensessel wieder. Er musste eingeschlafen sein. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern. Er hatte die Wohnung betreten und war in die Küche gegangen, um die Brötchen in den Frühstückskorb zu schütten. Ab da wusste er nichts mehr. Sollte er wegen so einer Kleinigkeit seinen Hausarzt Dr. Gutewohl kontaktieren? Hatte er ihm doch in die Hand versprochen, ihn bei jeder noch so kleinsten Veränderung zu unterrichten. Er versuchte sich aufzurichten, aber eine Zentnerlast drückte ihn nach unten.
„Du hast wieder geraucht, und getrunken hast du auch“, hörte er seine Frau aus der Küche keifen. Seltsamerweise klang die Stimme viel gedämpfter als sonst, so als würde er bei der Kreissäge Schutzhörer tragen. Warum ist sie nur so geworden? Wie oft hatte er sich diese Frage gestellt. Mehr als fünfzig Jahre waren sie nun verheiratet, hatten Freud und Leid geteilt. Das schwere Drüsenfieber des Sohnes, drei Jahre hatten die Ärzte gegen seinen Tod gekämpft und gewonnen. Wie oft waren sie nachts angerufen worden und sofort ins Krankenhaus gefahren. Albert war das ein und alles der Mutter. Wenn er stirbt, verlasse ich dich! Warum sagt das eine Frau ihrem Mann gegen halb drei Uhr morgens auf einem kalten Krankenhausflur? Hatte er etwa diese heimtückische Krankheit erfunden? Damals schon hatte er den Eindruck gehabt, dass seine Frau mit dem Schicksal haderte - also auch mit Gott - und es stellvertretend an ihm ausließ. Warum stand er nicht einfach auf, ging in die Küche und haute mit seiner gewaltigen Schreinerpranke auf den Tisch. Er versuchte mit der rechten Hand eine Faust zu machen, aber sie gehorchte nicht mehr.
Frau Frederik hatte in einem gefütterten rosa Morgenmantel - von dem sie auch noch einen in hellblau und in lindgrün besaß - ihr Frühstück beendet. Der Platz gegenüber war leergeblieben. Dieser eigensinnige, sture Bock, dachte sie, aber wer nicht will, der hat schon. Sie stand auf und räumte den Frühstückstisch ab. Ein kurzer Blick auf die Küchenuhr verriet ihr, dass es Zeit war, mit der häuslichen Arbeit zu beginnen.
Nachdem alles wieder an seinem Platz war, entdeckte sie, wie jeden Morgen, die Brötchenkrümel auf der Wachstuchtischdecke. Es steckt eine Absicht dahinter. Es kann gar nicht anders sein, dachte Frau Frederik. Es bereitet ihm ein höllisches Vergnügen jeden Morgen frische Brötchen auf den Tisch zu stellen. Dabei wußte er doch genau, wie sehr sie Krümel hasste. Auf dem Küchentisch nahmen sie ihren Anfang, fielen auf den Linol boden, blieben an den Kleidern hängen und wurden durch das ganze Haus getragen. Mit Schrecken dachte sie an die bevorstehenden Wintermonate, wenn im ganzen Haus wieder eingeheizt werden würde. Dann konnte sie sich wieder doppelt und dreifach schlagen, um dem Staub wieder Herr zu werden.
Mit einem trotzigen Kopfschütteln wischte sie die Wachstuchtischdecke mit dem Zwiebelmuster ab, zog sich den weißen Haushaltskittel an und füllte den ersten Eimer mit heißem Wasser und einer Kappe Allzweckreiniger, der nach Limone roch. Frau Frederik schaute auf die offene Tür zum Wohnzimmer.
Albert war der Erstgeborene und hatte im Haus viele Spuren hinterlassen. Die Schwangerschaft seiner Frau hatte Herr Frederik in schöner Erinnerung. Es gab kaum eine Nacht, die er nicht in der Schreinerei verbracht hatte. Eine Wiege war das erste, was er für ihn mit eigener Hand zusammengezimmert hatte. Es folgte Holzspielzeug jeglicher Art, darunter ein Hampelmann, ein Schaukelpferd, eine Arche Noah mit mehr als dreihundert verschiedenen Tieren, ein Tretroller, ein Westernfort. Erst als Albert in die Schule gekommen war, ließen Frederiks nächtliche Aktivitäten in der Werkstatt nach, was zur Folge hatte, dass ein Jahr später Hildegard das Licht der Welt erblickte.
Die Erschütterung über ihm hatte nachgelassen. Seine Tochter hatte also mit den unsäglichen Gymnastikübungen aufgehört, die ohnehin außer Krach nichts brachten. Bei dem Übergewicht bedurfte es ganz anderer Aktivitäten. Aber Herr Frederik hatte längst aufgehört sich in die Angelegenheiten seiner Tochter einzumischen. Ein zweites Mal versuchte er jetzt, aus dem ledernen Ohrensessel hochzukommen, aber wie er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht.
*
Den ganzen Morgen hatte Rainer Demuth allein in seiner Kammer verbracht, ein paar Befehlszeilen in den Rechner eingegeben und auf ein erstes Resultat gewartet. Die Adressverwaltung und das individuelle Kundenprofil waren die Achillesferse des Versicherungskonzerns. Bei der Masse an Kunden würde es seiner Meinung nach ohnehin unmöglich sein, Dateien zu erstellen, die einen schnellen individuellen Zugriff gewährleisten könnten. Kinder wurden geboren. Ehen geschieden. Leute starben. Einige zogen in größere Wohnungen, andere verkleinerten sich oder waren unbekannt verzogen. Von oben hieß es immer nur: Fassen Sie mal alle Singles zusammen, mit dem und dem Jahreseinkommen, wohnhaft in der und der Stadt, in dem und dem Stadtteil, mit der und der Autoklasse ...!
Die Daten von heute, waren die Irrtümer von morgen, das war Demuths persönliche Meinung.
Ohne Anzuklopfen stand Patzek mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Tür.
„Na, altes Haus, hab’ dir eine Stärkung mitgebracht!“ grinste er und stellte ihm einen Becher auf den Tisch.
Demuth nahm unbedarft einen Schluck, obwohl er es hätte riechen müssen. Der Whisky brannte in seinem Rachen.
„Sind Sie verrückt geworden?“ brach es aus Demuth heraus.
„Immer noch Du Arschloch. Aber Spaß beiseite, heute in der Mittagspause ist doch das große Meeting, da will man doch gestärkt hineingehen, oder?“ witzelte Patzek und zündete sich eine Zigarette an, obwohl es verboten war.
Warum ziehe ich so einen Menschen an? Was habe ich an mir, dass ausgerechnet der mir meine Zeit stehlen muss? dachte Demuth.
„Was ich dich noch fragen wollte, kann ich vielleicht ein paar Wochen bei dir wohnen, mit meiner Freundin läuft es gerade nicht so gut.“
„Wie bitte?“ Demuth konnte so viel Dreistigkeit kaum fassen.
„Soll auch nicht dein Schaden sein!“ versprach Patzek mit einem Vertreterlächeln.
Deine Anwesenheit ist Schaden genug, dachte Demuth und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
„Wenn es dir nichts ausmacht, bring ich dir gleich meine Koffer. In meiner Abteilung schauen schon alle wie blöde und bei dir stören sie ja nicht“, sagte Patzek und verließ für einen kurzen Moment die Kammer, um gleich darauf mit zwei großen Schalenkoffern wieder hereinzukommen.
„Wo soll ich sie hinstellen?“ fragte er und begriff aber sofort die Lächerlichkeit seiner Frage angesichts des winzigen Raumes. So zuckte er nur mit den Schultern und nahm den fast vollen Kaffeebecher mit zurück in sein Büro.
Zum Glück war Patzek gegangen. Doch sein billiges süßes Rasierwasser und der Whisky hatten den kleinen Raum so in Beschlag genommen, dass Demuth nichts anderes übrig blieb, als aufzustehen und die Tür zu öffnen, was aber nicht so einfach war, musste er doch zuvor die beiden sperrigen Koffer überwinden.
Demuth vertrat sich ein wenig die Beine, ging den Gang auf und ab und schaute durch dicke Glasscheiben auf die Schreibtische und die Rücken seiner Kollegen. Jedes Mal, wenn er an einem der Fenster vorbeigekommen war, hatte er das Gefühl, als würden die Mitarbeiter ihm hinterherschauen. Unauffällig drehte er seinen Arm nach hinten und tastete mit der Hand seinen Rücken ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass Patzek ihm ein Schild mit einer anzüglichen Aufschrift auf die Jacke geklebt hätte. Das geilste Schwein vom Sparverein, prangte einmal während einer Präsentation in der Vorstandsetage auf dem Jackett seines besten Anzuges. Zum Glück hatte er sich kein einziges Mal während seiner Ausführungen umdrehen müssen. Erst beim Abbauen des Overheadprojektors hatte ihn die Sekretärin Frau Kluge darauf aufmerksam gemacht. Sie war die einzige Frau, die er kannte, der eine leichte Röte ins Gesicht stieg, wenn die Arbeitskollegen sie Fräulein nannten. Von Patzek wusste er, dass sie immer ihre Tage hatte, wenn eine Betriebsfeier oder der obligatorische Ausflug bevorstanden. Auch ging Gabriele Kluge nie allein in den unübersichtlichen Aktenkeller, sondern nahm immer einen Lehrling oder Praktikantin mit. Für Patzek war es daher unmöglich, bei ihr mal Einzulochen, wie er sich auszudrücken pflegte.
„Lade sie doch mal zum Essen ein oder geh mit ihr ins Kino“, war Demuths Rat gewesen, um endlich seine Ruhe zu haben, obwohl er damals schon wusste, dass sie einem solchen Angebot nie zustimmen würde.
„Da kann ich ja direkt ins Puff gehen“, war Patzeks missmutige Antwort gewesen.
Nachdem Rainer Demuth zweimal den langen Flur auf und ab gegangen war, kehrte er in sein Büro zurück. Eine verschlüsselte Nachricht lag auf dem Desktop seines Computers. Gabriele Kluge hatte ihm geschrieben und ihm mitgeteilt, wo sie ihre Mittagspause verbringen würde.
*
Die Lauge war schwarz, als Frau Frederik den Feudel auswrang. Was für ein Schmutz, und der nur vom Küchenboden. Was sollte bloß im Winter werden? Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie nicht die Küchenschränke von innen wischen sollte. Dann öffnete sie beherzt die Türen des Hängeschrankes. Der Monat war zwar noch nicht vorüber, aber heute war ihr einfach danach. Obwohl zierlich in Person wuchtete sie als erstes die hohen Stapel an unterschiedlichen Tellern aus dem untersten Fach und verteilte die Porzellanpyramiden über den ganzen Küchentisch. Dann nahm sie die Tassen, Brettchen und kleinen Schüsseln in Angriff.
In der Wohnung darüber schaltete die Tochter im Bad den Fernseher ein, bevor sie ihren opulenten Körper in die Duschkabine quetschte. Einen Spalt der Schiebetür ließ Hildegard auf, um ja nicht die Folge einer ihrer Lieblingsserien zu verpassen. Zwar lief diese Krankenhausserie schon in der dritten Wiederholung. Aber sie fand es immer wieder schön, mit Patienten, Ärzten und Krankenschwestern mitleiden und sich freuen zu können. Ihre milchige Haut verschwand fast zur Gänze unter dem Seifenschaum, den sie mehr als großzügig über ihren massigen Körper verteilt hatte. Zumindest an den Stellen, die sie mit ihren kurzen Armen erreichen konnte. Zudem plagte sie eine krankhafte Kurzatmigkeit, die es ihr verbot, sich zu bücken. Ihre gewaltigen Brüste, die schwer auf dem Bauch lagen, standen für einen Blick nach unten auf die Füße ohnehin im Weg. So konnte sie sich im Intimbereich nur blind waschen. Sie war von jeher ein kräftiges Kind gewesen. Schon als kleines Mädchen hatte der Vater sie mit in die Schreinerei genommen, anstatt sie mit Gleichaltrigen im Kindergarten spielen zu lassen. Das ganze Gelände mit seinen Werkstätten, Hallen und Kellern war für sie ein großer Abenteuerspielplatz gewesen. Jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken. Nur von den schweren Maschinen und dem Raum, in den die Holzspäne über ein ausgeklügeltes Rohrsystem geblasen wurden, musste sie sich fernhalten. Ansonsten hatte der Vater ihr freie Hand gelassen. So hatte sie, - schon bevor sie in die Schule gekommen war -, so geschickt mit Hobel und Beitel umgehen können wie manch ein Lehrling im Betrieb nicht. Auch die Säcke mit dem Abfallholz hatte sie stemmen können, wie ein Geselle. In der Schule war sie mit Abstand das kräftigste Kind gewesen, was sie am zweiten Tag auch gleich unter Beweis gestellt hatte. Ihr Sitznachbar, ein Junge mit Stoppelhaar-Frisur, hatte lautstark verkündet, dass er neben so einer dicken Kuh nicht sitzen wolle, worauf der Junge von ihr so eine Abreibung bekommen hatte, dass er im Krankenhaus zweimal genäht werden musste. In den Turnstunden war sie als erste in die Mannschaft gewählt worden, wenn es darum gegangen war, mit einem Medizinball die gegnerische Gruppe durch einen Körpertreffer zu dezimieren. Wenn sie den schweren, mit Holzwolle gefüllten Lederball geworfen hatte, war keiner lange auf seinen Beinen geblieben. Kegeln, hatte sie das genannt und breit gelächelt. Ihr lückenhaftes Gebiss war der Beweis dafür gewesen, dass sie sich gerade von den letzten Milchzähnen getrennt hatte. Doch zur Verwunderung aller Familienangehörigen hatten die anderen Zähne einfach nicht nachrücken wollen.
„Bei ihr geht es eben anders herum“, hatte der Vater in Anbetracht ihrer Körpergröße gesagt und kein weiteres Aufsehen darum gemacht. Die Mutter hingegen hatte mit ihr dann doch besorgt einen Zahnarzt aufgesucht, nachdem sie ihren elften Geburtstag gefeiert hatte. Der Doktor hatte zunächst nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sofort ein paar Fotos gemacht, die heute noch in vielen zahnmedizinischen Lehrbüchern abgebildet sind. Ihr tägliches Frühstück, Brot mit Butter und obenauf eine dicke Schicht Kristallzucker, war ihr zum Verhängnis geworden.
Die zweiten Zähne waren schon im Ansatz ihres Entstehens kariös und nicht mehr zu retten gewesen. Der Vater hatte im Gegensatz zur Mutter nur gelacht, den schweren Wonneproppen auf seinen Schoß genommen und gescherzt, dass sie jetzt eine medizinische Berühmtheit wäre. Dass ihr schmerzhafte Operationen bis ins Erwachsenenalter bevorstanden, hatte er ihr vorenthalten. Immer optimistisch nach vorne blickend, das war seine Natur, und sie bildete sich bis heute ein, gerade diese Charaktereigenschaft von ihm geerbt zu haben. Überhaupt fiel es ihr schwer, den Tränen freien Lauf zu lassen. Wenn sie nach einer Rauferei mit einem Jungen voller Blessuren aus der Schule heimgekommen war, hatte sie ein unbekanntes prickelndes Gefühl dabei empfunden, an ihren offenen Wunden herumzuspielen. Später in der Pubertät, als kein Junge sich mehr in ihre Nähe getraut hatte, hatte sie die Rasierklingen des Vaters für sich entdeckt. Aber das war bis heute ihr großes Geheimnis.
Stefan & Harry
Adele
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
( 1 ) VOR DEN TOREN DES FILMSTUDIOS AUSSEN/TAG
Der Himmel ist wie immer in diesem Landstrich: weiß-blau. Stefan und Harry gehen in ihren eleganten weißen Anzügen am Pförtnerhäuschen der Filmstudios vorbei und heben ihre weißen Hüte zum Gruß. Auf dem großen Filmgelände kommt ihnen eine Besuchergruppe entgegen. Photoapparate klicken. Vereinzelt zeigen Männer und Kinder mit Fingern auf Stefan und Harry. Frauen kreischen hysterisch. Stefan und Harry schauen sich kurz an. Mit eleganter, leicht lässiger Handbewegung werden von beiden die Sonnenbrillen hervorgeholt und aufgesetzt. Stefan und Harry sind ein eingespieltes Team. Aus dem anfangs forschen Gang wird ein leicht tänzelnder. Die Besuchergruppe löst sich auf. Aus der Traube wird ein Pfeil, der nur ein Ziel hat: Stefan und Harry.
Aus dem OFF eine energische Stimme: Halt!!! Halt!!!
Es ist nicht der Regisseur der hier die Szene unterbricht, um sie dann gleich zum x-ten Male wiederholen zu lassen. Nein, es ist der Pförtner, der unsere Ausweise sehen möchte.
Die Vorhut der anstürmenden Besuchergruppe kann in unseren Gesichtern nichts Bekanntes erkennen und ruft" das sind sie nicht" nach hinten, worauf die Besuchergruppe erst einmal ins Stocken gerät.
"Kommens mit ins Häusel", sagt unwirsch der Pförtner und ist sogar versucht, uns an unseren blassen ausgefransten Jacketts in sein Reich zu ziehen.
Der Traum scheint zerplatzt.
Jetzt, wo Stefan und ich in brütender Hitze den Pförtner beobachten, wie er unsere Namen mit denen seiner Liste vergleicht, habe ich Zeit, die ganze Geschichte von Anfang an zu erzählen.
Beginnen wir da, als sich die Wege von Stefan und Harry zum ersten Mal kreuzten.
Der Intendant eines größeren Stadttheaters, ich habe Stefan hoch und heilig versprechen müssen, keine Namen zu nennen, lud nach einer mittelmäßigen Aufführung zur Premierenfeier ein. Ich selbst, freier Mitarbeiter einer alternativen und folglich schlecht bezahlenden Stadtzeitung, hatte die undankbare Aufgabe, eine Kritik schreiben zu müssen. Der Intendant hatte selbst inszeniert, ein Erfolgsstück aus der vergangenen Theatersaison. Dieser Herr hatte eine ganz besondere Art der Regieführung. Heimlich fuhr er in regelmäßigen Abständen mit seiner Sekretärin in die nahe liegende Großstadt und besuchte dort jene Aufführungen, die in den Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen am meisten für Furore gesorgt hatten. Die Sekretärin mit einem dicken Schreibblock bewaffnet, hatte die Aufgabe jede noch so kleine Regieanweisung mitzuschreiben. Ein Jahr später dann brachte der Intendant unter Zuhilfenahme der handschriftlichen Notizen seiner Sekretärin das "Erfolgsstück" auf die Bühne. Das Ergebnis kann man sich vorstellen oder wie sagte einst unser Fußhallbundestrainer: "Ein guter Mittelstürmer macht noch lange keine Weltklassemannschaft aus".
Nun, über die soeben "geklaute" Inszenierung hätte ich höchstens zwei Zeilen schreiben können. Es sei denn, ich würde es wie die Kollegen von den hiesigen Blättern machen, die einfach die glänzenden Kritiken aus den überregionalen Zeitungen des vergangenen Jahres abkupferten. Heute bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass diese Herren mit dem Intendanten unter einer Decke steckten. Da ein freier Mitarbeiter nach Zeilen bezahlt wird, brauchte ich unbedingt Hintergrundinformationen. Ein Interview mit dem Hauptdarsteller oder der Hauptdarstellerin und ich könnte die ganze Sache auf eine Seite aufblasen. Auf Premierenfeiern heißt es erst einmal warten. Wie ja allgemein bekannt ist, kommen die Akteure erst dann, wenn das Büffet bis auf den letzten Happen leergeräumt ist. So beobachtete ich die kleine und große Stadtprominenz, selbsternannte Künstler und Künstlerinnen, Dichter mit dem Hang zur Betroffenheits- und Gebrauchslyrik und die eben erwähnten Kritiker mit dem Charme von Straßenbahnkontrolleuren. Drei bis vier Bisse und von der großen Hähnchenkeule bleiben nur die Knochen und ein fettiger Mund zurück. Als erster betrat der Dramaturg die Szenerie, grüßte nach allen Seiten und erntete von den Gästen ein mit vollen Backen eingeübtes Kopfnicken. Wahrscheinlich hatte man ihn aus den Garderoben hinausgeworfen. Dramaturgen sind ja für ihre triebhafte Spannerei bekannt. Jeder weiß, dass es im Zirkus verschiedene Arten von Clowns gibt, zum Beispiel: der Dumme August oder der Weißclown. Da Dramaturgen in der Regel von niemandem ernst genommen werden, spielen sie im Theaterbetrieb die Rolle des Clowns. Folglich haben auch sie sich eine immer gleich bleibende Maske sowie Kostüm zugelegt. Die am häufigsten auftretende Gattung ist der Schwarze Dramaturg. Seine Kleidung und seine Requisiten sind ausnahmslos schwarz. Selbst im Hochsommer tragen sie ihr schwarzes Seidenhemd mit schwarzem Anzug. Zu jener Zeit, als der Schwarze Dramaturg die Szenerie betrat und sich mit seinem schwarzen Taschentuch die perlnasse Stirn tupfte, war ich felsenfest davon überzeugt, kurz vor dem Durchbruch als Theaterdramatiker zu stehen und betrachtete meine Tätigkeit als freier Mitarbeiter einer alternativen Stadtzeitung nur als vorübergehend.
Fünfzehn verschiedene Stücke lagen bei dreimal so vielen Verlagen und ebenso vielen Theatern. Die meisten Manuskripte kamen jungfräulich also ungelesen zurück. So wechselte ich nur die Umschläge und ab ging die Post.
Ungeheure Summen gab ich damals für Kopien, Umschläge und Porto aus.
Nachdem ich die Achtung vor ihnen verloren hatte, ging ich bei den Dramaturgen, vor allem beim Schwarzen Dramaturg, anders vor. Ich lauerte ihnen in ihren Stammkneipen auf, überredete sie zur morgendlichen Stunde, so zwischen zwei und drei Uhr, meine Manuskripte doch wenigstens mal in die Hand zu nehmen und musste mir als Gegenleistung dafür ihre unglücklichen Liebesgeschichten anhören. Ausgerechnet die dicken, durch Alkohol aufgeschwemmten, immer nach Schweiß stinkenden Dramaturgen, die mir immer wie eine schlechte Karikatur von Rainer Werner Fassbinder vorkamen, verliebten sich in die jungen zarten Schauspielerinnen, die gerade frisch von den Schauspielschulen eingetroffen waren. Dabei sind die längst an den jugendlichen Liebhaber, den mit dem schmalen Oberlippenbart, der sich heimlich die Haare nachfärbt und dessen Jacketkronen so herrlich glänzen, dass man sich drin spiegeln kann, vergeben. Naturgemäß gibt es, wie im Zirkus der Dumme August und der Weißclown, im Theater noch eine zweite Gattung: Der Dynamische Dramaturg. Er kleidet sich meist im edlen Zwirn und ist der aktuellen Mode nicht abgeneigt. Obwohl er jedes Feinschmeckerlokal in der Umgebung von hundert Kilometern kennt, sind seine Bauchmuskeln fest und kein Gramm zu viel belastet seinen Körper. Jeder Dramatiker oder der, der es werden möchte, sollte sich vor dieser Gattung in Acht nehmen. Diese dynamischen Herren nämlich wechseln schneller das Theater, als dass ein Manuskript seinen Weg findet. Folgendes Telefongespräch, obwohl Jahre her, ist mir noch gut in Erinnerung:
"Gut, dass Sie anrufen. Ihr Manuskript? Ja, habe ich, liegt noch in einem der Umzugskartons. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie schwierig es war, eine adäquate Wohnung zu finden. Es wird Wochen dauern bis ich alle Kartons ausgepackt habe und alles an seinem Platz ist. Was? Sie haben das Manuskript auch hierher geschickt. Nun gut. Sicher werde ich hineinschauen. Aber, es wird eine Zeitlang dauern. Ja, ja, es fehlt an guten neuen jungen Dramatikern. Sie wissen ja gar nicht, was ich alles lesen muss. . . . "
Ein halbes Jahr, schon etwas unruhig geworden, rief ich unter derselben Telefonnummer an und lernte so seinen verständnisvollen Nachmieter kennen, der mir, mit dem Ausdruck des Bedauerns, den neuen Aufenthaltsort des Dramaturgen nicht sagen konnte.
Der Intendant und Regisseur betrat, nachdem nur noch verwelkte Petersiliensträußchen auf den Silbertabletts lagen, mit seinem Hofstaat die Szenerie. Er breitete die Arme aus, als wollte er sein Publikum segnen. Dieser kleine Regiestreich schien sogar zu funktionieren. Ein paar Gäste, die rechtzeitig einen Abstellplatz für ihre Teller und Gläser gefunden hatten, applaudierten. Die, die ihre Hände nicht rechtzeitig frei bekamen, nahmen noch einen kräftigen Schluck um die letzten Happen schnell hinunterzuspülen und schrieen: "Bravo, Bravo!"
Um mit dem Intendanten ein Interview zu machen, bräuchte ich mindestens zwei Stunden oder stärkere Ellenbogen. Denn schon war der Hausherr von einer Traube gutgenährter Premierengäste umlagert, selbst der Bürgermeister ließ es sich nicht nehmen, ihm persönlich die Hand zu schütteln.
Zufällig bemerkte ich, dass man das Fässchen Bier schon schräg hielt, um ihm die letzten Tropfen zu entlocken.
Vereinzelt kamen jetzt auch die Schauspieler hinzu. Zuerst die Männer, die meisten davon mit gerötetem glänzenden Gesicht und nassen Haaren, die nach hinten gekämmt waren. Vielleicht eine halbe Stunde später, tauchten die Schauspielerinnen auf, mit Blumen und kleinen Geschenken in ihren Händen.
Unauffällig bewegte ich mich am Rande des Geschehens vorbei und bemerkte einen der Hauptdarsteller, der gerade dabei war, unangetastete Essensreste von den weggestellten Tellern seinem wohl ausgehungerten Körper zuzuführen.
Es hatte schon etwas Rührendes an sich, wie der Mime Salatblätter, Oliven und nicht abgenagte Unterschenkel liegen gebliebener Hähnchenbeine verspeiste.
Wie das Eichhörnchen im hiesigen Stadtpark, dachte ich.
Ich hatte mein Opfer gefunden. Jetzt musste ich ihn nur noch in ein Gespräch verwickeln und meine Seite in der alternativen Stadtzeitung wäre gesichert.
Ich beging den größten Fehler, den man im Umgang mit Schauspielern nur machen kann. Ich lud ihn auf ein Bier ein. Dieser Fehler kostete mich mehr als ich an Honorar von der alternativen Stadtzeitung für meinen einseitigen Artikel bekommen sollte. Nun, ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass es sich bei dem Schauspieler, den ich auf der Premierenfeier ansprach, um Stefan handelte. Stefan und ich gingen in die gegenüberliegende kleine Osteria, die den Theaterleuten nach Proben und Aufführungen eine zweite Bühne, wenn auch nur an der Theke, bot. Überall hingen an den Wänden Schwarzweißphotographien der hiesigen Theaterschauspieler, zwischendrin kleine farbige Autogrammkarten von Schlagersängern.
Stefan hatte nicht nur großen Durst sondern auch einen unbändigen Appetit.
"Drei Kilogramm nehme ich, bei jeder Vorstellung ab, sagte Stefan, "und bei Premieren sogar fünf Kilo."
Stefan trank und trank, verzehrte sein Selbstzusammengestelltes Fünf Gängemenü und ließ mich, den freischaffenden Journalisten und Interviewer erzählen. Naturgemäß entschuldigte ich mich zuallererst für meinen unfreiwillig gewählten Beruf.
"Eigentlich bin ich Dramatiker, sagte ich, "über fünfzehn Stücke habe ich schon geschrieben. Zwei davon sind sogar schon zur Aufführung gebracht worden.“
"Sehr interessant", murmelte Stefan und stopfte eine überladene Gabel glänzender Fettuccine in sich hinein.
Ich erzählte über meine Pläne, meine zerplatzten Hoffnungen, dem starren nicht zu durchdringenden Apparat des Theaters, so wie er sich mir bot und wurde erst, nachdem Stefan seinen dritten Grappa ex gekippt hatte, von ihm unterbrochen.
"Sie wollten mir doch Fragen stellen", konstatierte mein Gegenüber, wobei er sich seinen prallen Bauch hielt.
"Mein Gott ich bin voll wie eine gefüllte Gans!"
Dann ein lauter markdurchdringender Rülpser, der den Wirt der kleinen Osteria dazu veranlasste, uns beiden einen Grappa auf Kosten des Hauses auszugeben.
"Unter uns", sagte Stefan, "die Inszenierung war eine absolute Katastrophe. Der Intendant ist ein selbstverliebter Trottel und ein Angsthase dazu. Mein Gott, was habe ich Schlimmes getan, dass es mich in dieses Kaff verschlagen hat. Trinken wir noch einen?"
"Warum nicht", erwidere ich, in der Hoffnung intime Details aus dem Innenleben des hiesigen Theaters zu erfahren.
Stefan hätte das Kind von Oliver Hardy und Stan Laurel sein können. Der Körper von Hardy, die Gesichtszüge von Laurel. Während des ganzen Essens hatte ich darüber nachgedacht und Ähnlichkeiten mit berühmten Persönlichkeiten gesucht, bis ich endlich auf die beiden gekommen war. Stefan war für mich der geborene Komiker, spielte aber leider am hiesigen Theater nur ernste Rollen.
"Wäre ich bloß in Hamburg geblieben", sagte Stefan und bestellte mit einem Fingerschnippen noch einen Liter Rotwein.
"Vier Jahre war ich am Hamburger Schauspielhaus. Aber ich musste mich ausgerechnet in eine Maskenbildassistentin verlieben. Verlieben Sie sich nie in ein uneheliches Mädchen, das bringt nur Ärger!"
So erfuhr ich aus erster Hand, warum es ihn in diese Stadt verschlagen hatte und wie sehr er unter diesem Missstand litt.
"Der hiesige Intendant ist ihr Vater, aber nicht offiziell. Seine Frau weiß bis heute nichts davon. Meine Ex-Frau hat so lange Druck gemacht, bis mich der alte Herr mit einem nicht auszuschlagenden Vertrag geködert hatte. Meine Ex-Frau ist, glaube ich, jetzt in Zürich. Kein Jahr hat sie es hier unter ihrem Vater ausgehalten. Und ich Trottel musste einen Fünfjahresvertrag unterschreiben. Nur eines tröstet mich ein wenig: Der alte Herr hat eine höllische Angst vor mir. Auf der einen Seite zahlt er mir eine für dieses Theater viel zu hohe Gage. Wenn das der Stadtkämmerer herausbekommt, sind seine Tage hier gezählt. Auf der anderen Seite hat er Angst, dass ich seine abgekupferten Regieeinfälle durchschaue und alles an die große Glocke hängen könnte. Wussten Sie eigentlich, dass der große Meister Grundschullehrer ist. Ja, das wissen die wenigsten. Religion und Deutsch hat er studiert. Gott sei Dank hat er als Pädagoge nie gearbeitet. Ja, schreiben Sie das. Mir kann nichts passieren. In der nächsten Saison gehe ich zurück nach Hamburg. Warten Sie, warten Sie. Genau, schreiben Sie: Grundschullehrer mit unehelicher Tochter kupferte Erfolgsinszenierung von. Ach, lassen wir das. Trinken wir lieber. Prost!"
Ich kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob ich in meiner, wir beide in meiner oder ich in seiner Wohnung aufgewacht bin.
An eine Sache kann ich mich noch genau erinnern, dass ich mich nämlich in der Eingangstür der kleinen Osteria vis-à-vis dem Theater übergeben hatte, worauf mir Stefan sofort das Du angeboten hatte.
Zwar hatte mich dieser Abend ein Vermögen gekostet und eine Woche später war mir immer noch schlecht, der Grappa-Geschmack im Mund verschwand erst nach einem Monat, aber ich hatte einen Freund gefunden, mit dem man über alles und jeden reden konnte.
Im Grunde lebte ich in dieser Zeit sehr isoliert. Die Stadt hatte zwar schon Könige, Prinzen, Kanzler und Präsidenten gesehen, Künstler hingegen waren die Ausnahme. Die Häuser in der historischen Innenstadt waren vollgepflastert mit Messingschildern, die auf das Geburtshaus eines bedeutenden Künstlers hinwiesen. Doch betrachtete man die Sache genauer, so stellte man fest, dass alle diese berühmten Menschen, ohne Ausnahme, noch vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr die Stadt fluchtartig verlassen hatten.
Ich lebte sehr gern in dieser Stadt. Sie war überschaubar, und man ließ mich in Ruhe, vielleicht zu sehr.
Die meisten meiner Kontakte ergaben sich in Cafés und Kneipen, wo ich mich am liebsten aufhielt und in dicke Kladden meine Geschichten sowie Theaterstücke schrieb. Ein gutaussehender junger Mann, der ich ja damals noch war -mein Äußeres entsprach vielmehr dem eines Schlagersängers, als dem eines so genannten Intellektuellen - saß allein am Tisch und schrieb. Das fiel natürlich auf. Nicht selten wurde ich auf meine Tätigkeit hin angesprochen, worauf ich, bedingt durch meine gute Erziehung, immer ehrlich antwortete.
Erst viel später kam ich darauf, dass die an meinen Tisch getretenen, es so genau gar nicht wissen wollten.
Die zweite Frage, die mir gestellt wurde, war immer die gleiche: Können Sie davon leben? Kann man davon leben?
Eine Frage, die ich bis heute nicht zur Zufriedenheit aller beantworten kann. Die Stadt beherbergte sogar eine Sektion des Schriftstellerverbandes, an deren regelmäßig stattfindenden Sitzungen ich einmal teilgenommen hatte.
In einem Fachwerkhaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in dem sich ein kleines Weinlokal befand, trafen sich die Schreiberlinge der Stadt ausgerechnet mittwochs. Wo doch jeder Mann weiß, dass an diesen Tagen die meisten Fußballländerspiele und Europacupspiele im Fernsehen live übertragen werden.
An einem spielfreien Mittwoch war ich aus purer Neugier hingegangen. Da saß ich denn, eingezwängt zwischen Bibliothekarinnen, Kindergärtnerinnen, Grundschullehrern, Hauptschullehrern, Gymnasiallehrern und einer Buchfachverkäuferin und musste mir Stunde um Stunde Geschichtchen und Gedichtchen anhören.
Irgendwann an diesem Abend war ich zu meiner Überraschung selbst an der Reihe. Ich hatte naturgemäß nichts dabei.
Die penetrant aufdringliche Moderatorin und Leiterin des Schriftstellerverbandes bat mich, ich sollte mich der Runde doch erst einmal vorstellen.
Wie das nun mal so ist, wenn man irgendwo neu ist und man hundert Prozent weiß, dass man diese Menschen im Leben nicht wieder sehen will und wird, bröselt man die Rosinen aus dem Kuchen des eigenen Lebenslaufes und schmeißt sie in die verblüffte und vom Leben ausgehungerte Menge.
So tat ich es auch und reihte einen Erfolg an den anderen.
Nach meiner Vorstellung stand an diesem Abend nur noch gemütliches Beisammensein auf dem Programm.
Mehrere Teilnehmer zogen mich nacheinander in verschwiegene Ecken und fragten mich aus. Es schien sie überhaupt nicht zu interessieren was und wie ich schrieb. Ihr Interesse galt ganz allein meinen Kontakten.
Naturgemäß hatte ich bei meiner Vorstellung nur so mit berühmten Namen umher geworfen. Nun wollten sie alles wissen, Telefonnummern, forderten Empfehlungsschreiben von mir ein und boten mir, da ich keine Namen beziehungsweise Adressen preisgab, sogar Geld an.
Mit Hilfe einer der billigsten Ausreden, dem Ich-muß-mal-auf-die-Toilette-Trick, entfloh ich aus der illustren Gesellschaft, und schwor, die enge Gasse, in der sich das kleine Weinlokal befand, nie mehr zu betreten.
"Nix für ungut, aber eine Ordnung muss sein!"
Der Pförtner der Filmstudios gibt Stefan und mir unsere Ausweise zurück, tritt mit uns aus seinem Häuschen und beschreibt uns den Weg zu jenem Gebäude, in dem unser Produzent sein Büro hat.
"Gehens an der Halle l vorbei, dann links an Halle 7 und wenn Sie sich dann etwas schräg rechts halten, dann stossens direkt drauf. Also, nochmals, nix für ungut".
So betreten Stefan und ich den heiligen Boden des Studiogeländes.
(2) AUF DEM STUDIOGELÄNDE AUSSEN/TAG
Im Rotlichtbezirk.
Stefan und Harry verlassen ein einschlägiges Lokal. Die Neonreklame mit der Aufschrift "KOLIBRI" ist ausgeschaltet. In einem Schaukasten hängen Bilder von nackten Tänzerinnen, nur mit einer Federboa bekleidet.
Den Hintergrund bildet eine Straße, die vor Jahren extra für Rainer Werner Fassbinders Filmepos "Berlin-Alexanderplatz" gebaut wurde.
Lässig setzen Stefan und Harry sich ihre Sonnenbrillen auf.
Stefan: Manchmal kotzt mich der Beruf schon an, Harry.
Harry: Ich weiß, Stefan. Ich weiß.
Stefan: Wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen,
Harry?
Harry: Über zwanzig Jahre, Stefan.
Stefan: Verdammt lange Zeit, Harry.
Harry: Ich weiß, Stefan. Ich weiß.
Stefan: Wir dürfen uns nicht von der Routine auffressen lassen, Harry.
Harry: Nein, das dürfen wir nicht, Stefan.
Stefan: Wenn du willst, darfst du heute den Wagen zurückfahren, Harry.
Harry: Danke, Stefan. Danke.
Stefan und Harry schlendern die "Berliner Straße" entlang.
"AUS", brüllt eine Megaphonstimme," wo kommen denn plötzlich diese beiden Trottel her?"
Lässig liften Stefan und ich unsere Sonnenbrillen und blinzeln in gleißendes Scheinwerferlicht. Eine junge Frau, in schwarzer Lederhose und Sportfischerweste mit tausend Taschen - die meisten davon viel zu klein -, kommt auf uns zugelaufen.
"Was machen Sie hier?"
Völlig außer Atem ist sie vor uns zum Stehen gekommen.
"Ihre Stoppuhr, Sie müssen Ihre Stoppuhr drücken", sagt Stefan und weist auf den Zeitmesser, der um ihren Hals hängt.
"Leckt mich doch", faucht uns die junge Frau an und hält mich am Arm fest, da ich weiter gehen will.
"Wir haben einen wichtigen Termin", sage ich.
"Weg mit ihnen", brüllt die Megaphonstimme.
"Verdammt viele Leute hier", flüstert Stefan und spürt, wie ich, dass hunderte von Augen auf uns gerichtet sind.
"Bringt mir ein Gewehr. Ich will auf der Stelle einen Schießprügel. Ich erledige das auf meine Art".
Ein lang gezogener Pfeifton, dann ist die Megaphonstimme verstummt.
"Schön, dass wir uns mal kennen gelernt haben. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder."
Geschickt löse ich ihre Hand von meinem Jackett und gebe Stefan durch einen Schlag in die Seite zu verstehen, dass er mir unauffällig folgen soll.
Mit Frauen hatte ich eigentlich nie größere Probleme, auch damals nicht in dieser Stadt, wo ich Stefan kennen lernte. Der Schriftsteller hat zwar nicht die erotische Ausstrahlungskraft eines Malers, aber mit Hilfe der Phantasie kann aus einem kleinen harmlosen Flirt, die größte Liebesgeschichte aller Zeiten werden, und Mauerblümchen verwandeln sich in Lotosblumen oder Baccararosen, je nach Geschmack und Stimmung.
Stefan war in dieser Hinsicht eher ein monogamer Typ. Ihm reichte es, wenn er eine Frau hatte, die gut kochen konnte und ihn ansonsten nicht zu sehr beanspruchte.
Bei mir sah die Sache schon ganz anders aus. Ein Schriftsteller, auch wenn ihn noch keiner kennt, muss ja schließlich Erfahrungen sammeln.
Die anfängliche Euphorie, die Frauen mir entgegenbrachten, verblasste bald, spätestens dann, wenn ihnen meine finanzielle Situation zur Gänze klar wurde. Da war aber noch eine zweite Sache, die Frauen immer wieder zur Weißglut brachte, ich konnte mich nicht mit ihnen streiten. Nein, ein Streit war mit mir unmöglich. Ich war damals einfach der Meinung, ein Drama gehört auf die Bühne oder die Leinwand, aber nicht ins richtige Leben. Da flogen Tassen und Teller, Schallplatten wurden zerbrochen, aber ich blieb ruhig.
Wie ein Außenstehender verfolgte ich das ganze Geschehen, nur bei Handgreiflichkeiten hielt ich meine Hände schützend vor das Gesicht.
Da mein Bankkonto, soweit ich mich zurückerinnern kann, fast immer im Minus gewesen war, kam mir eine Frau, eine neue Liebe naturgemäß immer gut gelegen. Wobei, und das möchte ich hier ausdrücklich betonen, ich nie wegen des Geldes mit einer Frau ins Bett gegangen bin. Aber es war angenehm in frischer Bettwäsche zu schlafen und zu Weihnachten oder an Geburtstagen neue Unterwäsche und Strümpfe geschenkt zu bekommen. Für einen selbst gestrickten Pullover reichte die Zeit nicht. Nein, ich will mich wirklich nicht beklagen. Die Frauen waren immer sehr großzügig zu mir, selbst die Miete für mein kärgliches Zimmer, das ich immer liebevoll "mein Büro" nannte, wurde von ihnen ab und zu auf das Konto meines besorgten Vermieters überwiesen. Bei Stefan sah das leider alles ganz anders aus. Er hatte zwar nicht mit vielen Frauen in seinem Leben etwas angefangen, dafür hatten alle etwas gemeinsam: Den unbändigen Drang zum Standesamt. Vier Ehen hatte Stefan bereits hinter sich und das bedeutete für ihn: zahlen, zahlen, zahlen.
Mich brauchte im Grunde nur ein Körperteil, ein charakteristisches Merkmal zu faszinieren, schon schwebte ich in höheren Sphären. Vor allem von der Stimme, der weiblichen Stimme war ich sehr angetan. Stundenlang konnte ich ohne zu unterbrechen, zuhören. Unzählige Gedichte, Lieder, Kurzgeschichten habe ich im Laufe meines Lebens für Frauen geschrieben und ich bin mir sicher, dass sie sie aufbewahrt haben, in einem Schuhkarton oder festgeschnürt mit einer Seidenschleife, versteckt ganz hinten im Kleiderschrank. So bleibt wenigstens der Funke eines Hoffnungsschimmers in Bezug auf die Unsterblichkeit meiner Arbeiten. Die meisten meiner Partnerinnen haben kurz nach unserer Trennung geheiratet. Zahnärzte, Steuerberater, Anwälte oder Betriebswirte, fast alle Frauen haben in puncto ihrer sozialen Absicherung eine gute Wahl getroffen. Vielleicht diente ich ihnen ja zur Selbstfindung, war ihr letzter Spaß vor dem großen Ernst des Lebens. Ich hoffe nur, alle haben die richtige Wahl getroffen. Bei Stefans Ex-Frauen sah das entscheidend anders aus. Keine von ihnen dachte nur im Traum daran, wieder zu heiraten. Sie schickten ihm zwar regelmäßig Ansichtskarten aus dem Urlaub, auf denen auch immer ein Freund mit unterschrieb, ansonsten aber lebten sie offiziell allein und warteten auf den monatlichen Scheck von Stefan.
"Über hunderttausend Mark habe ich dieses Jahr schon verdient und mir bleibt nichts", klagte Stefan irgendwann eines Nachts, als wir uns schon einen Monat kannten.
Nach fast jeder Vorstellung hockten wir in der kleinen Osteria vis-à-vis dem Theater zusammen und diskutierten mit anderen Theaterschaffenden bis in den Morgen hinein über neue Formen der Ausdruckskunst oder schweiften in die ach so goldene Vergangenheit.
Wenn in fünfzig Kilometer Entfernung nicht der großzügig zahlende Rundfunksender gewesen wäre, ich glaube Stefan wäre an seinen Schulden erstickt. So fuhr er jeden Morgen, immer dann wenn er keine Proben hatte, in die nahe liegende Stadt, um dort in Hörspielen mitzuwirken, Kommentare zu sprechen oder Dichtkunst vorzutragen. Sein Hauptbetätigungsfeld aber war der Schulfunk. Im Rundfunkhaus wurde er vom Pförtner sogar schon als "Mister Schulfunk" begrüßt.
Selbst für Radio und Kino-Dia-Werbung war er sich nicht zu schade. Hauptsache es reichte immer für die fälligen Schecks am Anfang jeden Monats. Sicherlich gab es Abende, an denen Stefan das andere Geschlecht und alles was damit zusammenhing, verfluchte. Aber die drei Kinder, die er bis dato gezeugt hatte, ließen ihn schnell wieder vom Napf der Melancholie loskommen. Er öffnete dann einfach seine dicke Brieftasche und ließ unzählige Kinderbilder in der Runde seiner Zuhörer kreisen. Auch Stefan hatte anfangs eine bürgerliche Existenz erstrebt. Nach dem Abitur hatte er zu studieren begonnen. Dann kam die Studentenbewegung, das Studententheater, die Schauspielschule und dann eben das Theater. Das Theater lässt niemanden mehr los. Einmal in seinen Fängen und man ist verloren, ein Leben lang. Aber wo findet man sich, wenn nicht im Verlieren, im Loslassen. Wenn ich daran denke, wie Stefan seine Kollegen an die Rampe geführt hatte, um den Applaus entgegenzunehmen, treibt es mir noch heute vor Rührung die Tränen ins Gesicht. Allein wie Stefan sich verbeugte, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, um seinen Lohn für die getane Arbeit in Empfang zu nehmen, das hatte was. Wie ein souveräner Gastgeber stand er da oben, zeigte mal nach rechts, mal nach links, um seine Kollegen hervorzuheben. Selbst beim Gemeinschaftsapplaus war Stefan immer Mittelpunkt, auch wenn er ganz am Rand stand. Den Kopf leicht nach vorne gebeugt und ein leicht angedeutetes Kopfnicken, so als ob er, im dunklen Zuschauerraum, jeden einzelnen grüßen wollte, diese Kunst beherrschte er wie kein anderer. Beim dritten Vorhang, wo die Schauspieler einzeln vortraten, die meisten von ihnen hetzten wie aufgeschreckte Hühner über die Bühne, schritt Stefan über die Bretter, die die Welt bedeuten, und erntete somit den größten Applaus. Ja, er war ein Liebling der Zuschauer und sogar des städtischen Feuilletons. Schon nach einer Woche durchzechter, durchdiskutierter Nächte wusste ich mit Bestimmtheit, ich würde ein Stück für Stefan schreiben.
Ja, Stefan bekommt ein Einpersonenstück von mir geschenkt. Das Thema schwirrte mir auch schon im Kopf herum. Zu dieser Zeit wurde gerade ein Bestechungsskandal von den Medien ausgeschlachtet. Nicht die Tatsache, dass ein Wirtschaftsunternehmer Steuerhinterziehung begangen, Bilanzen gefälscht und Politiker bestochen hatte, interessierte mich. Nein, seine Darstellung im Fernsehen faszinierte mich. Da wurde ein braungebrannter Mann naturgemäß mit graumelierten Haaren an den Schläfen, eskortiert von zwei lächelnden Anwälten gezeigt, wie er zur Urteilsverkündung wie Churchill mit dem Finger in Richtung Kamera und Blitzlichtgewitter sein V machte und siegeslächelnd den Gerichtssaal betrat. Im Gericht, nach der Urteilsverkündung wurde der Industrielle zur Überraschung aller, mit der Begründung auf Fluchtgefahr, sofort verhaftet und in den nahe liegenden Hochsicherheitstrakt gebracht, der in den siebziger Jahren für die RAF gebaut wurde. Der gerade Verhaftete war als Bauherr damals federführend in der Herstellung des Stahlbetonbaus gewesen. So entstand in nur wenigen Wochen dieses Einpersonenstück für Stefan, das Folgen haben sollte.
Zur selben Zeit entdeckten Stefan und ich eine Gemeinsamkeit in unseren Lebensläufen, die gleichzeitig Fundus für unzählige lustige Geschichten war:
Das Tourneetheater.
Ja, ich muss zu meiner Schande gestehen, auch ich war Mitglied, Mitstreiter in einer solchen Unternehmung. Durch Zufall erfuhr ich, dass ein alter Regiehase, wie er sich selbst gern nannte, für ein Boulevardstück einen Regieassistenten suchte. Ich wollte Erfahrungen sammeln, also bewarb ich mich um den Job.
In einem Nobelhotel traf ich den großen alten Meister höchstpersönlich, im extra für diesen Abend angemieteten Kaminzimmer.
"Ich will ehrlich sein", sagte der große alte Mann, "im Grunde suche ich nur etwas fürs Bett. Wobei es mir egal ist, ob Männlein oder Weiblein. Sie verstehen? Ich bin alt und mir ist es egal. Warum also sollte ich wählerisch sein?"
"Na dann werden wir wohl nicht zusammenkommen".
Ich machte Anstalten mich von meinem Platz zu erheben.
"Warten Sie, warten Sie! Ihr Gesicht gefällt mir. Da ist auch noch eine Rolle zu besetzen. Nichts großes, aber ich will Ihnen eine Chance geben. Sie scheinen Charakter zu haben".
Vielleicht lag es an der unbändigen Hitze oder dem fehlenden Sauerstoff, hervorgerufen durch den brennenden offenen Kamin, dass für einen Moment mein Verstand aussetzte und ich den Pakt mit dem Teufel schloss.
Das Stück war naturgemäß beschissen. Alles war an den Haaren herbeigezogen.
Ich hatte einen stotternden Fernmeldetechniker zu spielen und mein Kostüm glich dem eines Postboten aus einem Tati-Film. Fünfzehn Sätze hatte ich zu sagen. Einen Auftritt von links und einen von rechts. Beim zweiten Auftritt komme ich mit einem Mal aus der Küche in das Wohnzimmer. Selbst der Regisseur konnte mir nicht plausibel erklären, wie ich in die Küche gelangt war.
"Hintenherum, Sie Idiot."
Den Hauptdarsteller ein bekannter ewig junggebliebener Fernsehliebling, er war damals, glaube ich, Mitte vierzig, sahen wir auf den Proben nie.
"Er hat das Stück schon über dreihundert Mal gespielt", fauchte uns die Regieassistentin mit dem strengen Zopf und den dicken Brillengläsern an, als das zusammengewürfelte Ensemble nach ihm fragte.
Die Regieassistentin war ein Grund dafür, dass die Proben aggressiv abliefen. Keiner im Ensemble glaubte daran, dass der alte Regisseur, schon seine erfahrene Hand an sie gelegt hatte.
"Des is a trocknes Ungustl", sagte mein Wiener Kollege, den nichts aus der Ruhe zu bringen schien. Im Stück spielte er einen Hund, der sprechen konnte.
"A Hund, des muss a Wiener sein", pflegte er zu sagen und fügte hinzu, dass so etwas nur einem Piefke hätte einfallen können.
Ansonsten verliefen die Proben immer gleich. Die Regieassistentin malte mit Kreide Striche auf die Probebühne, denen wir zu folgen hatten. Die Akteure mussten andauernd hin und her laufen. Türen gingen auf und zu. Das war’s auch schon.
Das ganze Spektakel sollte während der Seefestspiele im Sommer an einem bekannten österreichischen Badeort auf einem schwimmenden Plateau über die Bühne gehen.
Die schwimmende Bühne hatte man so weit auf den See hinausgefahren und dort verankert, dass die Zuschauer vom Ufer aus nur mit dem Fernglas, das man naturgemäß an der Kasse neben einem Hochglanzprospekt und der Biographie des bekannten Fernsehlieblings zu Wucherpreisen erwerben konnte, etwas sehen konnten.
Auf der Generalprobe erschien er dann endlich, der große Star. Er sah aus wie fünfzig, bewegte sich wie ein sechzigjähriger und spielte einen dreißig Jahre alten Sonnyboy, dem alle Frauen zu Füßen lagen. Worüber sich sein griechischer Freund aus Mykonos, der kein Wort deutsch sprach, köstlich amüsierte.
"Wenn di Schwuchtel mi anpackt, tret i ihm eini", flüsterte mir der Wiener zu, als der Fernsehliebling zu uns herüber schaute und einem von uns beiden zublinzelte. Naturgemäß setzte sich der ewig blonde Star sofort in Szene.
"Kinder, wieso muss ich mit einem Mal wieder rauchen. Das haben wir doch schon im letzten Jahr geklärt. Außerdem gibt das überhaupt keinen Sinn. Kinder, bitte, denkt an meinen Teint. "
War die Zigarettenfrage geklärt, kam auch schon die nächste Unterbrechung.
"Und ihr habt wirklich dafür gesorgt, dass gespritzt wurde. Ich möchte heute Abend keine einzige Schnacke auf dem Wasser sehen. Ich breche sofort ab. Kinder, ihr wisst doch, ein Stich und mein Gesicht verwandelt sich in eine Tomate."
Am Tag der Premiere wurden wir mit Ausnahme des Fernsehlieblings so gegen acht Uhr abends auf die schwimmende Bühne gebracht, obwohl die Vorstellung erst um halb zehn abends, mit Einbruch der Dunkelheit, beginnen sollte.
Mit großen Reisebussen wurden die Besucher an das Seeufer gekarrt und mit volkstümlicher Musik bis zum Beginn der Vorstellung bei Laune gehalten. Männer und Frauen in weißen Kitteln gingen durch die Reihen und verkauften Eis, Getränke und heiße Würstchen. Als es langsam zu dämmern begann, verstummte die Musik. Worauf die Zuschauer am Ufer mit einem lang gezogenen "OH" antworteten. Nach zehn Minuten etwa schaltete man vom Ufer aus einen Flakscheinwerfer an, der in langsamen Kreisbewegungen über das dunkle Wasser fuhr. Dann das Tuckern eines Motorbootes, was von den Zuschauern am Ufer wieder mit einem lang gezogenen "OH" quittiert wurde. Eine kleine weiße Jacht wurde vom Verfolger eingefangen. Auf dem Oberdeck stand im weißen Anzug der Fernsehliebling, der unter den Zuschauern am Ufer geradezu eine Hysterie auslöste. Zwei Runden fuhr das Boot um die schwimmende Bühne, bevor zwei starke Männer in weißen engsitzenden T-Shirts und Hosen den ewig blonden Star von der Jacht auf das Plateau hoben. In der Lichtpause die danach folgte, schoss der Fernsehliebling auf die Regieassistentin zu und brüllte sie an:
"Ich werde euch verklagen. Wenn ich fertig mit euch bin, werdet ihr euch wünschen, nie geboren worden zu sein. Mindestens drei Stiche auf der Fahrt hierher. Mein Gott, ich sehe bestimmt fürchterlich aus. Maske, wo ist die Maske!"
"Achtung, meine Damen und Herren, es ist jetzt einundzwanzig Uhr und sechsundzwanzig Minuten. In zwei Minuten werden die Mikrophone eingeschaltet."
So blieb auch dem Fernsehliebling nichts anderes übrig, als zu verstummen. Über die Premierenvorstellung gab es eigentlich nicht viel zu sagen. Alle Pointen waren auf ihn zugeschnitten. Naturgemäß bekam der ewig blonde Star bei jedem Auftritt Szenenapplaus. Selbst in Szenen, in denen er, nach Regieanweisung und Buch gar nicht vorkam, tauchte er dennoch immer wieder auf. Mal erschien er am Fenster, öffnete eine der vielen Türen oder trat urplötzlich von der Seite an der Kulissenbegrenzung auf die Bühne, machte ein paar Faxen und ging dann durch eine der Türen wieder ab. Ihm voraus ging eine Alkoholfahne, die es in sich hatte. Wir, die auf der Bühne standen, schwitzten und unser Bestes gaben, konnten ihn nicht immer sehen, wussten aber sofort wenn die Zuschauer vom Ufer her frenetisch klatschten, er ist wieder irgendwo auf der Bühne. Der sprechende Hund beispielsweise, die eigentliche Hauptrolle, die von meinem Wiener Kollegen gespielt wurde, ging völlig unter. Nur wenn der Fernsehliebling ihn in den Hintern trat, gab es große Lacher aus dem Publikum. Dass der ewig blonde Star beim Schlussapplaus der letzten Vorstellung unglücklich den Halt verloren hatte und ins Wasser fiel, war Pech und eben nur ein Unfall. Auf keinen Fall hatte mein Wiener Kollege seine Finger beziehungsweise Pfoten im Spiel, so wie es der Fernsehliebling behauptete. Auch Stefan konnte so einiges berichten. Vor allem die Schilderungen der Bühnenunfälle, die bei Theatertourneen wohl auf der Tagesordnung stehen, strapazierten meine Bauchmuskeln so sehr, dass ich nicht selten mit einem Bauchmuskelkater mittags aufwachte. Proben und Routine sind ja ganz gut und schön, können aber zu einer tödlichen Falle werden. Da spielt man ein Stück fünfzig Mal, geht immer vierzehn Schritte nach vorne, um an der Rampe seinen Monolog zu halten, und ausgerechnet in Bad Zwischenahn passiert es dann: Man geht Schritt für Schritt und ehe man innerlich bis zehn gezählt hat, liegt man auch schon den Zuschauern zu Füßen und krümmt sich vor Schmerzen.
Fünfzig Mal geht man wie selbstverständlich während des l. Aktes links ab, muss aber in Hof, was man in der Hektik vergessen hat, rechts abgehen. Man tritt durch eine Tür und weiß sofort, hier war ich noch nie. Man tastet sich langsam die dunklen Stufen hinunter, geht einen langen Gang entlang bis man in der vollkommenen Dunkelheit mit der Stirn gegen eine Eisentür knallt. Längst sind von der Bühne her keine Stimmen mehr zu hören. Man öffnet die schwere Eisentür und steht plötzlich im hellerleuchteten Heizkesselraum. Endlich Licht, denkt man, freut sich für einen Moment, bis hinter einem besagte Eisentür ins Schloss fällt. Man dreht sich um und sucht vergebens nach einer Türklinke. Die Vorstellung ist gelaufen.
"Was nicht immer negativ ist", sagte Stefan. "Es gab Hamlet Aufführungen, die hervorragend von den örtlichen Kritikern besprochen wurden, obwohl Hamlet kein einziges Mal die Bühne betreten hatte. Er hatte die Bühne einfach nicht gefunden. Während einer Theatertournee ist die Improvisation der einzige Rettungsanker. Hier zeigt sich die wahre Stärke, die große Begabung des Künstlers.“
Stefan erzählte von betrunkenen Schauspielern, denen es im 2. Akt unmöglich gewesen war, auch nur einen Satz herauszubringen.
"Kein Problem", sagte Stefan, "du nimmst den Satz deines Partners und formulierst in zu einer Frage um. Das merkt kein Schwein."
Nächtelang amüsierten Stefan und ich uns köstlich in seiner, von seiner letzten Ex-Frau heimlich leergeräumten Wohnung, bis ich auf die Idee kam, daraus ein Drehbuch zu machen.
"Lass uns ein Drehbuch schreiben, am besten einen Mehrteiler, die Leute werden sich vor Lachen nicht mehr einkriegen."
Im Geiste sah ich schon wie man Stefan und mir in Marl den Adolf-Grimme-Preis überreichte.
"Ich weiß nicht", sagte Stefan skeptisch, "ich bin Schauspieler, kein Schriftsteller. Ich habe noch nie etwas geschrieben."
"Lass mich nur machen. Bei meiner Erfahrung und Deinem guten Willen kann doch überhaupt nichts schief gehen."
Stefan nimmt die Sonnenbrille ab.
"Ich glaube da drüben ist es", dabei zeigt er auf ein zweistöckiges Gebäude, an deren Eingangshalle eine große verchromte Metallsäule steht.
Als wir näher herantreten, sehen wir, dass die Säule aus unzähligen und unterschiedlich großen Geschäftsschildern besteht. Ein Mann im grauen Kittel ist gerade dabei, eines der Schilder gegen ein anderes auszutauschen.
"Früher war halt alles aus Holz“, murmelt der Mann, "erst heißens Alpha-Film, dann Beta-Film und jetzt auf ein Mal Gamma-Film. Wer soll sich da bittschön auskennen."
Unsere Augen schweifen über die verschiedenen Firmenschilder: Casablanca-Film, Rio-Film, Venezia-Produktion, Karthago-Film, Hollywood-Cooperation.
Stefan und ich atmen tief durch. Noch ein paar Schritte und wir betreten die große weite Welt.
"Scheiße, verdammte", brüllt der Mann hinter uns und lässt etwas Schweres fallen.
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
Für R.
„Sie soll Adele heißen!“
„Adele?“
„Warum nicht?“
„Adele ist kein Name für so etwas. Bedenken Sie, was auf dem Spiel steht!“
„Adele ist gut. Mir ist das eingefallen, und dabei bleibt es!“
„Adele, allein der Name wird das Ganze zum Scheitern bringen. Adele, das klingt wie ein Waschmittel oder wie die Abkürzung eines Abhörprogramms der Amerikaner.“
„Amerikaner haben in unserem Spiel keinerlei Bedeutung, wie auch der Rest der Bevölkerung nicht.“
„Oh, ja ich weiß, der Allmächtige hat gesprochen. Der Unfehlbare hat immer Recht!“
„Ich treffe die Entscheidungen, das ist der Plan. Adele ist für diese Versuchsreihe genau der richtige Name!“
„Und er? Und er heißt am besten noch Erwin!“
„Ich hatte noch keinen Namen. Ich schwankte zwischen Edgar und Emil. Aber Erwin, das hat was. Das muss ich Ihnen lassen!“
„Adele und Erwin, was soll das? Der Chef wird uns in Stücke reißen.
„Der Chef hat das große Ganze im Blick, den scheren keine Namen.“
„Ich möchte nicht dabei sein, wenn er das Exposé zu unserer Versuchsreihe liest.“
„Angsthase, wobei ich mich jetzt schon beim Chef dafür entschuldige.“
„Immer korrekt der Herr. Aber Adele und Erwin werden dir das Genick brechen.“
„Das hat überhaupt keine Bedeutung. Haben Sie vergessen, wo wir sind?“
„Nein, nein, man kann sich den Arbeitsplatz nicht aussuchen.“
„Eben, und jetzt ran an die Arbeit. Es gibt genug vorzubereiten, bevor wir die Versuchsreihe starten können.“
Vom Glück, das Glück vergessen zu haben
Erwin mähte den Rasen, als das Telefon im Haus klingelte. Er hörte es nicht, denn der Motor machte einen höllischen Lärm. Mehrere Minuten läutete es im Haus, während draußen der Mann seine Runden drehte. Er hatte sich zur Angewohnheit gemacht, in den Rasen Objekte zu schneiden. Manchmal war es nur ein Buchstabe oder ein Wort, heute aber hatte er einen Hasen mit dem Mäher geformt. Er stellte die Maschine ab und im selben Moment legte Adele den Hörer wieder auf. Sie starrte auf den Bildschirm. Eine Suchmaschine im Internet hatte ihr die Nummer verraten. Vielleicht ist er längst weggezogen, dachte sie und zog nervös an einer Zigarette, die erste seit ein paar Wochen. Eigentlich wollte sie erst rauchen, wenn sie am anderen Ende der Leitung eine bekannte Stimme gehört hätte. Bei einer Kinderstimme hätte sie sofort aufgelegt. Bei einer Frauenstimme wäre sie ins Grübeln gekommen und hätte eine Zehntelsekunde später auf ihre Stimme gehört: Das wollen wir doch mal sehen.
Erwin trank ein Glas Wasser und betrachtete sein Werk. Die Ohren waren etwas lang geraten und der Po war ein wenig zu rund. Dafür lächelte der Hase und zeigte seine beiden Vorderzähne. Mit einer Polaroidkamera schoss er ein Foto von dem Tier und stellte anschließend die Maschine wieder an.
Adele klopfte die Zigarette im Aschenbecher aus und wählte erneut die Nummer. Sie hasste es, wenn sie warten musste. Die Dinge mussten sofort passieren oder gar nicht. Hoffnung war etwas für Selbstmörder und Versager. Wartesäle hasste sie wie die Pest.
Adele trauerte nichts nach. Jedes Ende war ja auch ein neuer Anfang.
Samstagnachmittag saß sie in ihrem Büro und starrte auf den Bildschirm. Eine Katze streifte ihre Beine. Ansonsten war es ruhig im Haus. Der Junge war beim Fußballtraining und einen Mann gab es nicht. Neben dem Aschenbecher lag ein Cuttermesser. Einen Schnitt machen, nur so und nicht anders.
Der Rasen war gemäht und der lächelnde Hase Geschichte. Erwin ging ins Haus und befestige das Polaroidbild mit einem Magneten am Kühlschrank, eingerahmt zwischen Z wie Zorro und einer Ente. Der mannshohe Kühlschrank aus den sechziger Jahren war übersät mit Fotos. Alles in dem Haus war alt. Er hatte das Haus von seiner Mutter geerbt und war fast ohne Möbel ins elterliche Domizil gezogen. Nur das Bett hatte er durch ein Neues austauschen lassen. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er in die Wanne steigen oder lieber eine Runde mit dem Fahrrad drehen sollte. Erwin war fast Fünfzig und hatte, seit dem er vor sechs Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, fast zwanzig Kilo zugenommen. Er musste was tun, sonst würde er irgendwann nicht mehr in die Wanne passen. Erwin schnappte sich das Rad seines Vaters aus der Garage und machte sich auf seine Strecke.
„Verdammt“, fluchte Adele. Den Samstagnachmittag hatte sie sich anders vorgestellt, ein langer Sonntag lag noch vor ihr. Sicher, es gab im Haushalt genug zu tun. Aber Wäsche waschen und bügeln, das konnte es wohl nicht sein. Vielleicht bekam sie das Kind dazu, mit ihr einen Ausflug zu unternehmen. Manchmal zogen sich die Sonntage bis ins Unendliche. Adele zündete sich erneut eine Zigarette an und öffnete das Fenster. Der Junge hatte sie nie rauchen gesehen und dabei sollte es auch bleiben.
Reichte es doch, dass der Kindsvater keine Disziplin aufwies und selbst im Auto rauchte. Zum Glück hatte sie den Schnitt gezogen.
Erwin hatte die Route zum Fluss gewählt. Gegen den Strom fahren, etwas was zur Sucht werden könnte. Egal, er liebte es, wenn ihm der Wind ins Gesicht schlug und der Körperumfang um ein Gürtelloch schrumpfte.
Nach zehn Stromkilometern machte er eine Pause und setzte sich runter an den Fluss.
Er liebte das Geräusch, wenn die Wellen gegen die Steine platschten und das gleichbleibende Geräusch der Dieselmotoren. Langsam zogen die Schlepper an ihm vorbei, stromaufwärts, stromabwärts. Er konnte stundenlang hier sitzen.
Nur die Gedanken blieben aus. Er legte sich auf den Rücken und starrte in eine Herde an Schäfchenwolken. Er fühlte sich zufrieden. Glück kannte er nicht mehr. Er hatte es einfach vergessen.
Der Samstagnachmittag war gelaufen. Adele dachte darüber nach, das Telefon gänzlich abzuschaffen. Ein radikaler Gedanke und nicht umsetzbar, als Geschäftsfrau mit eigenem Laden.
„Sie sehen zufrieden aus!“
„Kann man so sagen.“
„Der Alte hat deinen Antrag also genehmigt.“
„Die Versuchsreihe läuft bereits!“
„Was, ohne sie mit mir abzusprechen? Stellen Sie sich so Teamwork vor?“
„Es hat sich so ergeben.“
„So ergeben, so ergeben. Da hat doch wieder einer am Rädchen gedreht. Sie haben wohl wieder mit dem Junior geredet?“
„Der Junior befindet sich in einer Phase der inneren Einkehr und ist nicht zu sprechen.“
„Hat er also wieder nur genickt. Was für eine Existenz. Er weiß, dass er niemals Chef werden wird, für immer und ewig der Junior bleiben wird.“
„Das kommt auf die Sichtweise an. Ich kenne genügend Leute, die halten ihn für einen Spinner, für andere ist er gestorben und wieder andere halten ihn für eine Art Botschafter oder so.“
„Sie müssen mir keinen Vortrag halten. Ich weiß selbst wie verrückt die Welt ist. Deshalb bedarf es ja einer Ordnung. Aber den Junior zu fragen, dass ist unter Ihrer Würde. Ich glaube er kifft. Kennen Sie seine Bilder? Seine Geschichten? Vollkommen abgedreht.“
„Er war als Kind schon sein eigener Herr. Mir gefällt das. Ein freier Geist kann niemals schaden.“
„Da kenne ich aber ganz andere Beispiele.“
„Sie entschuldigen, ich muss zurück an die Arbeit.“
Adele hatte sich eine Stunde eine schöne Zeit gemacht, wie sie das nannte und lag jetzt entspannt auf dem Bett und starrte an die Decke, an der selbst gebastelte Laternen des Jungen hingen. Wieso brauche ich eigentlich einen Mann, fuhr es ihr durch den entspannten Kopf. Ich komme gut allein durchs Leben. Beim nächsten Mal mache ich mir erst eine schöne Zeit und überlege dann, wen ich anrufe. Sie deckte sich zu und legte sich auf die Seite. Von der Decke sah sie Szene eher verloren aus. Eine Frau rollte sich in eine Bettdecke auf einem riesigen Bett, in dem bequem vier ausgewachsene Menschen Platz hatten.
Erwin fror. Er war eingeschlafen. Eine frische Brise vom Fluss her hatte ihn geweckt. Ein paar Fahrradfahrer fuhren an ihm vorbei, beachteten ihn aber nicht.
Erwin brauchte einen Moment, um zu wissen, wo er war. Er glaubte geträumt zu haben.
Er hatte Stimmen gehört. Zwei Männer hatten sich unterhalten. Er versuchte sich an mehr zu erinnern. Aber mit einer neuen aufkommenden Brise verschwanden die letzten Erinnerungen. Was soll‘s, dachte Erwin und rappelte sich auf. Ein paar Dehnübungen machten den steifen Körper wieder locker. Bevor er auf das Rad stieg, schaute er auf den Fluss. Ein Lächeln zog über sein Gesicht, leicht und flüchtig.
Vier Anrufe in Abwesenheit, wahrscheinlich wieder dieser italienische Weinhändler, der vorgab aus Italien anzurufen, dabei zeigte die Vorwahl einen Ort an, der kaum fünfzig Kilometer entfernt lag. Mehr als ein Atmen und ein kurzes Knacken waren nicht auf dem Anrufbeantworter.
Vielleicht sollte ich das Telefon abmelden, dachte Erwin. Außer die beiden obligatorischen Anrufe im Jahr von seiner Schwester, an seinem Geburtstag und zu Weihnachten bekam er keine privaten Anrufe und selbst darauf konnte er verzichten. Ansonsten wurde er nur von Vertretern und Meinungsforschungsinstituten belästigt.
Erwin schaltete das Weltradio an. Er hatte einen neuen Sender aus Neuguinea entdeckt, der Tanzmusik aus den fünfziger Jahren spielte.
„Schuhe aus“, rief Adele aus dem Bett heraus und suchte unter den vielen Kissen und Decken nach der Fernbedienung des Fernsehers. Der Junge war vom Training nach Hause gekommen und machte unten in der Küche Lärm. Emil, zehn Jahre alt und dem Fußball verschrieben.
Von mir hat er das nicht, dachte Adele und überlegte für einen Moment, welche eigenen Fähigkeiten sie bisher an dem Jungen entdeckt hatte: Ausdauer, Ungeduld, Geschicklichkeit, Tölpelhaftigkeit, Glücksgefühl und Traurigkeit.
Sie zerknüllte den gedanklichen Zettel und warf ihn ins Nirgendwo.
„Was ist das denn? Durchschnitt, wenn überhaupt. Langweiler auch noch, was soll da passieren? Ich kann den Chef nicht verstehen.“
„Das ist auch nicht Ihre Aufgabe. Die Versuchsreihe ist genehmigt und damit basta.“
„Ich habe eben die Personaldaten bekommen. Sie ist einundfünfzig und er neunundvierzig. Was um alles in der Welt soll das bringen? Kinder werden die wohl nicht mehr zeugen.“
„Alles hat seinen Sinn. Schon vergessen? Der Junior war von der Sache hellauf begeistert.“
„Der Junior, der Junior. Entweder er meditiert, kifft oder hält Vorträge, die nicht enden wollen. Seine Gleichnisse sind mehr als kryptisch.“
„Sachlich falsch, aber ich möchte das nicht weiter kommentieren. Wir sind erst am Anfang und es gibt noch viel zu tun. So eine Versuchsreihe bedarf äußerster Präzision. Wie ein Uhrwerk muss das laufen.“
„Hier und ein Uhrwerk, dass ich nicht lache. In die Hose wird das gehen.“
„In die Hose, so, so.“
„Manchmal hasse ich deine Genauigkeit.“
Adele zappte sich durch das abendliche Programm. Da war nichts, was sie interessierte. Probleme über Probleme, selbst die Komödien waren schlecht gemacht.
Endlich kam Emil nach oben.
„Tasche packen und Zähneputzen“, rief Adele aus dem Bett heraus. Die Beine zuckten und sie fühlte sich wie erschlagen. Eigentlich müsste sie aufstehen und zu dem Jungen gehen, aber es fehlte ihr an Kraft.
Die angelehnte Tür öffnete sich und Emil stürmte lachend das Bett.
Nach der Trennung von ihrem Mann schlief das Kind gerne bei ihr. Sie hatte es zugelassen, vielleicht aus schlechtem Gewissen. Aber sie wollte darüber nicht nachdenken.
So wurde gekuschelt, Kinderrücken gekrault und Nasen gerieben.
Erwin überflog die Tageszeitung und dachte auch hier über ein abmelden nach. Zu kurze Momente, um wirklich eine Entscheidung zu treffen. Ein Kalenderblatt, Werbung und die Zeitung verschwanden in der Papiertonne. Er schaute in einen klaren Nachthimmel. Daran konnte er sich nicht sattsehen.
Hanskuckindieluft hatte die Lehrerin ein paar Tage nach der Einschulung zu ihm gesagt. Er hatte es damals schon als Ehrung empfunden. Zurück im Haus öffnete er die Terrassentür und machte es sich mit einem Glas kühlem Weißwein gemütlich. Er liebte es so allein im Dunkeln zu sitzen und auf einen Sternenhimmel zu blicken. Bei jedem einzelnen Stern kamen ihm Gedanken, Menschen tauchten auf, denen er mal begegnet und die sich in ihm festgesetzt hatten.
Jeder Stern stand für eine Geschichte aus seinem Leben. Ein schönes Gefühl, das eigene Bilderalbum am Himmel zu haben.
Erwin musste eingeschlafen sein. Als eine kühle Brise das Gesicht streifte, blinzelte er mit den Augen, die versuchten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Kerze auf dem Tisch war erloschen und der prächtige Sternenhimmel hinter einer anthrazitfarbenen Wolkenwand verschwunden. Für einen kurzen Moment schien Erwin woanders gewesen zu sein. Ein Gesicht mit Sommersprossen, daran konnte er sich erinnern. Und an die Stimme, sie hatte ihn berührt. Ein Anflug von Zärtlichkeit durchzog seinen Körper und drang in sein Innerstes ein. Für einen Moment spürte er das Verlangen nach einer Zigarette, gleichzeitig eine Einsamkeit, die er so nicht kannte. Zum Glück alles Bruchteile von Momenten. Ein kurzer Muskelschmerz mehr nicht. Nicht ernst zu nehmen.
Erwin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er war auf der Suche nach dem Gesicht mit den Sommersprossen.
Adele saß in ihrem Garten auf einer der Bänke und rauchte eine Zigarette. Aus unerklärlichen Gründen hatte sie nicht schlafen können. Über so etwas dachte sie nicht nach, brachte ja auch nichts, machte die Sache höchstens noch schlimmer.
Seit Emil da war, wurde nur noch draußen geraucht. Während ihr Ex-Mann Kette geraucht hatte, war sie bis zur Trennung abstinent geblieben. Heute hielt bei ihr eine Packung mehrere Monate. Dinge wie Sucht kannte sie nicht an sich, vielleicht auch keine Leidenschaft, dafür hatte sie sich im Griff. Sie hatte die Dinge gern unter Kontrolle.
Bis auf das, was sie nicht steuern konnte und seit Jahren verfluchte. Der Gedanke daran: schon fingen die Beine an, zu zittern. Hielten die Beine still, waren es Nadeln, die unkontrolliert millionenfach in den Kopf schossen. Es war Zeit diese verdammten Tabletten zu nehmen.
„Wusste ich es doch, wusste ich es doch. Die Namen kamen mir gleich bekannt vor. Adele und Erwin, die Namen sind so aus der Luft gegriffen.“
„Das ist ja in unserer Lage nichts Außergewöhnliches.“
„Hören Sie auf mit Ihren Spitzfindigkeiten. Es gab vor Jahren schon eine Versuchsreihe und diese wollten Sie unter den Tisch kehren. Ich habe mit dem Junior gesprochen, der wusste von nichts.“
„Kein Wunder, er beschäftigt sich mit dem Großen und Ganzen.“
„Unsinn. Das sind die Drogen und das ständige Meditieren. Das hat sein Gehirn weich werden lassen.“
„Ich glaube kaum, dass er das braucht. Denken Sie an die Transzendenz.“
„Wenn ich mit dem Chef geredet habe, ist Schluss mit dem ganzen Unsinn. Sagen Sie mir nur, wo Sie die Akte versteckt haben.“
„Ich habe alles im Kopf. Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie ruhig. Es gibt da keine Geheimnisse.“
„Fragen, Fragen und ob ich Fragen habe. Ich werde Sie vor ein Tribunal bringen. Sollen die hohen Herren Sie ins Kreuzverhör nehmen.“
„Kreuzverhör beim Jüngsten Gericht?“
„Lassen Sie Ihre Spitzfindigkeiten. Ich werde die Akte schon finden verlassen Sie sich darauf.“
Erwin starrte an die Decke. Der Hahn auf dem gegenüberliegenden Versuchsgelände hatte bereits mehrmals seinem Harem bewiesen, wer der Herr im Gehege ist. Die Hennen hatten weiter das ausgestreute Futter gepickt und nicht aufgeschaut. Seit langem nahmen sie diesen Schreihals nicht ernst. Gut, er sah nicht schlecht aus, hatte ein prächtiges goldenes Federkleid und einen kräftigen Schritt. Während er nicht aufhörte zu krähen und sich aufzublähen, schüttelten die Hennen längst die Köpfchen. Der Maschendrahtzaun, der beide Geschlechter trennte, war ihnen sofort aufgefallen.
Erwin hatte große Lust auf eine Zigarette, aber er hatte seit Jahren damit aufgehört.
„Ein Laster“, hatte ihm der Arzt gesagt, „und keine Sucht.“
Er hatte das angenommen und den Entzug ausprobiert. Sechs Jahre hatte er keine Zigarette geraucht, dafür aber fast zwanzig Kilo zugenommen.
Erwin starrte an die weiße Schlafzimmerdecke und versuchte sich zu erinnern. Für einen Moment war er sich unsicher, ob er das alles nur geträumt hatte. Da war diese weibliche Stimme im Ohr, die zärtlichen Hände und Küsse. Selbst ein unbekanntes Parfüm lag noch über dem Bett. Das Bett war warm, selbst unter dem Oberbett neben ihm.
Die Frau, die eben noch über ihm gelegen hatte, war also real. Wann hatte er sie kennengelernt? Er konnte sich nicht erinnern, gestern noch vor der Tür gewesen zu sein. Zudem war es nicht seine Art, Fremde mit nach Hause zu nehmen. Gierig sog er die Melange aus Parfüm und weiblicher Haut auf und umarmte sich mit geschlossenen Augen selbst. Ein wunderbares Gefühl. Für einen Moment hörte ein Wasserrauschen aus dem Badezimmer. Erwin hielt die Augen geschlossen, aber das Sommersprossengesicht kam nicht zurück. Es war wie verhext. Er befreite sich aus der eigenen Umklammerung, schlug die Bettdecke weg und stieg aus dem Bett. In dem Moment, als seine Füße den kalten Boden berührten, verschwanden die Erinnerungen. Als er das dunkle Bad betrat, wusste er nicht einmal, warum er jetzt hier war. Die Uhr zeigte 5.29 an, viel zu früh, um einen neuen Tag zu beginnen.
Adele starrte an die Decke. Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Uhrzeit wurden in roten Lettern an die Wand geworfen. Verloren kam sie sich vor in diesem riesigen Bett. Es war an der Zeit, dass das Kind zurückkam. Der Kater hüpfte aufs Bett und schenkte ihr Gesellschaft. Sie streichelte das Fell und genoss das Schnurren an ihrem Ohr. Für einen Moment bewegte sich die Matratze, jetzt war auch die Katze im Bett.
Adele liebte die Zeit, wenn die Nacht den Stab an den Tag überreichte. Diese Zwischenzeit liebte sie besonders. So stand sie auf, schlüpfte in ihre Klamotten und schnupperte auf der Treppe nach unten den frischen Kaffee. Diese Maschine mit eingebauter Zeitschaltuhr hielt sie für die beste Erfindung des Jahrhunderts. Adele füllte den heißen Kaffee in eine Thermotasse und verließ das Haus. Punkt 5.35 Uhr bestieg sie das Rad und fuhr ihre täglichen Runden, spätestens um 6.30 Uhr wollte sie im Schwimmbad sein.
„Viel Bewegung“, hatte der Arzt gesagt. Ihr war sein Blick, der hoffnungslos war, nicht entgangen. Arschloch, hatte sie gedacht und am gleichen Tag drei verschiedene Hometrainer bestellt.
Die ersten Pendler verließen nachgebaute Bauernhäuser mit Rieddächern und machten sich auf den Weg Richtung Hamburg. Adele bog den ersten Feldweg ein. Ab jetzt würde sie keiner Menschenseele mehr begegnen, dessen war sie sich sicher. Sie setzte die Kopfhörer auf und verwandelte das Smartphone in eine Musikbox. Wenn ihr langweilig war, saß sie oft vor dem Rechner und bestellte wahllos Musiktitel im Internet. In dieser Stunde dachte Adele an nichts, sie nahm nur auf. Sie genoss die Umgebung, die mit dem Tag erwachte und ließ laute Musik an ihr Ohr.
Erwin lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Wie ein Ertrinkender versuchte er sich an den Erinnerungen festzuhalten. Unaufhaltsam entglitt ihm der Traum. Die Struktur der Tapete verschwamm. Die Augen ertranken im Wasser.
Adele trank den Kaffee aus der Thermotasse und genoss das Alleinsein. Auf den Weiden hoben ein paar Kühe neugierig die Köpfe und schnauften zur Begrüßung. Von weitem wirkten sie wie alte Lokomotiven, die Dampf abließen. Sie liebte diesen für sie zeitlosen Moment. Keine Vergangenheit, keine Wünsche auf die Zukunft, nur ein Hier und Jetzt.
Adele öffnete den Korb auf dem Gepäckträger und nahm eine Handvoll Möhren heraus. Als sie sich dem Zaun näherte, trabten die ersten Pferde auf sie zu.
Erwin lag auf dem Bauch und inhalierte das Kissen. Der parfümierte Geruch aus dem Traum war verschwunden, geblieben war der Schweiß der Nacht.
„Was sagen Sie jetzt? Da staunen Sie, was?“
„Ist das alles?“
„Es ist nicht viel, aber ein Anfang.“
„Dann zeigen Sie mal her.“
„Ich dachte, Sie haben alles im Kopf.“
„Jetzt seien Sie doch nicht so kindisch.“
„Na, was glauben Sie, was das ist?“
„Papierschnitzel. Ich wusste gar nicht, dass wir hier einen Papierschredder haben.“
„Unsinn! Das waren zwei Flugtickets. Wollen Sie gar nicht wissen wohin?“
„Nach Venedig. Ich erinnere mich an die leidige Sache. Seinerzeit kam da einiges zusammen.“
„Sie haben es verbockt, stimmt‘s? Und jetzt wollen Sie die Sache wieder gerade rücken.“
„Damals waren zu viele an dem Projekt beteiligt. Die Kommunikation war ungenügend. Es kam, wie es kommen musste.“
„Aber Sie hatten doch die Leitung.“
„Manchmal unterschätzt man die Kleinigkeiten. Sicher, es war mein Fehler.“
„Das Wort Fehler aus Ihrem Mund, das werde ich mir im Kalender rot anstreichen.“
„In was?“
„Ich weiß selbst, dass es hier keine Kalender gibt. Aber wussten Sie, dass er Gedichte geschrieben hat.“
„Sie sind von mir.“
Erwin saß vor einem riesigen Bildschirm und zog Textblöcke hin und her. Der Anfang war immer das Schlimmste. Stundenlang starrte er auf einen weißen Bildschirm bis ihm etwas einfiel. Meist begann er mit der Auswahl der Farben, für die er anschließend die passenden Schriften suchte.
Ein gemeinnütziger Verein war der Auftraggeber für eine neue Homepage.
Mit einem Klick wechselte Erwin das Programm und befand sich mitten in einem Roman, der nicht enden wollte. Seit mehr als zehn Jahren saß er an diesem Mammutprojekt, das am Ende über tausend Seiten haben sollte. Er befand sich auf der Seite 636 als das Telefon summte.
„Hallo? Hallo!“
Auf der anderen Seite war eine Türglocke zu hören, dann ein Knacken. Der Anrufer hatte wieder aufgelegt.
Ein Kunde hatte den Laden betreten und Adele ihr Verkäufergesicht aufgesetzt. Sie hasste Kundengespräche. Die meisten kauften ohnehin nichts, sondern wollten nur reden, um den Tag irgendwie herum zu kriegen. Stundenlanges Geschwätz für nichts und wieder nichts. Überhaupt war das heute nicht ihr Tag. Sie hatte sich im Schwimmbad im Spiegel betrachtet und am liebsten ausgespuckt. Warum gelang es ihr nicht abzunehmen? Wo sie doch sonst einen gesunden Lebenswandel pflegte. Sie trank keinen Alkohol, aß wenig Fleisch, rauchte ab und an mal eine Zigarette. Aber sonst: Es waren die Süßigkeiten, sie wusste es. Seit Emil auf der Welt war, hatte das Laster einen Empfänger gefunden. Selbst die Depots ihres Prinzen, wie sie den Jungen zärtlich nannte, waren vor ihr nicht sicher.
Ich bin ein Trüffelschwein, dachte sie von sich. Nach außen hin, ließ sie sich nichts anmerken. Vor allem bei den Frühschwimmern nicht, den Idioten. Eine dumme Bemerkung und sie teilte aus. Das war schon in der Schule so. Sie ließ sich nichts gefallen.
Nach ihrem Vater hätte sie ohnehin ein Junge werden sollen.
Die Türglocke ging. Der Kunde hatte den Laden verlassen.
Sie schaute auf die Uhr und fragte sich, ob sie noch einmal anrufen sollte.
Irgendetwas hatte sich in ihr festgesetzt. Meistens bekam sie das, was sie wollte. Sie schaute auf die Uhr. In zehn Minuten konnte sie den Laden über Mittag zusperren. Dann kam der Junge aus der Schule. Ein Viertklässler, der sich seit Wochen auf das Gymnasium freute. Adele hatte ihm einen Rucksack anstatt des orangefarbenen Ranzen versprochen.
Zehn Jahre waren schnell herum gegangen. Zehn Jahre, die alles davor vollkommen auf den Kopf gestellt hatten. Sie hatte sich Zeit gelassen mit dem Kinderkriegen. Dreimal hatte sie abgetrieben. Einmal während ihrer Ausbildung und zweimal als sie ein paar Jahre im Ausland gearbeitet hatte. Keiner der vermeintlichen Väter wäre es wert gewesen, ihr Erbgut groß zu ziehen. Sicher, sie hatte sich die Männer ausgesucht, um ein bisschen Spaß zu haben. Sie hatte dabei auf ihr äußeres Erscheinungsbild geachtet und dass sie stets die Oberhand behielt. Kontrolle war ihr überaus wichtig. Nur einmal hatte sie ein Junge gelinkt, dass war in früher Jugend gewesen. Es hatte weh getan, besonders dass sie auf so einen Schaumschläger hereingefallen war. Die eigene Dummheit war der eigentliche Schmerz. So etwas passierte ihr kein zweites Mal. Am liebsten waren ihr ausländische Studenten und verheiratete Männer. Bei beiden wusste sie, dass alles nur von einer begrenzten Dauer sein würde. Die einen würden zurück in ihre Heimat, die anderen niemals ihre Ehefrauen verlassen. Sie spielte gern die Rolle der Geliebten. Sie fand, dass das der bessere Part in einem Dreiecksverhältnis war. Kleine Reisen, schöne Hotels und Restaurants, ein immer höflicher Mann, der geradezu mit seinen Augen bettelte, mit ihr in die Kiste zu steigen.
Adele schloss den Laden ab und wunderte sich über ihre Gedanken.
Die Vergangenheit war eigentlich nicht ihre Sache. Weg ist weg und vorbei ist vorbei. Durch eine Zwischentür betrat sie das Wohnhaus. Eine Katze streifte ihre Beine. Gemeinsam ging es in die Küche.
Erwin spazierte durch den Botanischen Garten, wenn er die Augen schloss, hatte er das Gefühl jemand würde neben ihm gehen. Er spürte regelrecht die Wärme seiner unsichtbaren Begleitung. Ein Mann und eine Frau, weit über achtzig Jahre, kamen ihm Händchen haltend entgegen. Sie machten einen zufriedenen glücklichen Eindruck. Er dachte für einen Moment an seine letzte Beziehung.
„Wir sehen uns“, waren ihre letzten gemeinsamen Worte gewesen. Schnell hatte man sich aus den Augen verloren. Im Grunde waren sie beide für den jeweils anderen, wie vom Erdboden verschluckt.
Frauen mit Kinderwagen drehten ihre Kreise. Wie ein Außerirdischer kam er sich vor, am wirklichen Leben nicht beteiligt.
Erwin setzte sich auf eine Bank und legte den rechten Arm gestreckt auf die Rückenlehne, so als wollte er jemanden umarmen.
Gegenüber plätscherte ein Brunnen: Genauso verlief sein Leben.
„Das ist ja nicht zum Aushalten. Ein Trauerspiel das Ganze. Bieten sie dieser Schmiere Einhalt.“
„Die Geschichte beginnt doch erst. Geben Sie den beiden eine Chance.“
„Eine Chance, eine Chance. Sie wissen doch selbst wie viel diese beiden an Möglichkeiten vertan haben.“
„Sie haben die Akte gefunden?“
„Sagen wir so, ich setze die Fundstücke wie ein Puzzle zusammen. Sie hat ihm in der ersten Versuchsreihe eine Uhr geschenkt.“
„Ich weiß, es war im Turmzimmer am ersten Tag eines neuen Jahres.“
„Ich habe mir dennoch beim Chef einen Termin geben lassen.“
„Einen Termin ohne Kalender?“
„Ach, hören Sie doch auf. Sie wissen genau, wie das hier läuft. Irgendwann kann er mir nicht aus dem Weg gehen und dann rede ich Tacheles. Was für eine Verschwendung an Energie und Ressourcen.“
„Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient.“
„Soll das eine Anspielung sein?“
Goetz
Alle Namen und Charaktere in diesem Buch
sind erfunden, und jede Ähnlichkeit
mit lebenden oder verstorbenen Personen
ist rein zufällig.
Alle Rechte bei Johannes Wierz
Für R.
1.
Es ist eine unserer letzten Begegnungen gewesen. Goetz hat mir einen dicken Umschlag zugesteckt und gemurmelt: „Wenn ich dann mal tot bin.“
Naturgemäß habe ich das nicht ernst genommen, so wie niemand in unserem Alter so etwas damals ernst genommen hat. Wir haben gerade die dreißig überschritten gehabt und uns immer noch unsterblich gefühlt. Der Tod ist etwas für Weicheier und Greise. Sicher, Goetz ist krank gewesen. Der Rücken nach einem Unfall kaputt. Als Postbeamter hat er eine kleine Pension bezogen. Mit achtundzwanzig ist er in Rente gegangen und hat sich Visitenkarten drucken lassen, auf dem sein Name stand, darunter in Großbuchstaben: DEFÄTIST.
Auf Anhieb habe ich den Typen mit den irren Augen und der Angewohnheit mit den Zähnen zu klappern, wenn er erregt war, nicht gemocht. Keine Ahnung warum. Anfangs habe ich sogar Angst vor diesem Irren gehabt. Dennoch bin ich ihm zu keiner Zeit aus dem Weg gegangen. Böse Zungen würden es als Sozialromantik bezeichnen oder noch weiter gehen und davon sprechen, dass es mich aufgegeilt hat, mit einem zusammen zu stehen, dem es noch schlechter geht, als mir selbst.
„Ich schreibe auch“, hat er mal gesagt, gegrinst und mit den Keramikzähnen geklappert. In seiner Zimmermannshose hat er ohnehin verloren ausgesehen. An einer Kette mit Karabiner hat er die Schlüssel getragen, mindestens zwanzig an der Zahl. Auch die Schuhe haben klobig und viel zu groß gewirkt. Wenn Goetz zur Toilette geschwankt ist, hat man den krummen Rücken und den Buckel gesehen, der neben dem linken Schulterblatt hervorgelugt ist. Gleichzeitig haben die Schuhe bei jedem Schritt geklappert, als ob zusätzliche Gewichte im Inneren gewesen sind. Goetz ist wie ein Roboter gegangen und hat sich in die Schieflage eines Skifliegers begeben können, ohne umzufallen.
Am Morgen danach habe ich den fremden Umschlag in meiner Tasche entdeckt und mich erinnert.
„Mach ihn frühestens zehn Jahre nach meinen Tod auf“, hat Goetz zu mir gesagt. Wir haben uns jetzt schon über Jahre gekannt und ich habe gewusst, dass er es ernst meinte.
Dreizehn Jahre sind seitdem vergangen. Zufällig habe ich über einen flüchtigen Bekannten erfahren, dass Goetz tot ist. Wir haben uns davor schon aus den Augen verloren.
Unser Stammlokal hat einem Reisebüro weichen müssen. In der letzten Nacht, als das Fell in Form von Lautsprechern, Barhockern, Aschenbechern und Gläsern verteilt worden ist, haben wir uns kurz in den Armen gelegen und uns mit einem Bis dann verabschiedet.
Alle haben wir gelacht und wahrscheinlich wirklich gehofft, uns irgendwo in einem ähnlichen Lokal wieder zu sehen.
Aber außer im Fernsehen gibt es keine Wiederholungen, vielleicht noch in Doktorarbeiten oder bei Bestsellerautoren. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die ein Massband mit sich führen und am Geburtstag einen Zentimeter davon abschneiden. Meine Großmutter ist fast 102 Jahre alt geworden. Was spricht dagegen, mit 100 Jahren noch einen Vertrag über drei Bücher abzuschließen?
Alles spricht dagegen. Die Zigaretten, der Alkohol, die Frauen, der Liebeskummer, das zerbrochene Herz, die Existenzangst, alles.
Wie bringt man einen Bankberater zum Lachen? Wenn man den Wunsch äußert, mit fünfzig Jahren ein Haus bauen zu wollen.
Ich habe die Welt nicht gemacht, aber ich bin ein Teil von ihr. Auch wenn in manchen Augen meine Halbwertzeit längst abgelaufen ist. Alle werden wir älter. Aber genauso leugnen es alle. Vor allem die Werbefuzzies, die später einmal behaupten werden, alles nicht so ernst gemeint oder von alledem nichts gewusst zu haben. Sie werden das Bild vom kleinen Rädchen bemühen und sich nervös an die langen Nasen fassen. Man hat doch Familie werden sie stottern.
Alle sind sie unzufrieden, auf dem Weg zur Perfektion, die es sicherlich nicht gibt.
Schönheitsoperateure schwören auf Symmetrik und zeichnen mit Filzstiften Kurven auf Haut. Das Ergebnis ist erschreckend.
Der glückliche Mensch ist sich selbst genug, er braucht nichts mehr.
„Was brauche ich mehr zum Glücklichsein...?“, heißt es in einem Schlager. Das Schreckgespenst jedes Werbefuzzies. Die Unzufriedenheit ist es, die alles antreibt.
„Wenn ich unzufrieden bin, kaufe ich mir ein Hemd“, hat der Psychologieprofessor in einer der ersten Vorlesungen gesagt. Seitdem habe ich ihn beobachtet und heimlich Fotos geschossen. Während meines gesamten Studiums hat er nicht einmal dasselbe Hemd getragen. Am letzen Tag habe ich ihm das Album mit den Bildern geschenkt, ohne bis heute eine Reaktion darauf erhalten zu haben.
Ich bin ein Mensch ohne Echo. Wenn ich bei Grün über die Straße gehe, muss ich immer aufpassen. Ich werde nicht gesehen. Im Gewühl der Fußgängerzonen werde ich zu Boden gerissen, wenn ich nicht aufpasse. Auf Klassentreffen oder anderen ähnlichen Veranstaltungen brauche ich erst gar nicht aufzutauchen. Niemand kennt mich oder bringt mit meiner Person irgendetwas in Verbindung. Beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Künstlerkarriere.
Hallo, was ist los mit mir?
Hallo!
Staub habe ich geschluckt und nicht zu wenig. Auf dem Dachboden bin ich umher gestiegen, habe mir unzählige Male den Kopf gestoßen und einmal sogar einen rostigen Nagel in die Nase gerammt. Es hat geblutet wie Sau. Aber es gibt schlimmeres, nicht wahr, lieber Goetz?
Erinnerst du dich, wie du mir in die Nase gebissen hast und nicht mehr losgelassen hast. Ich bin gezwungen gewesen, die mehrmals so in die Eier zu schlagen, am Ende sie sogar so zu quetschen, bis du wie ein altes Liebespaar nach Luft gerungen hast.
Weisst du noch, wie ich ins Krankenhaus gefahren bin? Die Nase blutig bis zum Knochen. Gegen Tollwut, gegen Wundstarrkrampf, Blutvergiftung, und, und, habe ich mich impfen lassen. Blut haben sie mir abgenommen und mit faltiger Stirn von AIDS gesprochen.
Das in die Nase beißen, hat ein Urvertrauen zerstört. Niemand ist auf so etwas vorbereitet. Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht.
Staub habe ich geschluckt, Unmengen an Staub, Regale habe ich abgerückt, aber nirgends ist dieser gottverdammte Umschlag gewesen.
Einen Karton mit Bierdeckeln habe ich gefunden mit Telefonnummern ohne Namen darauf. Zwei Tage habe ich damit verbracht, sie abzutelefonieren. Aber die Namen, am anderen Ende der Leitung haben mir nichts gesagt. Selbst die Stimmen sind mit fremd gewesen, obwohl ich mir sonst Stimmen recht gut merken kann. Von fast jedem fremdsprachigen Schauspieler kenne ich die Synchronstimme. Aber die Stimmen aus meiner Bierdeckelsammlung haben mir nichts gesagt.
Nachdem meine Wohnung aussieht, wie nach einer Hausdurchsuchung, bei der mehrere Handgranaten zur Explosion gekommen sind, schaufle ich mir zwischen Büchern, losen Papierbergen und Aktenordnern ein Plätzchen frei. Ich muss überlegen.
Vor zwei Jahren, am dreißigsten Dezember habe ich alle Briefe von einer gewissen Susi Ortmann im Wald verbrannt. Vielleicht ist der Umschlag da mit reingerutscht. Eine Grube habe ich damals ausgehoben und all den seelischen Müll in das Loch geworfen. Naturgemäß ist das Loch viel zu breit und zu tief gewesen. Die paar Bilder und Briefe der Susi Ortmann haben zwischen Wurzeln, Ameisen und Regenwürmern einfach lächerlich ausgesehen. Ich erinnere mich genau. Im Eiltempo bin ich nach Hause gefahren und haben einen ganzen, nein, drei große Müllsäcke mit Briefen, Postkarten, Liebesbeschwörungen aller Art, auf diese Weise entsorgt. Hinter jedem Aktenordner hat doch so ein verräterischer dicker Umschlag gesteckt, aus dem ich Liebesschwüre und Hasstriaden von Ariane bis Xanthippe gezogen habe. Weg damit, habe ich mir gesagt. Weg damit und alles auf die drei blauen Müllsäcke verteilt. Schnell wieder zurück in den Wald, um vor Einbruch der Dunkelheit mein Werk zu vollenden. Der ganze Ballast hat gebrannt, als würde der Teufel selbst darin stecken. Die Flammen haben so hoch geschlagen, dass mir nichts anderes übrig geblieben ist, als die Hose zu öffnen, um dem Feuer mit Urin Einhalt zu gebieten. Den Rest hat die feuchte Walderde erledigt, die ich in das Loch zurück geschüttet habe. Zum Glück hat ein Schneefall eingesetzt und das Ganze bedeckt. Wahrscheinlich ist der Umschlag von Goetz mit in einen der Müllsäcke gerutscht.
Wenn ich etwas Suche, dann suche ich es, bis ich es gefunden habe.
Also zurück in den Keller und auf den Dachboden. Muffige Feuchtigkeit und trockene Trisstesse. Die wertlose Sammlung eines Lebens. Der Umschlag bleibt verschwunden.
Was bleibt da noch?
Zurück in die Wohnung, wo ein Unhold gewütet hat. Wie komme ich eigentlich darauf, nach diesem blöden Umschlag zu suchen? Nur weil mir eine Kneipenbekanntschaft bedeutungsschwanger etwas zugesteckt hat, zerstöre ich meine Wohnung?
Hallo!
Aufwachen!
Ich setze mich auf den freien Platz, den ich mir frei geschaufelt habe und schaue in die Ferne. Der Horizont ein Hügel aus Büchern und Manuskripten, die ich alle gelesen habe.
„Sie lesen?“, hat mich misstrauisch der Vermieter gefragt und durch die braune Brille gedroht, bloß nicht zu viele geistige Ergüsse in seine Wohnung zu bringen.
„Letztendlich bleibt es meine Wohnung“, hat der Vermieter gesagt und drei Mieten, als Sicherheit, im Voraus verlangt.
So sitze ich da in meiner Unordnung, starre auf einen Stapel geistiger Ergüsse, die ich längst vergessen habe und die mir jetzt so fremd vorkommen. Ich greife mit der linken Hand überkreuz nach rechts, hinein in den Urwald ungeöffneter Briefe.
Lila, rot, gelb, sind die Umschläge, - die meisten aber grau und mit Fenster. Schon nach wenigen Versuchen spüre ich plötzlich, das richtige Kuvert in den Händen zu halten. Ein unscheinbarer brauner Umschlag mit dem Siegel einer Knappschaftskasse. Zugeklebt mit mindestens einer Rolle Tesafilm. Kein Zweifel, das muss Goetzes Hinterlassenschaft sein.
„Wenn ich denn mal tot bin“, hat Goetz gesagt und mit den Zähnen geklappert.
Tagelang schleppe ich den Umschlag von einem Zimmer in ein anderes. Das muss unbewusst geschehen sein. Denn, egal welchen Raum ich auch betrete, das geschlossene Kuvert liegt schon da. Es wartet nicht nur, es belauert mich geradezu. Selbst im Bad hat es auf dem Wannenrand gelegen. Ein kleiner Stoß und alles wäre vorbei.
Ich erinnere mich, dass ich noch am Abend, als Goetz mir den Umschlag mit den Worten Wenn ich denn mal tot bin überreicht hat, mit mir gerungen habe, ihn nicht zu öffnen.
Die ganze Nacht habe ich damals wach gelegen und mir Argumente überlegt, warum ich das Versprechen, das Kuvert erst nach zehn Jahren zu öffnen, brechen könnte.
Zehn Jahre, was für eine Zeit, besonders zwischen dreißig und vierzig Jahren. Das Jahrzehnt in dem endgültig die Weichen gestellt werden. Heirat, Kinder, Hausbau, verknüpft mit der Karriereleiter. All das ist ja in meinem Umfeld passiert. Unmengen an Geld verschenkt, verknüpft mit einer Unterschrift auf einer Glückwunschkarte, auf der schon mehrere dutzend Menschen unterschrieben haben. Namen, die mir allesamt nichts gesagt haben. Fadenscheinig immer eine Entschuldigung gefunden, nicht auf einer der unseligen Hochzeiten, Taufen und Hauseinweihungen dabei sein zu müssen.
Mein Gott, wie schnell sich Menschen verändern können? Wobei das so ja nicht stimmt. Sie haben einfach ihre jugendliche Revoluzzermaske abgelegt, nicht mehr und nicht weniger. Mit der Welle zu schwimmen bedarf keiner Kunst, selbst für den Toten Mann gibt es das Schwimmabzeichen. Die wirklichen Schwimmer hatten und haben es schwer. Das gegen den Strom schwimmen, kostet eben. Da gehört die Vorstadthölle nicht dazu. Der Preis des Gegen des Strom Schwimmers ist der frühe Tod.
„Die Guten sterben immer zu früh“, sagt der Volksmund und fügt auf der anschließenden Trauerfeier nach ein paar alkoholischen Getränken hinzu, während er auf der Toilette das Wasser lässt. „Gut, dass der weg ist!“
Als ich von Goetzes Tod erfahren habe, ist die Welle längst abgeebbt, falls es überhaupt eine gegeben hat.
„Übrigens der, wie hieß er gleich noch, ist tot!“
Erst durch Nachfragen habe ich erfahren, wer da überhaupt verstorben ist.
Heute frage ich nicht mehr nach.
Ich verlasse die Wohnung und habe im Park das Gefühl, dass mich jemand verfolgt. Ich mache noch ein paar lässige Schritte, bleibe dann abrupt stehen und drehe mich blitzschnell um. Ein Kind beginnt zu weinen und wird von der Mutter zum Schutz zu ihr herangezogen. Ansonsten leere Wege und Bäume. Vielleicht ist es der Gedanke verbunden mit der Frage, was mich erwartet?
Vielleicht ist Goetz ein großer Witzbold gewesen und er hat nur leere Seiten in den Umschlag gesteckt. Aber würde jemand leere Seiten in einen Umschlag geben, um ihn anschließend mit einer ganzen Rolle Tesafilm zu versiegeln?
Normal nicht, ein Psychopath schon. Goetz hat sich gebrüstet, alle Stationen der Landesklinik durchlaufen zu haben. Einmal sei es ihm sogar gelungen, nachdem man ihm am Bett an Händen und Füßen fixiert hat, mit samt dem zentnerschweren Bett durch die Klinik zu trippeln. Gut, es sind nur ein paar wenige Meter gewesen, aber immerhin.
Zu den Besuchszeiten, besonders am Wochenende, hat er sich regelmäßig den Spaß gemacht, sich vom Treppenhaus in die Fangnetze zu stürzen, die über der Eingangshalle gespannt sind.
Doch, Goetz würde ich alles zutrauen.
Ich mache kehrt. Heute würde der Tag sein. Ohne Kerzen und eine gute Flasche Wein. Einfach den Umschlag aufreißen und gut ist.
Ab wann verfällt bei einer Briefbombe das Haltbarkeitsdatum?
Immerhin hat Goetz mir in die Nase gebissen und versucht mir mit dem Zeigefinger ein Auge auszustechen. Eine Briefbombe würde zu Goetz passen, das ist genau sein Humor. Vielleicht hätte ich genauer nachfragen sollen, wie er ums Leben gekommen ist. Der Mann ist noch keine vierzig Jahre alt geworden. Andererseits hätte es in der Zeitung gestanden, wenn Goetz bei Experimenten in seinem Bombenlabor ums Leben gekommen wäre. Nein, so genau will ich es auch nicht wissen. Denn andererseits kann es sein, dass Goetz, sein Innerstes niedergeschrieben hat, mit dem ich nicht unbedingt konfrontiert werden will.
Was weiß ich über Goetz?
Nichts!
Man kennt sich ja selbst nicht.
Aus einem Mülleimer im Park lugt ein weißer Umschlag heraus, der mit Tesafilm umwickelt ist. Ich muss dieses unsägliche Spiel beenden.
„Sie haben mein Kind traumatisiert. Ich werde sie regresspflichtig machen. Bitte geben Sie mir Ihre Kontonummer, gegebenenfalls eine Einzugsermächtigung. - Piep - Sie haben mein Kind...“
Ich flüchte nach Hause. An einem Weiher vorbei, auf dem große Lotusblüten schwimmen, aus dessen Blüten Umschläge mit umwickelten Tesafilm hervor lugen. Die Kuverts sind überall, regnen sogar vom Himmel. Es wird Zeit, dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Schon während des Aufschließens der Wohnungstür spüre ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Ein kühler Windstoß begrüßt mich, als ob ich ein Fenster offen gelassen hätte. Aber sie sind alle verschlossen und unversehrt, wie ein Kontrollgang mir bestätigt.
Eine Stunde bin ich auf der Suche nach dem Umschlag. Sogar das Rauchen habe ich wieder angefangen.
Ich habe ihn hier hingelegt!
Natürlich kann ich das beschwören! Oder ist es doch da oder dort gewesen?
Ich schnappe mir eine Flasche, die ich vor Jahrzehnten zum Einzug bekommen habe und entkorke den Grappa, der nach eingelegten Rosinen schmeckt.
Im Grunde hat Goetz immer Ärger bereitet. Zu Lebzeiten und jetzt sogar über den Tod hinaus. Wahrscheinlich wird die Verwandtschaft seine Schulden bis heute abbezahlen. Wahrscheinlich ist das von vornherein seine Absicht gewesen, als er mir den Umschlag mit den Worten übergeben hat: „Wenn ich dann mal tot bin!“ Mir nichts als Ärger zu bereiten.
Wie ein erfolgloser Detektiv lege ich meine Beine auf den Schreibtisch und trinke bittersüßen Alkohol. Gleichzeitig versuche ich mich ohne Zuhilfenahme der Hände der Schuhe zu entledigen. Der eine fliegt hinter eine Musikbox, der andere in kleinerem Bogen auf den Boden, wobei der Aufprall ein seltsames Geräusch verursacht. Er ist hinter den Schreibtisch gefallen, auf einen dicken satten Umschlag, der mit einer Rolle Tesafilm versiegelt ist.
Jetzt oder nie.
Jetzt könnte ich den Umschlag öffnen, aber ich schlafe ein. Habe komische Träume. Goetz verfolgt mich, taucht mehrfach auf, wie in der Matrix. Die Sonnenbrille hat er weggelassen. Dafür will er mir andauernd in die Nase beißen.
Was bewegt einen Menschen dazu, einem anderen in die Nase zu beißen?
Und wieso, träume ich davon?
Christine - Rückkehr nach Wien
PERSONEN:
RENE Allermann, Erfolgsautor
RUTH Allermann, seine Frau
GEORG, sein Manager und Agent
CHRISTINE, eine junge Schauspielerin
STIMME
Anmerkung zum Text:
Christine - französisch ausgesprochen
Christine - deutsch ausgesprochen
Eine luxuriöse Hotelsuite
Prolog
Aus dem OFF eine STIMME.
STIMME:
Warum sind Sie wiedergekommen?
RENE:
Ja
ich liebe sie
die Toskana
Viel mehr noch
ich brauche sie
Aber dennoch ist es von Nöten
von Zeit zu Zeit
die Örtlichkeiten
zu wechseln
STIMME:
Und wieso kommen Sie erst jetzt?
RENE:
Die Frage ist falsch gestellt
Denn eigentlich
war ich nie fort
Wie viele Menschen leben hier?
leben hier
in ihren Träumen
in denen sie
ferne Länder bereisen
oder gar
mit dem Gedanken spielen
auszuwandern
Ich dagegen
habe diese Stadt
nie verlassen
Meine Helden
Wie oft schritten sie nachts
einsam und verlassen
über den Michaelaplatz
oder an der alten Donau entlang?
STIMME:
Wie oft saßen Sie in Cafés?
Wohnten in schmierigen Pensionen
oder kamen über Vororte nicht hinaus?
RENE:
Nun
die Vergangenheit
ist abgegrast
Es ist an der Zeit
dass ich mich
der Gegenwart widme
STIMME:
Dann werden Sie auch
Christine
wieder sehen?
RENE:
Christine bitte
Sie heißt Christine
und nicht Christine
Verstehen Sie den Unterschied?
Was für Welten liegen
zwischen Christine
und Christine
STIMME:
Nun
werden Sie Christine wieder sehen?
RENE:
Ich bin zurückgekommen
um die Vergangenheit
gegen ein jetzt einzutauschen
Und Christine?
Ich weiß noch nicht einmal
wo sie wohnt
Wissen Sie es?
Ich meine
alles hat doch seinen Platz
Erste Szene
GEORG und RUTH betreten das Zimmer.
GEORG:
Er muss verrückt geworden sein
anders kann ich es mir nicht erklären
verrückt
einfach verrückt
RUTH:
So beruhige dich
Versuche ihn zu verstehen
Er war doch so lange nicht mehr hier
GEORG:
Was hat das denn damit zu tun?
Auf der ganzen Welt
sind wir gewesen
Die Klatschkolumnisten Hollywoods
die Pariser Kritiker
Alle hat er gemeistert
nur in der eigenen Stadt
dreht er durch
RUTH:
Jetzt setz dich doch
Ich mache uns erst mal einen Drink
und um Gottes Willen
beruhige dich
Du wirst sehen
der Whisky
wird dir gut tun
GEORG:
Leck mich am Arsch
mit deiner mütterlichen Philosophie
Wie viele Drinks
hast du ihm denn gemixt?
Nüchtern
kann doch einer allein
nicht soviel Scheiße bauen
RUTH:
Ach so ist das
Jetzt soll ich auf einmal
Schuld haben
Das ist mal wieder
typisch für dich
Also
darf ich dich vielleicht
an eine Kleinigkeit erinnern?
dass du
seine Reden schreibst
GEORG:
Was nützen die schönsten Reden
wenn er sich nicht daran hält
RUTH stellt ihm einen Drink hin.
RUTH:
So
jetzt trink erst mal
Schau
du siehst das alles
zu schwarz
Uns geht es doch gut
René
ist einer der bekanntesten
und bestbezahlten
Autoren
Was kann da so
ein kleiner Fauxpas
schon ausrichten?
Ich meine
ist es nicht ganz natürlich
dass man nach so vielen Jahren
jemanden wieder sehen will?
GEORG:
Das ist mir schon klar
dass das deinen geistigen Horizont
überschreitet
Wir leben von diesem jemanden
RUTH:
So kannst du mit mir nicht reden
GEORG:
Ich kann noch ganz anders
Er entfernt sich.
RUTH:
Wohin gehst du?
GEORG:
Wenn René kommt
ich bin auf meinem Zimmer
Er verlässt das Zimmer.
Sie geht zur Bar nimmt sich ein Glas und eine Flasche,
dabei weint sie leise.
Zweite Szene
RENE betritt das Zimmer.
RUTH weint, vor ihr steht eine fast leere Flasche.
RENE:
Weißt du eigentlich
dass du unheimlich schön aussiehst
wenn du weinst
Das hat so was
imaginäres
Wie war ich?
RUTH:
Gut
aber
RENE:
Ich weiß schon
auf was du
hinaus willst
Es war mir ein inneres Bedürfnis
und außerdem
Ich wollte euch überraschen
Eifersüchtig?
RUTH:
Mache ich den Eindruck?
RENE:
Ich fühle mich richtig wohl
und Christine
das ist schon gar nicht mehr wahr
RUTH:
Warum belügst du dich selber?
Christine
ist immer wahr
und wird es auch immer bleiben
Bis das der Tod euch scheidet
RUTH beginnt hysterisch zu lachen
RENE:
Gut
dass es dir wieder besser geht
Ich werde mich ein wenig hinlegen
Und heute Abend
Ruth
auf dem Empfang
werden wir tanzen
Ruth
nur wir beide
Freust du dich?
Dabei tanzt er im Walzertakt in das Nebenzimmer.
RUTH:
Du sollst Georg anrufen
er ist auf seinem Zimmer
Dritte Szene
GEORG telefoniert und zieht sich dabei aus.
GEORG:
Ja
Wolfgang
ja
wir haben uns jahrelang
nicht gesehen
Ja
Wolfgang
Hast du es auch gesehen
ja
deswegen rufe ich an
Vielleicht in der Bar heute Abend
Ja
wir reden auch
über Frauen und Fußball
Kannst du mir einen Gefallen tun?
Ja
wir reden auch
über Frauen und Fußball
ich verspreche es dir
Pass auf
Ich brauche eine
deiner mittelmäßig
begabten Schauspielerinnen
Ja
das war ein Scherz
Nein
das war keiner
Ich schicke dir gleich ein Foto
Ja
über das Finanzielle
reden wir heute Abend
Ja
wir reden auch über Frauen
Also
ich muss Schluss machen
Servus derweil
Baba
Er legt auf.
Arschloch
Vierte Szene
RUTH blättert in einer Illustrierten. RENE kommt aus dem Nebenzimmer.
RENE:
Wo ist Georg?
RUTH:
Drüben
RENE:
Hat er zu tun?
RUTH.
Er telefoniert
RENE:
Willst du was trinken?
RUTH:
Mhm
RENE:
Was liest du?
RUTH:
Ich denke
du bist müde
und schläfst
RENE:
Diese Hotelzimmer
RUTH:
Du wolltest mir doch etwas einschenken
RENE:
Die Duschen sind wie
Ich sollte mal etwas
über Hotels machen
Die Leute machen sich
ganz falsche Vorstellungen
Und in Filmen
sind es
falsche Einstellungen
Alles wirkt groß und elegant
Aber wie beschreibt man
Unpersönlichkeit?
Und was versteht
das Management
unter Gastlichkeit?
Beruhigend
ist da nur
die schöne Aussicht
Ja
wir haben wirklich
eine schöne Aussicht
Die Dächer von Wien
sind schon etwas besonderes
Auch darüber
sollte ich einmal schreiben
Die Dächer von Wien
Ja
die Dächer von Wien
Die Ortung
der Wiener Dächer
Ziegel um Ziegel
Wäre das Bett
bloß nicht so groß
RUTH ist inzwischen von hinten an RENE herangetreten.
Sie umarmt ihn und öffnet ihm das Hemd.
Plötzlich macht RENE sich frei.
RENE:
Ich weiß etwas Besseres
Fünfte Szene
GEORG betritt das Zimmer.
GEORG:
Rene?
Ruth?
Er geht durch das Zimmer. Als er merkt, dass er alleine ist, nimmt er lustlos ein Hochglanzmagazin und liest laut eine Liebesgeschichte vor.
Nach einer Weile klingelt das Telefon.
GEORG nimmt den Hörer ab.
GEORG:
Ja hier 214
Wir haben nichts bestellt
Wenn ich Ihnen doch sage
Hören Sie
Da wird sich jemand
einen Scherz
erlaubt haben
Was gehen mich Ihre Kosten an
Er legt auf und liest weiter in der Zeitschrift.
Hinkend betritt RUTH das Zimmer.
GEORG:
Wo kommst du denn her?
RUTH:
Gut
dass du da bist
René ist weg
GEORG:
Wie weg?
RUTH befreit sich von ihren Schuhen und massiert sich
die Füße.
RUTH:
Wir wollten Essen gehen
Diese Schuhe
Ich habe mich umgezogen
Meine Füße
Als ich fertig war
war er weg
GEORG:
Was machte er denn
für einen Eindruck
auf dich?
RUTH:
Wie immer
Nein
warte
Eigentlich war er wie früher
Kannst du dich noch
an unsere Hochzeitsreise erinnern?
GEORG:
Du meinst wohl eure
RUTH:
Wie er alle Plätze
im größten Cafe
am Markusplatz
reserviert hat
GEORG:
Dann hat er also
das Essen bestellt
RUTH:
Woher weißt du?
GEORG:
Die Hoteldirektion hat sich erlaubt
diesen kleinen Scherz
auf unsere Rechnung zu setzen
RUTH:
Er war wie früher
GEORG:
Jetzt setz dich
und hör mir genau zu
Also
In ungefähr zwei Stunden
wird hier
eine junge Schauspielerin
auftauchen
die sich als Christine
ausgeben wird
Und wir werden so tun als ob
RUTH:
Aber René wird doch nicht so dumm sein
und
GEORG:
Er wird
verlass dich darauf
Und du meine Liebe
wirst so tun
als wäre es die Echte
Verstehst du?
für dich und für mich
ist sie die echte Christine
Ich habe Bilder von ihr gesehen
die Ähnlichkeit ist verblüffend
Wieder geht das Telefon. RUTH geht an den Apparat.
RUTH:
Ja
hier 214
Für dich Georg
der Veranstalter
GEORG nimmt das Telefon.
GEORG:
Schön
dass Sie anrufen
Richten Sie es so ein
dass wir noch
einen kleinen Fototermin
dazwischen schieben können
Ja
Christine
ist gefunden
Und das wollen wir natürlich
der Öffentlichkeit
nicht vorenthalten
Danke
Servus
RUTH:
Und wenn die richtige Christine
das mitbekommt
die wird doch
GEORG:
Nichts wird sie
Ich habe mir das genau überlegt
Wenn die richtige Christine
morgen die Zeitung liest
wird sie
ihren René
mit einer anderen Frau sehen
Sie wird denken
dass er sie nie gemeint hat
So einfach ist das
RUTH schaut ihn entfremdet an.
GEORG:
Du brauchst gar nicht so zu schauen
Was ist denn los?
RUTH:
Du hast wohl überhaupt keine Skrupel
GEORG:
Jetzt komm mir nicht so
Es hat dich doch sonst nie interessiert
Für wen tue ich denn
das alles?
Sag mir
für wen tue ich denn
das alles?
RUTH:
Du
tust es für dich
Georg
für dich
Café Landsmann
PERSONEN:
RENE ALLERMANN Erfolgsautor
In einem modernen Kaffeehaus.
Die Inneneinrichtung ist »zeitgeistig« (viel Chrom, heller Marmor
etc.)
Auf der einen Seite ist eine Wendeltreppe, die in den Keller
führt. (darüber Hinweisschilder für die Toilette)
Auf der anderen eine Bar mit Spiegeln, daneben eine große
Pendeltür. Die Vorderfront bildet ein großes Fenster, darauf in
einer Ecke ein Plakat mit der Aufschrift:
» HEUTE GESCHLOSSEN
NEUERÖFFNUNG
IN WENIGEN TAGEN«
Erste Szene
An einem Tisch (ein alter Kaffeehaustisch) sitzt der
»Erfolgsautor«, RENE ALLERMANN, neben sich ein Garderobenständer mit Zeitungen. Tisch, Stuhl und Garderobenständer stehen im krassen Gegensatz zu der
sonstigen Einrichtung. RENE ALLERMANN trägt einen abgetragenen Anzug.
RENE ALLERMANN:
Leer geworden ist es
Manchmal denke ich
ich bin allein auf dieser Welt
wohlgemerkt
neuerdings erst
Früher war es auch hier
nicht so leer
Da traf man sich
war dieser Ort Treffpunkt
für jedermann
Mir ist es egal
Er lehnt sich zurück.
mir ist es immer egal gewesen
habe immer allein am Tisch gesessen
An meinem Tisch
wohlgemerkt
an meinem Tisch
Das Schöne
an dieser Lokalität
ist die Tradition
Namentlich wird man begrüßt
man kennt jede Gewohnheit
die unterschiedlichen Geschmäcker
Die Zeitung liegt schon da
Es ist alles geordnet
alles geregelt
Ja
alles hat hier seinen Platz
Sicher die Preise erhöhen sich stetig
aber dafür ist das Personal
dasselbe geblieben
Ein beruhigendes
schönes Gefühl
in dieselben Gesichter
immer und immer wieder
zu blicken
Die Stimmen
auswendig gelernt
Käme jetzt
der »graue Star« über mich
oder eine andere Augenkrankheit
hier
hätte ich keine Probleme
37 Schritte bis zur Herrentoilette
19 bis zum Kuchenbüffet
Mein Tisch
der dritte von links
der rechte Stuhl am Fenster
Auf dem Tisch
die aktuelle Kuchenkarte
je nach Jahreszeit
Der Aschenbecher
zwei kleine Öffnungen für Zigaretten
und eine größere für die Zigarre
nach dem Kaffee
Ich selber
rauche ja nur noch wenig
die wenigsten wissen es
Auch hier
hat es einige Zeit gedauert
bis sie es registriert haben
Die Außenwelt
macht es einem schwer
alte Gewohnheiten abzustreifen
wie einen alten
speckigen Anzug
Käme ich beispielsweise
nicht zu den von mir vorbestimmten Zeiten
in dieses Café
Fragen würden mir gestellt
eine Lawine an Fragen
Sorgen
würde man sich machen
die Ordnung
käme durcheinander
Vor drei Jahren beispielsweise
starb mein Bruder
eine lästige Geschichte
wirklich unangenehm
Da ich
als einziger nächster Verwandte
naturgemäß
die Aufgabe hatte
alles in die Wege zu leiten
kam mein Leben
für eine kurze Zeit
aus dem Takt
eine unangenehme Geschichte
Das hiesige Personal
ein wirklich sehr aufmerksames Personal
las die von mir aufgegebene Todesanzeige
las meinen Nachnamen
und zog ihre Schlüsse daraus
Als ich Tage später
zur gewohnten Zeit
zu der von mir vorbestimmten Zeit
meinen Tisch
aufsuchen wollte
war dieser besetzt
Mein Tisch
den ich von jeher
immer
zu einer ganz bestimmten Zeit aufsuche
war besetzt
Eine peinliche Angelegenheit
für beide Seiten
Man hielt mich für tot
nicht mehr existent
Man muss sich das einmal vorstellen
Es hat naturgemäß
Konsequenzen mit sich gezogen
Ich habe mich
auf eine Art und Weise
dem Personal genähert
man möge mir das nachsehen
Ja
ich will es offen gestehen
an diesem unsäglichen Tage
habe ich dem Personal
meine Verwandtschaftsverhältnisse
erläutern müssen
habe allen Mitarbeitern
dieses ehrwürdigen
traditionsreichen Cafés
meinen Vornamen mitgeteilt
Man kann durchaus sagen
dass mir diese Handlungsweise
abgezwungen wurde
Ein bedeutender Tag
in der Geschichte dieser Lokalität
Ich habe meinen Bruder
ohnehin nie leiden können
Selbst über den Tod hinaus
hat er mir noch Ärger
und Schwierigkeiten bereitet
Bin seitdem auch nicht mehr
an seinem Grab gewesen
Wer über seinen Tod hinaus
noch in der Lage ist
anderen
Unannehmlichkeiten zu bereiten
hat es nicht verdient
dass man ihn besucht
Er nimmt vom Zeitungsständer eine Tageszeitung mit Halter und blättert sie durch.
RENE ALLERMANN:
Unsinn
Wahnsinn
Schwachsinn
Unsinn
Bei den Todesanzeigen hält er inne.
Im Sommer
sterben sie wie die Fliegen
Das Klima der Stadt
ist im Sommer
nicht für jedermann
bekömmlich
Obwohl der Winter
naturgemäß
für den Tod prädestiniert ist
sterben sie hier
im Sommer
Die Leichenbestatter
und die Angehörigen
freuen sich über diese Tatsache
Das Bestattungsgeschäft
ist in dieser Stadt
ein Saisongeschäft
Der Leichenbestatter
kommt leichter in den Boden
Die Angehörigen sind sicher
vor einer Verkühlung
während den Bestattungsfeierlichkeiten
Mein Bruder
ist natürlich im kältesten Winter
den die Stadt
seit Jahrzehnten
zu verzeichnen gehabt hat
gestorben
Allein die Ausschachtung mit Presslufthammer
und Bagger
hat mich ein Vermögen gekostet
Er blättert bis zu den Kleinanzeigen weiter.
RENE ALLERMANN:
»Sinnliche Wachauerin sucht gleichgesinnten Wachauer«
»Langenzersdorfer Schlachter
sucht Gehilfen zwecks Hausschlachtung«
»Viehzüchter aus Klosterneuburg
sucht erfahrenen Besamer
gegen gute Bezahlung«
»In dreißig Tagen Millionär
Das Handbuch
für den erfolgreichen Geschäftsmann
Wegen Geschäftsauflösung
jetzt um fünfzig Prozent billiger«
Ungläubig schüttelt RENE ALLERMANN mit dem Kopf. Er steht auf, hängt die Zeitung an den Haken und schaut aus dem Fenster.
Nach einer Weile
RENE ALLERMANN:
Es gibt wenige Gäste
die meiner Natur entsprechen
gerade im Sommer
Im Sommer
fühlt man sich oft allein
Zu viele Gesichter
fremde Gesichter
die hier
kurz eintauchen
in die Geborgenheit
in die Wiener Gemütlichkeit
flüchtend
vor dem hektischen Strom
der durch die großen Geschäftsstrassen fließt
Das Klicken der Photoapparate
Kreischende Kinder
überfüllte Reisebusse
der Benzingestank
All das
nimmt im Sommer
dermaßen
Ausmaße an
dass mir oft der Gedanke kommt
wieder zu reisen
Ich habe lange
keine Reisen mehr unternommen
Nicht
dass ich es mir nicht leisten könnte
weit gefehlt
Auch ist es nicht die Angst
in einem fremden Land
das Zeitliche zu segnen
Mein Bruder ist tot
ihn kann ich nicht mehr schädigen
Nein nein
zuviel
habe ich meinen Sinnen zugemutet
In jungen Jahren
zuviel gespeichert
naturgemäß
alles unreflektiert gespeichert
Ich bräuchte sieben Leben
um all das aufzuarbeiten
Allein für die Sortierung
würde ein Leben nicht ausreichen
Er setzt sich wieder.
RENE ALLERMANN:
Ruhelos
bin ich umhergezogen
bis ich dann doch wieder
hier
angelangt war
Die Stadt ist wie ein Sog
sie holt sich ihre Kinder
immer wieder zurück
alles nur eine Frage der Zeit
Den Ausbruch
habe ich versucht
vor Steinhof
Angst gehabt
Jeder kreative Mensch
landet zwangsläufig
irgendwann
in seinem Leben
in Steinhof
Alle wirklichen Künstler der Stadt
sind irgendwann
in ihrem Leben
einmal
in Steinhof gewesen
weil sie nicht aufgepasst haben
den Ausbruch
nicht versucht haben
Mir ist er gelungen
der Ausbruch
in der ganzen Welt
bin ich gewesen
Im Orient den Kaffee getrunken
Es ist eine deprimierende Erfahrung
für mich gewesen
feststellen zu müssen
das selbst in den Ländern
wo die Kultur des Kaffeekochens
zuhause ist
man nicht in der Lage ist
so wie hier
den Kaffee zu kochen
Traurig traurig
Ich dachte noch bei mir
als ich diese Reisen
mit gutem Willen
und einem Schuss
jugendlicher Naivität unternahm
es hielte sich alles so
wie mit der Sprache
aber auch da
wurde ich um Erfahrungen reicher
Wie oft wurde ich enttäuscht
als ich ausländische Autoren
zuvor in deutscher Übersetzung
später neugierig geworden
im Original las
welche Verschiebungen
fanden da statt
Fälschungen
nichts als
dilettantische Fälschungen
Eindrücke
Empfindungen
alles so entfremdet
übersetzt
dass gar
ein neues Bild entstand
Beispielsweise »Lysistrate«
von Aristophanes
Gewaltige Kluften
liegen zwischen der billig Ausgabe in gelb
und einer wissenschaftlichen
fundierten
gebundenen Ausgabe
Ja gebunden
und dementsprechend teuer
dachte ich
in meiner jugendlichen Naivität
Jahre musste es dauern
bis ich dahinter kam
Geld musste ich verdienen
um mir ein Bild
machen zu können
von der Qualität an Übersetzungen
Wissen ist Macht
dachte ich damals
Heute hat es viel mehr
mit Geld zu tun
Im Übrigen
ist der Beruf des Übersetzers
von jeher
ein Hungerleiderberuf
Obwohl
die ausländischen Autoren
die unsäglichen Bücherhitlisten anführen
und die Verleger
Millionen scheffeln
verdienen die Übersetzer
Hungerleiderlöhne
und die heimatverbundenen Dichter
werden gar ganz vergessen
Er schaut auf seine Taschenuhr.
RENE ALLERMANN:
Die Zeit
geht ihre eigenen Wege
und ich den meinen
Jahrelang in Spanien gelebt
Dem Klima zuliebe
Der Gesichtshaut
hat es auch gut getan
ohne Zweifel
Aber der Magen
er weigerte sich
den spanischen Kaffee
zu honorieren
wobei ich nichts Nachteiliges
über den spanischen Kaffee sagen könnte
Bin halt Heimat verbunden
gebe ich offen zu
Im Alter
hat man sowieso
vielmehr Möglichkeiten
offen etwas zuzugeben
Ja Heimat verbunden
das bin ich
ganz ohne Zweifel
Er schaut sich etwas nervös um, dann wieder fällt der Blick auf
die Taschenuhr.
RENE ALLERMANN:
Leer geworden ist es
Noch keine zehn Uhr
und schon niemand mehr da
Die Bedienung
so gerne ich sie mag
und schätze
so lange ich sie
schon kenne
Sie könnte sich ruhig
wieder einmal
blicken lassen
Wahrscheinlich
wieder eine dieser
jetzt immer häufiger werdenden
Betriebsversammlungen
Nicht
dass ich etwas gegen Gewerkschaften hätte
nein wirklich nicht
Aber einer
der im Dienstleistungsgewerbe
an vorderster Front tätig ist
für den
kann doch ein gewerkschaftlicher Beschluss
nicht Bestand haben
Nein wirklich nicht
ist er doch auf Trinkgelder angewiesen
Nicht so der Fall
im gegenüberliegenden Theater
Wären die Herrschaften
dort
auf das Trinkgeld angewiesen
auf die Bezahlung
durch das Publikum
hätte die Stadt
eine nicht zu verachtende Anzahl
an Hungerleidern mehr
Sie könnten sich dann in die Schlange
der Übersetzer einreihen
Er lacht kindisch.
Man merkt ihm an, dass das gegenüberliegende Theater für ihn eine tiefe Bedeutung hat.
RENE ALLERMANN:
Leistung
Freundlichkeit
Service
Hierarchie
Ja
darüber redet niemand
Über die Staffelung der Trinkgelder
redet niemand
jedenfalls nicht öffentlich
Umso mehr sich jemand
im Dienstleistungsgewerbe
der Menschenwürde entzieht
wohlgemerkt
im Dienstleistungsgewerbe
und nicht im gegenüberliegenden Theater
desto höher ist das Bakschisch
das Trinkgeld
Ist es nicht so?
Lassen wir uns
nicht jede Art
an Schmeicheleinheiten
an Schmeichelkeiten
an Schmeicheleien
bezahlen?
In einer Zeit
der festprogrammierten Eitelkeiten
erleben
die professionellen Schmeichler
ohne Zweifel
einen Aufschwung
der sich allabendlich
zu Buche schlägt
Er wiederholt den Satz langsam.
In einer Zeit
der festprogrammierten Eitelkeiten
erleben die professionellen Schmeichler
ohne Zweifel
einen Aufschwung
der sich all abendlich
zu Buche schlägt
Ein wirklich schöner Satz
ein wirklich schöner
gelungener Satz
Ein Satz
der sich lohnt
festgehalten zu werden
Er nimmt Stift und Papier und schreibt den Satz langsam auf, dabei wiederholt er den Satz murmelnd.
Er betrachtet das Geschriebene.
RENE ALLERMANN:
Wirklich
ein schöner
gelungener Satz
Was
frage ich
nutzen da
Tarifverhandlungen
Tarifabschlüsse
Das Trinkgeld
recht verstanden
bewusst eingesetzt
ist eine der letzten Bastionen
der freien Entscheidung
der individuellen Entscheidung
überhaupt
Man kann den Stellenwert
der eigenen Person
beziehungsweise
das was einem
an Höflichkeiten
Aufmerksamkeiten
entgegengebracht wird
in Prozente messen
Moment einmal
Er steht auf und geht zur Tafel, auf der sonst aktuelle Tagesangebote vermerkt sind, und wischt das Geschriebene,
ohne es zu lesen einfach weg
(HEUTE GESCHLOSSEN NEUERÖFFNUNG IN WENIGEN TAGEN).
Er nimmt ein Stück Kreide und schreibt die Prozentzahlen auf.
RENE ALLERMANN:
ZEHN PROZENT
und man gehört zur Gattung
der
STUDIOSI
Der Ober drückt seine Besorgnis
über den ausbleibenden
sonst regelmäßigen Scheck
der Eltern aus
DREISSIG PROZENT
Die Bemerkung
der Glückwunsch
zum bestandenen
EXAMEN
steckt den Rahmen des Entgegennehmenden
SECHZIG PROZENT
Der Kellner verleiht einem
ohne die rechtliche Grundlage
dafür zu besitzen
die
DOKTORwürde
Bei
NEUNZIG PROZENT
gar
wird man
ohne es zu wollen
in den Staatsdienst gehoben
HERR GEHEIMRAT
HERR HOFRAT
HERR BURGSCHAUSPIELER
HERR KAMMERSÄNGER
HERR MINISTERIALDIRIGENT
Da er keinen Platz mehr auf der Tafel hat, hört er mit der Auflistung auf.
An sonnigen Tagen
sogar
in den Adelsstand
Meine Bedienung
und ich
wir haben uns
auf Dichter
geeinigt
Dichter
klingt
handwerklicher
als Poet
oder Autor
In Dichter
steckt Handlung
Leben
Ich bin Handwerker
aber langsam könnte die Bedienung
wirklich kommen
Er geht wieder zu seinem Platz.
Dabei
RENE ALLERMANN:
Um mir die Zeit zu vertreiben
könnte ich die Toilette aufsuchen
37 Schritte
32 1/2
bis zur Tür
der Rest
bis zum Becken
Jetzt ist sie leer
eine Gelegenheit
die ich ausnutzen sollte
Leer muss sie sein
menschenleer
Eine Grundvoraussetzung für mich
Durch Erziehung
so komprimiert
dass ich nicht kann
wenn jemand dabei ist
neben mir steht
In einem so großen Café
es zu schaffen
allein zu sein
ist schon eine Kunst
eine große Kunst
Ich finde
es gibt Dinge
im Leben eines Menschen
die sollte er
allein erledigen
Der Übergang
vom Mädchen zur Frau
Das Gebären
Der Tod
All das
muss man allein erledigen
man muss es nur wissen
sonst scheitert man
Der Stoffwechsel
beispielsweise
Der Stoffwechsel
beziehungsweise
was daraus resultiert
gehört mit Bestimmtheit dazu
Ich hasse es
in einer Art Kollektiv
mein Geschäft zu erledigen
er grinst
Gegenüber die
die
müssen es
die lieben
vergewerkschaftlichen Künstler
Vor Premieren
habe ich mir sagen lassen
sitzen sie
wie die Hühner
auf der Stange
Ich für meinen Teil
bringe das nicht fertig
Das Stöhnen
Das Pressen
Das Aufatmen
All das
bringt mich aus dem Konzept
hindert mich
es einfach zu tun
Es ist schon eine Art der Vergewaltigung
die einem da
die Lokalität aufzwingt
Ich für meinen Teil
bin so sensibel
dass ich Lokalitäten meide
die mehr
als ein Urinalbecken besitzen
Zwei Becken
sind in Ausnahmefällen
wohlgemerkt
in Ausnahmefällen
noch zu tolerieren
Aber die Vorstellung
von drei Becken
und das mittlere
ist nur frei
macht mich rasend
nach einer Weile
Ob sie meinen Kaffee vergessen haben?
Ich werde zum Kuchenbüffet gehen
das sind weniger Schritte
Er geht mit geschlossenen Augen in Richtung Thekenbereich, dabei zählt er laut.
RENE ALLERMANN:
Eins zwei drei
vier fünf sechs
sieben
acht neun zehn
elf zwölf dreizehn
Er stößt gegen die moderne Theke.
Was ist denn das?
Wo sind
der dreizehnte
und der vierzehnte Schritt?
Er berührt vorsichtig die moderne Theke.
Ein Kunstwerk?
Hier?
Hier ein Kunstwerk?
Hier herinnen
hat doch noch nie
ein Kunstwerk
gestanden
Hier herinnen
hat sich noch nie
ein Künstler verirrt
Kunstwerk
Kunstzwerg
Er lacht über sich selber
PERSONEN:
RUDOLF Tierpräparator
MARION Jugendliebe
NIEKISCH Nachbarin
Das Stück spielt in der heutigen Zeit, in einer Altbauwohnung.
Ein großes Zimmer.
Zentraler Punkt: ein altes Karussell, das in drei Segmente eingeteilt ist.
1.Segment: Am See (Gebirgslandschaft, ein künstlicher See mit Schilf, einem ausgestopften Schwan und einem Boot)
2.Segment: Krankenhaus
3.Segment: Hochzeitszimmer (ein Doppelbett mit Nachttisch etc. alles wie neu eingepackt)
Mitten im Raum steht ein Arbeitstisch mit Utensilien.
In einer Ecke ein Feldbett, daneben ein kleiner Kocher, ein großer Schrank.
Auf der einen Seite eine Schiebetür, die offen steht und damit einen Blick in den Flur gewährt, in dem mehrere
Tierpräparationen stehen.
Parallel die Korridortür mit Briefschlitz.
Die Wände im Zimmer sind notdürftig gestrichen.
Der Durchbruch ist in Umrissen (wie das Karussell)noch zu erkennen.
Neben dem Karussell: das Schaltpult mit einem Plattenspieler (aus den fünfziger Jahren).
Über dem Karussell eine große Lichterkette.
Auf der anderen Seite: eine normale Tür, an der Postkarten aus aller Welt hängen.
Jedes Mal, wenn MARION erscheint, ist sie anders gekleidet.
Erste Szene
RUDOLF sitzt am Tisch und arbeitet an einer elektronischen Schaltanlage. Immer wieder macht er Pausen, sichtlich
kann er sich nicht auf die Arbeit konzentrieren.
Auf dem Stuhl gegenüber - mit dem Rücken zum Publikum - sitzt eine Frau.
Auf dem Tisch ein großes Telefon.
RUDOLF:
Wir hätten das nicht einführen sollen
es ist ein Fehler gewesen
ein großer Fehler
Den ganzen Tag schon
bin ich unkonzentriert
nervös
Seit über einer Stunde
sitze ich hier
und gebe eine lächerliche Figur ab
Was soll ich ihr bloß erzählen
wenn sie anruft?
nach einer Weile
Ich könnte ihr erzählen
was ich heute gemacht habe
Sie würde es nicht verstehen
nicht wahr
Anna?
Sie interessiert sich nicht für uns
Dich hat sie von Anfang an ignoriert
Und zu unserer Hochzeit
weißt du noch?
er lacht
Der Brief
ihr Brief
mit keiner Silbe
hat sie dich erwähnt
Kein Glückwunsch
nichts
Sie ist von jeher
eine schlechte Verliererin gewesen
Ja
so hat wohl jeder seine Schwächen
Einsam fühl' ich mich
einsam
wie jeden Donnerstag
Weißt du Anna
das Warten und diese Unkonzentriertheit
An Donnerstagen
fällt es mir schwer
über den Tag zu kommen
Von Donnerstag zu Donnerstag
fällt es mir immer schwerer
über den Tag zu kommen
Der Donnerstag
ist der längste Tag der Woche
nur an Donnerstagen
bin ich so unkonzentriert
Nein
nein
wir hätten es nicht einführen sollen
es ist ein Fehler gewesen
Den ganzen Tag
habe ich auf ihren Anruf gewartet
Heute morgen
als der Wecker geklingelt hat
habe ich gedacht
es wäre das Telefon
Zehn Minuten lang
habe ich den Hörer
in den Händen gehalten
und HALLO
HALLO
Hinein geschrieen
immerzu
ein HALLO
HALLO
Ich bin ein Narr
Anna
ein Narr
Einen alten Narren
hat das Warten
aus mir gemacht
Dabei sagt man doch
im Alter
gehen die Uhren anders
schneller
Sagt man nicht
im Alter
verginge die Zeit
wie im Fluge?
Ein völliger Blödsinn
Die das sagen
haben doch überhaupt keine Ahnung
kennen keine Donnerstage
haben solche Donnerstage
nie erlebt
Was ich heute gemacht habe
willst du wissen?
Nun
nach dem Frühstück
und dem Studieren der Zeitung
habe ich den Schrank geöffnet
und deine Kleider
an die frische Luft gehängt
Es wird Frühling Anna
und da ist es Zeit
die Kleider
an die frische Luft zu hängen
Die Niekisch
ist natürlich
wieder am Fenster gestanden
und hat geschaut
dumm
hat sie geschaut
Ja
Ja
die Niekisch aus dem Zweiten
die hat es gerade nötig
dumm zu schauen
wo ihr doch der Mann abgehauen ist
Man sagt
der Niekisch hätte sich abgesetzt
Er soll in die Kasse
seiner Firma gegriffen haben
der Niekisch
dabei hat die kurz vor dem Konkurs gestanden
Jetzt soll er auf eines Insel leben
mit so einem jungen Ding
Kannst du dir das vorstellen
Anna?
Der Niekisch und so ein junges Ding
einfach lächerlich
Im Haus spricht man davon
dass er seiner Frau
einen Brief hinterlassen hat
in dem soll gestanden haben
dass sie ihm halt nicht böse sein soll
und dass er nun endlich seinen Jugendtraum
verwirklichen könne
Einfach lächerlich
das Ganze
wo doch der Niekisch
auch schon weit über sechzig ist
Ein Jahr
und er wäre in Rente gegangen
Der Alten
geschieht es ganz recht
ich habe sie nie leiden können
Er setzt sich wieder.
Nein
nein
das mit deinen Kleidern
werde ich ihr nicht erzählen
Du weißt ja
wie sie ist
Am Ende
hält sie mich für sentimental
oder gar für senil
Nein
nein
das mit dem Kleiderschrank
werde ich ihr unterschlagen
das geht sie nichts an
Aber die Geschichte
von der Niekisch
die könnte ich ihr erzählen
die ist amüsant
Er nimmt den Telefonhörer ab.
mit unsicherer Stimme
Guten Abend
Marion
Schön
dass du anrufst
Er legt wieder auf.
An Donnerstagen
sollte ich mehr hinausgehen
sollte mich auf Gespräche einlassen
damit ich in Übung bleibe
An Donnerstagen
verspüre ich immer so ein Kratzen im Hals
und so eine Beklemmung
in der Brustkorbgegend
von den Schluckbeschwerden
erst gar nicht zu reden
Immer nur
an Donnerstagen
immer dann
wenn sie anruft
habe ich diesen dicken Kloß im Hals
Abermals nimmt er den Hörer ab.
Guten Abend
Er hüstelt und legt wieder auf.
Auf keinen Fall
werde ich wegen dieser Geschichte
einen Arzt aufsuchen
Ein Arztbesuch
kommt für mich
überhaupt nicht in Frage
Ich gehöre nicht zu den Menschen
denen die Decke
auf den Kopf fällt
die nicht wissen
was sie tun sollen
und nur aus purer Bosheit und Langeweile
einen Arzt aufsuchen
Ich sehe' sie schon vor mir
diese alten verbitterten Frauen
mit Wasser in den Beinen
wie sie warten
und jede Gelegenheit
sofort nutzen
um ein Gespräch anzufangen
Erst letzte Woche
auf dem Friedhof
hat man mir aufgelauert
Freundlich
treten sie an einen heran
mit der Bitte
um die Gießkanne
Aber die Gießkanne
ist ja nur der Anfang
dann kommt das Schüppchen
die Harke
und zu guter Letzt
eine Einladung zum Kaffee
Alten Frauen
muss man aus dem Weg gehen
sonst ist man hoffnungslos verloren
Die Witwen
sind die allerschlimmsten
Ich habe den Eindruck
dass es ihnen nicht ausreicht
nur einen Mann
unter die Erde gebracht zu haben
Er schaut auf seine Uhr.
Zwei Stunden
habe ich noch Zeit
In zwei Stunden
beginnt erst der Spartarif
Marion ist geizig
von jeher
Nein
nein
vorher ruft sie nicht an
Obwohl ich weiß
dass sie erst gegen Abend anrufen wird
bin ich schon den ganzen Tag über nervös
schrecke bei jedem Geräusch auf
RUDOLF steht auf und schüttet sich ein Glas Wein ein.
Marion
ist als Kind schon sparsam gewesen
das Ökonomische
vom Vater geerbt
Ich werde nie vergessen
wie sie mich hat stehen lassen
wegen einer großen Tafel Schokolade
Sie ist von jeher
ein Karrieremensch gewesen
In der Schule schon
hat sie gegen einen hohen Zins
Geld verliehen
Marion
ist als Karrierefrau
einfach wie geschaffen
Drei Riegel Kokosschokolade
hatte ich ihr gekauft
weil sie Kokosschokolade
so gern gemocht habe
Sie aber
hat sich für den Jungen
aus der Oberschule entschieden
Wegen einer dreihundert Gramm Tafel
Vollmilchschokolade
hat sie mich einfach
stehen gelassen
RUDOLF nimmt einen kräftigen Schluck.
Gott sei dank
bin ich nicht nachtragend
nicht wahr
Anna?
Nachtragend
bin ich nie gewesen
Er geht zum Tisch und nimmt die elektronische Schaltanlage in die Hand.
Ich glaube
dafür ist noch Zeit
Er geht zu dem Schaltpult herüber und baut das neue Teil ein. Die bunte Lichterkette geht an. Dann entfernt er eine der
Planen, die das Karussell abdecken. Eine malerische Gebirgslandschaft wird sichtbar. Davor auf einem künstlichen
See ein Boot, mit dazugehörigem Schilf und einem ausgestopften Schwan.
Jetzt kommst du an die Reihe
Anna
Er geht zum Stuhl und nimmt sie in die Arme.
Erst jetzt ist zu sehen, dass es sich bei Anna um eine Puppe handelt.
RUDOLF setzt sie in das Boot.
So Anna
halt dich gut fest
gleich geht es wieder rund
Er verschwindet hinter dem großen Schaltpult und betätigt einige Knöpfe.
Musik ertönt, langsam setzt sich das Karussell in Bewegung.
Anna
es funktioniert
Es dreht sich Anna
es dreht sich
Mein Gott
es funktioniert
ohne dass eine Sicherung herausspringt
Er springt auf die Plattform.
RUDOLF(singend):
ein weißer Schwan
ziehet den Kahn
mit der schönen Fischerin
auf den blauen See dahin
Im Abendrot
schlingert das Boot...
Er springt wieder ab.
So Anna
jetzt halt dich gut fest
Ich probiere das neue Relais aus
Am großen Schaltpult drückt RUDOLF einen Knopf. Plötzlich flackert das Licht. Die Musik und das Karussell werden
immer schneller, was zur Folge hat, dass erst die Arme und dann der Kopf sich von der Puppe lösen und mit voller
Wucht in das Zimmer geschleudert werden.
RUDOLF hält das Karussell an. Betroffen macht er sich daran, die im ganzen Raum verstreuten Teile der Puppe
aufzuheben.
Er bringt sie zu seinem Tisch, nimmt sich Nähzeug und versucht einen Arm wieder anzunähen.
Nach einer Weile macht er eine Pause und schaut auf das Telefon.
RUDOLF:
Immerhin
hatte ich damals die Möglichkeit
sie zu heiraten
Lang ist das her
Sie wollte unbedingt
meine Frau werden
Er näht weiter.
Wir sind derselbe Jahrgang
Ein paar Monate
bin ich nur älter
Bei diesen Arbeiten ist das Garn
das alles Entscheidende
Auf das Garn und die Stiche
muss besondern Wert gelegt werden
sonst wird es keine präzise Arbeit
Das Zusammensetzen
der einzelnen Stücke
die Naht
all das verlangt
eine Genauigkeit ohnegleichen
Wenn die Stiche nicht stimmen
ist die ganze Arbeit umsonst
Oft werden die Tiere
in einem so schlechten Zustand angeliefert
dass es einem Kunstwerk gleichkommt
sie wieder so herzurichten
dass sie lebensecht wirken
Ich hatte mal einen Mitarbeiter
der doch tatsächlich
einem Vulpes zerda
den zwanzig Zentimeter langen Schwanz
mit einem Kreuzstich angenäht hat
Unglaublich
unglaublich
Gott sei dank
ist er später
in die Spielzeugindustrie abgewandert
Kann man sich bei Tieren
ein oder zwei
kleinere Fehler erlauben
so ist dies
bei einer menschlichen Präparation
völlig ausgeschlossen
Die Präparation
ist eine künstlerische Arbeit
die einem alles
aber auch wirklich alles
abverlangt
die wenigsten begreifen das
RUDOLF zieht an dem Arm, um festzustellen ob er hält.
Er legt die Puppe beiseite.
So den einen hätten wir
Langsam könnte sie wirklich anrufen
sie ist längst überfällig
Ein richtig kleiner Trotzkopf
ist sie gewesen
Anna war schweigsamer
bescheidener
nicht so machthungrig
wie sie
RUDOLF nimmt den Hörer ab und sagt mehrere Male: »Guten Abend«, jedes Mal in einer anderen Betonung.
Wir hätten es
bei den Briefen belassen sollen
Briefe
sind persönlicher
und nicht so direkt
wie ein Telefonat
Man kann sich Zeit lassen
bevor man auf eine Frage antwortet
Und diese Fragen
diese immer gleichen Fragen
Warst du heute spazieren?
Was hast du gegessen?
Was macht die Gesundheit?
Wie ist das Wetter?
Und
und
und
Fragen
nichts als Fragen
Und da Marion
auf Sparsamkeit
bedacht ist
muss ich immer sofort antworten
nach einer Weile
Was mache ich da?
Ich blockiere die Leitung
Schnell legt er den Hörer auf.
Für mindestens fünf Minuten
habe ich jetzt die Leitung blockiert
Hoffentlich
hat sie nicht gerade jetzt
in diesen fünf Minuten
angerufen
Ach was rege ich mich auf
Sie wird es noch einmal versuchen
Sie wird bestimmt
noch einmal anrufen
dafür kenne ich Marion
einfach zu gut
Der Abend ist ja noch lang
Er nimmt den anderen Arm und beginnt auch ihn wieder anzunähen.
Marion hat Ehrgeiz
das nötige Durchsetzungsvermögen
Ein typischer Frauen Dickschädel
Da ist sie anders
als meine Anna
Anna
hätte vor Wut
den Hörer auf die Gabel geworfen
und nie mehr angerufen
So war sie in allen Dingen
meine Anna
Beim ersten Scheitern
schon im Versuch
hat sie aufgegeben
Ein regelrechter Innenmensch
war sie
Mich hat sie gebraucht
um Leben zu können
Meine Anna
war bescheiden
zu bescheiden
Er schaut auf die Uhr.
Jetzt hat sie immer noch nicht angerufen
Marion ist ein Außenmensch
überall muss sie dabei sein
Sie ist schon immer ruhelos gewesen
ruhelos
aber dennoch zielstrebig
Immer neue Ziele
immer neue Herausforderungen
Sie hat bestimmt oft
die Wohnung gewechselt
Mit jedem beruflichen Weiterkommen
eine neue Wohnung
Mit Anna
wäre das nicht möglich gewesen
Einen Umzug
hätte sie allein seelisch
nicht verkraftet
In den ganzen vierzig Jahren
unserer Ehe
hat keines der Möbelstücke
seinen Platz gewechselt
Vierzig Jahre
lebe ich nun hier
hier in dieser Wohnung
in diesen Wänden
Wenn die Maler gekommen sind
ist jedes Möbel
am Boden angezeichnet worden
damit es nachher
auch ja wieder an seinen Platz kommt
Alles muss seinen Platz haben
alles eine Ordnung
Ja
so war sie
die Anna
Der Liebe Gott und die Ordnung
Der Liebe Gott und die Ordnung
dies waren die Stützen
ihres Lebens
Er probiert aus, ob auch der zweite Arm hält und legt dann die Puppe beiseite.
Nach einer Weile hebt er erneut den Hörer ab.
Mehr als dreimal
werde ich es nicht läuten lassen
Dreimal
so wie es sich gehört
Er wählt mehrere Nummern.
Eins
zwei
drei
Wenn ich nur wüsste
wo ihr Telefon steht
sieben
acht
neun
Sie hat bestimmt eine große Wohnung
mit vielen Zimmern
dreizehn
vierzehn
fünfzehn
Vielleicht ist sie gerade auf Toilette
oder sie badet
neunzehn
zwanzig
einundzwanzig
Ich könnte mich verwählt haben
Bei so einer langen Nummer
kann das leicht passieren
RUDOLF wartet für einen Moment bevor er die Gabel drückt, dann wählt er erneut.
Eins
zwei
drei
Hoffentlich
ist ihr nichts passiert
In der Zeitung
ist einmal eine Geschichte
von einer Frau gestanden
die man erst
drei Monate später
entdeckt hat
Nackt
auf den Fliesen ihres Badezimmers
Wahrscheinlich ausgerutscht
Schlüsselbeinbruch
unfähig sich zu bewegen
Sie ist einfach verhungert
auf die erbärmlichste Weise verreckt
Das Alleinsein
es hat schon seinen Preis
Er legt auf.
Wer allein lebt
der muss auf der Hut sein
Die Gesundheit
ist das wichtigste
man hat ja niemanden
im Zweifelsfalle
im Krankheitsfalle
der einen pflegen kann
Wie viel Magendurchbrüche
leichte Herzattacken
Darmverschlingungen
Nierenkoliken
werden erst viel später
halbverwest
in ihren Wohnungen gefunden
Ekelhafte Geschichten
die in letzter Zeit
immer häufiger auftreten
Kein Tag vergeht
wo so etwas
nicht in der Zeitung steht
Es gibt fast nur noch Außenmenschen
Man lebt nur nach außen
und innen verkümmert man
bekommt Magengeschwüre
fault aus
Hoffentlich
ist ihr nichts passiert
Gerade jetzt
Meinen ganzen Zeitplan
wirft sie durcheinander
Als ob ich nichts Besseres
zu tun hätte
als auf ihren Anruf zu warten
RUDOLF öffnet eine Hutschachtel in der sich mehrere Perücken befinden, er holt eine blonde Perücke heraus und
tauscht sie gegen die alte von der Puppe aus. Er schraubt den Kopf an die Puppe.
Du bist schön
Anna
Blond
steht dir ausgezeichnet
Du musst zugeben
das mit den blonden Haaren
war eine gute Idee
von mir
Du hast zwar jetzt etwas
an Sinnlichkeit verloren
aber die jugendliche Frische
wiegt das auf
MARION erscheint im Zimmer. Sie beobachtet RUDOLF bei seiner Arbeit, er kann sie nicht wahrnehmen.
RUDOLF hält den Kopf mit beiden Händen.
RUDOLF:
Sei mir nicht böse
Anna
aber irgendetwas
irritiert mich
Die Augen
Anna
Die Augen
Es sind nicht deine
Verzeih Anna
aber es sind nicht
deine Augen
Die Augenpartie
ist mir nicht gelungen
Ohne Zweifel
es sind schöne Augen
aber sie passen nicht
Nein
nein
die Augenpartie
ist mir nicht gelungen
Die Augen sind der Grund
Mit diesen Augen
bist du nicht
meine Anna
verzeih die harten Worte
aber mit diesen Augen
bist du eine Fremde
für mich
Ja
eine Fremde
Wenn ich nur wüsste
zu wem
diese Augen gehören?
Ich muss sie schon einmal gesehen haben
Dieses Funkeln
in den Augen
diese kleinen zwei Flämmchen
kommen mir so vertraut vor
Mit einem geschickten Handgriff holt er beide Augen heraus und steckt sie in seine Tasche.
So
jetzt bist du wieder meine Anna
Morgen bekommst du andere Augen
eine vollkommen neue Augenpartie
werde ich dir machen
Morgen Anna
Morgen ist auch noch ein Tag
Nicht wahr Anna?
Das hast du doch auch immer gesagt
Morgen ist auch noch ein Tag
Er legt die Puppe beiseite und starrt auf das Telefon.
Dass sie nicht anruft
Bestimmt ist ihr etwas zugestoßen
Ich sitze hier in einer anderen Stadt
und weit ab
stirbt ein Mensch
auf die erbärmlichste Weise
Ein Mensch stirbt
und allen scheint das
vollkommen egal zu sein
Wahrscheinlich liegt sie röchelnd
im Badezimmer
und versucht mit geschwächter Stimme
um Hilfe zu rufen
Aber niemand hört sie
Vielleicht flüstert sie in ihrer Todesangst
schon meinen Namen
Rudolf
Rudolf
Wollte sie mich nicht besuchen?
Hatte sie nicht erst
bei unserem letzten Telefonat
davon gesprochen?
Ich blöder Hund
hätte ich doch nur
ja gesagt
Dann würde sie jetzt nicht im Badezimmer liegen
und vergebens um Hilfe schreien
Die Nachbarn werden denken
der Fernseher läuft
Wer weiß
was sie für Nachbarn hat
Die Niekisch
aus dem Zweiten
würde mich glatt verrecken lassen
die könnte dabei stehen
nichts würde die tun
Marion darf noch nicht sterben
Mein Entschluss steht fest
Ich fahre
würde mir das sonst nie verzeihen
In den ganzen Jahren ‑
einmal nur in Urlaub gewesen
Im Schwarzwald
im schönen Glottertal
Am Schluchsee sind wir gewesen
dabei wollte Anna
partout an den Bodensee
Den ganzen Urlaub
hat sie mir verdorben
mit ihrem ewigen Gequengle
Dabei waren am Bodensee
überhaupt keine Zimmer
mehr zu bekommen
Alles ausgebucht
aber das hat sie nicht interessiert
Sie wollte unbedingt zum Bodensee
Wenn ich so recht überlege
war das gar nicht ihre Art
so auf eine Sache zu bestehen
ja sich regelrecht
zu versteifen
Nein
das war nicht ihre Art
Vielleicht werfe ich da
was durcheinander
ist ja auch schon so lange her
Auf jeden Fall
richtig herausgekommen
sind wir nie
die ganzen Jahre nicht
Sein Blick fällt auf die Puppe.
Die Augenpartie
wollte ich doch ändern
Die Augen
sind die charakteristischsten Merkmale
einer guten Präparation
Die Augen
sind das wichtigste
überhaupt
Die Augen
werden von jeher
von den Präparatoren unterschätzt
Jeder weiß
dass ich immer besonderen Wert
auf die Augen gelegt habe
Die Augen
sind das wichtigste
nicht wahr Anna?
Habe ich das nicht immer gesagt?
RUDOLF nimmt die Puppe und trägt sie vorsichtig zu dem Boot.
Es tut mir leid Anna
aber die Augen müssen warten
Sag nichts
ich weiß
ich weiß
Es hat Komplikationen gegeben
etwas Unvorhergesehenes
ist eingetreten
Er setzt sie in das Boot.
Ich werde für ein paar Tage verreisen
Ja
ich werde dich
für ein paar Tage alleinlassen müssen
Jetzt schau' nicht so
Es ist ein Notfall
glaub mir
Wenn es kein Notfall wäre
ich würde dich nicht alleinlassen
Aber so
Marion braucht Hilfe
und da ist es meine Pflicht
Er deckt das Segment mit der Plane ab.
Den kleinen Koffer werde ich nehmen
den ich seinerzeit Anna
für ihren Krankenhausaufenthalt
gekauft habe
Der Koffer ist ja so gut wie neu
Er sucht in dem Zimmer nach dem Koffer.
Wo habe ich ihn bloß verstaut?
Er öffnet einen Schrank, in dem sich mehrere Tierpräparationen befinden, darunter auch viele Einzelteile und ein Koffer.
Vorsichtig holt er den Koffer heraus, so als ob es sich dabei um eine Kostbarkeit handeln würde.
Und dann
stand ich da
eine schlaflose Nacht hinter mir
in dem weißen kalten Flur des Krankenhauses
mit dem kleinen Koffer in der Hand
Verloren
verfroren
Allein stand ich da
mutterseelenallein
Sie muss höllische Schmerzen gehabt haben
Aber sie hat still gehalten
kein Klagen und kein Wimmern
Niemandem
wollte sie zur Last fallen
Abgefunden
hatte sie sich mit ihrem Schicksal
Der Liebe Gott weiß schon
was er tut
das waren immer wieder ihre Worte
Selbst unter den höllischsten Schmerzen
sprach sie noch
von einem Lieben Gott
Sie hätte sich gegen ihre Krankheit
wehren sollen
dann wäre sie mit Bestimmtheit
heute noch am Leben
Wer sein Leben ausschließlich
in die Hände
der Kirche und der Mediziner legt
ist von vornherein
hoffnungslos verloren
Er geht mit dem Koffer zu dem Tisch.
Die Dimension
des Alleinseins
ist für einen Nichtbetroffenen
einem Außenstehenden
nicht fassbar
Vorstellen
kann man es sich nicht
das Alleinsein
So ist das Leben
man begreift das Glück erst
wenn es einem durch die Hände geglitten ist
Vom Kürschner zum Tierpräparator
zum Tierpräparator aufgestiegen
Was für ein Aufstieg
Vom Kürschner zum Tierpräparator
Er fasst sich an den Kopf.
Ich hätte studieren können
Ich aber
habe Mäntel gemacht
Mäntel
Mäntel im elterlichen Betrieb
Mäntel
Mützen
Muffs
Alles nur
der Mutter zuliebe
Nach dem Tod der Mutter
bin ich Tierpräparator geworden
Er lacht.
Tierpräparator
Photographie
wollte ich studieren
Tierpräparator
bin geworden
Der Beruf des Tierpräparators
hat schon seine Vorteile
ganz ohne Zweifel
Allein wegen der Pension
lohnt es sich
Und bei der Arbeit
hat man seine Ruhe
Nicht umsonst wird behauptet
die Museumsruhe
wäre die gesündeste
Zwischen lebendig wirkenden
ausgestopften Tieren
habe ich die meiste Zeit
meines Lebens verbracht
in absoluter Ruhe
Er fängt sich wieder.
Marion muss durchhalten
Wenn sie im Bad gefallen ist
hat sie wenigstens Wasser
Bis zum Waschbecken oder zur Badewanne
wird sie sich wohl aufraffen können
Ein Tag ohne Essen
das hält man aus
Wenn sie im Badezimmer gefallen ist
hat sie eine Chance
Sie hätte sich nicht übernehmen sollen
Auf der ganzen Welt
ist sie in den letzten Jahren gewesen
Von überall her
habe ich Postkarten
von ihr bekommen
Das konnte ja
auf die Dauer nicht gut gehen
da musste ja direkt etwas passieren
Der menschliche Körper und die Seele
sind nicht dafür gemacht
einfach nicht fähig
solche Strapazen
auf die Dauer auszuhalten
Das fremde Essen
die schlechten Hotelbetten
und ganz besonders
die Zeitunterschiede
sind gesundheitsgefährdend
Auf jeden Fall schädlicher
als meine drei Zigaretten
die ich mir täglich genehmige
Marion ist Nichtraucherin
eine militante Nichtraucherin
Er lacht.
Einmal
hat sie bei einem Telefongespräch aufgelegt
einfach aufgelegt
nur weil ich dabei geraucht habe
Jetzt liegt sie weit ab
hilflos in ihrem Badezimmer
und wartet darauf
von einem Raucher
gerettet zu werden
Er nimmt eine krumme selbstgedrehte Zigarette aus der Schachtel, die er soeben aus seiner Jackentasche genommen
hat, und zündet sie sich an. Er nimmt ein paar kräftige Züge.
Sein Blick fällt auf den Koffer.
Unausgepackt
habe ich ihn
vor Jahren
so in den Schrank gelegt
Die Krankenschwester
hatte ihn mir
auf diesem schrecklichen Flur
in die Hand gedrückt
Es war nie meine Art
in den Sachen
meiner Mutter herumzuwühlen
Aber jetzt
in Anbetracht der Dinge
Vorsichtig öffnet er den Koffer, ganz langsam holt er die obenauf liegende Strickjacke heraus.
Die
hatte sie immer
gerne getragen
Kalt war ihr
von jeher
Geschenkt
hatte ich sie ihr
vor dem ersten Krankenhausaufenthalt
Wenn sie Angst hatte
fror sie besonders
Er legt die Jacke beiseite, des Weiteren packt er mehrere kleine hellgrüne Porzellanfläschchen und Seifenstücke aus.
Auf den Tisch stellt er sie wie eine Spielzeugarmee in eine Reihe.
Ich werde mir einen neuen Koffer kaufen
Noch ist Zeit dazu
Er zieht nachdenklich an der Zigarette.
Plötzlich klingelt es an der Tür.
Die Niekisch
Es klingelt mehrmals.
Bestimmt die Niekisch
Will wieder ein Ei
oder etwas Mehl
Dabei möchte sie ja nur in die Wohnung
Ich werde nicht aufmachen
Wer bin ich denn?
Nein
nein
der Niekisch
mache ich nicht auf
das wäre ja noch schöner
Es hört nicht auf zu klingeln.
Eine Unverschämtheit
Ich werde mich bei der Hausverwaltung
beschweren
Was kann ich dafür
dass ihr der Mann
davongelaufen ist?
Ist nicht mein Problem
nein
wirklich nicht
Jemand versucht an der Wohnungstür den Briefschlitz hochzuheben.
Eine Frauenhand wird sichtbar. RUDOLF versucht sich zu verstecken.
NIEKISCH:
Hallo?
ich sehe dich
Hallo
Rudolf
Warum machst du nicht auf?
Ich bin es doch
Rudolf?
Ich
Rudolf
bitte mach auf
Erst jetzt greift MARION in die Handlung ein. Sie tritt von hinten an RUDOLF und berührt ihn. RUDULF dreht sich
erschrocken um.
MARION:
Ich bin es doch
Ich bin es
Marion
DEINE MARION
RUDOLF:
MARION?
Ohlsdorf - Totentanz
Nix is!
Bled is!
Aus is!
BURGTHEATERZWERG
PERSONEN:
WIRT Hinteregger, Besitzer des Gasthofes in Ohlsdorf
ANNA seine Nichte, Bedienung im Gasthof
ALOIS Gelegenheitsarbeiter, die treue Seele
des verstorbenen Dichters
SPANDOLINI Geistlicher aus Rom,
ein Geschädigter des Verstorbenen
ADOLFO sein Fahrer aus den Abruzzen
EHEMALIGER MINISTERPRÄSIDENT
ein Geschädigter aus Deutschland
FRAU DES EHEMALIGEN MINISTERPRÄSIDENTEN
SCHAUSPIELER ein Geschädigter aus Österreich
SCHAUSPIELERIN seine Frau
BURGTHEATERZWERG ein Chronist
Im Gasthaus zu Ohlsdorf
Erste Szene
Der WIRT Hinteregger steht hinter dem Ausschank und spült Gläser.
An einem Tisch sitzt der Waldarbeiter ALOIS vor einem Krug Bier.
An der Tür, die zum Gesellschaftssaal führt, hängt ein Schild:
»Heute Geschlossene Gesellschaft«
Im Hintergrund läuft leise das Radio.
WIRT:
Auf den Tag genau
vor einem Jahr ist er gestorben
ALOIS:
Ein vom Schicksal oft heimgesuchter Mensch
Selbst die Bäume vor seinem Anwesen
haben ihm keine Freude bereitet
Absägen habe ich sie müssen
Bis auf einen sind sie alle befallen gewesen
WIRT:
Man sagt
das Kranke zieht sich an
ALOIS:
Wenn man einen Käfer sieht
ist es schon zu spät
Er hätte frühzeitig spritzen sollen
Aber auf mich hat er ja nicht gehört
Ein Gemütsmensch
bin ich für ihn gewesen
Die treue Seele Alois
treu aber keinen Verstand
hat er immer gesagt
Treu aber keinen Verstand
WIRT:
In der Zeitung ist gestanden
er hätte unsere gute Luft nicht vertragen
Unser Klima sei ausschlaggebend gewesen
einfach lächerlich
Nirgendwo im Lande
gibt es soviel Hundertjährige
wie hier bei uns
Die Bedienung ANNA kommt aus der Küche.
ANNA:
Für wie viel Personen soll ich eindecken?
Servus Alois
ALOIS:
Servus Anna
setz' dich her zu mir
Sie lacht verlegen.
WIRT(nachdenklich):
Acht Personen haben sich angemeldet
telefonisch
Das ist gut
Also deck' für zwölf Personen ein
Die Herrschaften aus der Stadt
können es sich leisten
ANNA:
Aber an den Tisch passen doch nur zehn Gedecke
WIRT:
Dann deck' halt für zehn ein
Und hol' einen Mantel aus der Kammer
Die Bedienung geht in den Saal.
WIRT:
Ja Alois
so ist das
Jetzt ist er schon ein Jahr unter der Erde
aber eine Arbeit macht er einem immer noch
Allein die Übernachtungen
sind um das Fünffache gestiegen
von den Durchreisegästen erst gar nicht zu reden
Den Gesellschaftsraum
vermiete ich nur mehr
an Übernachtungsgäste
sonst rentiert es sich nicht
Mit den Durchreisegästen ist kein Geld zu machen
Ein Bier
einen Kaffee
und in Ausnahmefällen ein Essen
Nein
nein
das lohnt nicht
Und dann diese Camper
Die Camper sind die allerschlimmsten
Da sitzen sie zu viert
stundenlang an einem Bier
und bevor sie gehen
füllen sie heimlich
ihre Wasserkanister bei mir auf
Mein Wasserverbrauch ist in letzter Zeit
um das Zehnfache gestiegen
Ich habe es aber dem Bürgermeister gesagt
immer und immer wieder
habe ich es dem Bürgermeister gesagt
Was wir brauchen sind Mautstationen
Auf beiden Seiten von Ohlsdorf
müssen Mautstationen her
ALOIS:
Machst’ mir noch ein Krügerl Bier
Hinteregger?
WIRT:
Ist schon recht Alois
das geht auf Kosten des Hauses
wo er dich nicht einmal
in seinem Testament bedacht hat
Aus dem Saal: die Stimme der Bedienung
ANNA:
Soll ich auch für Suppe eindecken?
WIRT:
Aber selbstredend
wo doch noch soviel
aus der letzten Woche übrig ist
zu ALOIS
Überhaupt essen Städter gerne Suppe
Man kann sagen
dass Städter regelrecht verrückt sind
auf unsere gute Landsuppe
In der Stadt bekommen sie ja nirgends
so eine gute Suppe wie hier draußen
Städter sind regelrechte Suppenesser
Umso mehr Suppe am Anfang
desto weniger greifen sie nach dem Braten
Bisher habe ich jeden Braten
zweimal verkaufen können
Mit Ausnahme der Luxemburger
Die Luxemburger
haben den übrig gebliebenen Braten
einfach mitgenommen
Servietten und Papier haben sie verlangt
Die Luxemburger haben keinen Anstand
aber dafür haben sie einen Mantel
und einen Tisch gekauft
ALOIS:
Ja ja
Suppe hat auch er immer gern gegessen
Alois
hat er gesagt
heute ist mir nach Suppe
Lass uns zum Hinteregger gehen
hat er gesagt
Suppe
kann man überhaupt nur beim Hinteregger essen
Nudelsuppe
zwei Teller Nudelsuppe hat er gegessen
und sich dabei Notizen gemacht
Nazis
Nazis
hat er gemurmelt
und sich mit einem Bleistift
Notizen gemacht
Er steht auf und geht zum WIRT.
Auf die Serviette hat er alles geschrieben
Da schau
Er holt einen kleinen Bleistift aus der Hosentasche.
Der WIRT schaut neugierig.
WIRT:
Ein ganz gewöhnlicher Bleistift
ALOIS:
sein Bleistift
WIRT:
Das bringt mich auf eine Idee
in den Saal rufend
Anna
lauf mal schnell in den Laden
und kauf alle Bleistifte auf
Alois
Du bist ein Goldjunge
Fünfhundert Schilling
werde ich für einen Bleistift nehmen
Vierzigtausend Schilling
für einen Tisch
Zwanzigtausend
für den Mantel
Fünfhundert Schilling
für den Bleistift
das ist selbst für Studenten erschwinglich
Alois
heut' bist du mein Gast
Er stellt ihm ein Krügerl Bier hin.
ALOIS:
Dank' dir schön
Hinteregger
WIRT:
Schade ist nur
dass du die kranken Bäume
alle schon verheizt hast
Das wäre ein Geschäft geworden
Kleine Scheiben hätte ich geschnitten
sie lackiert
und als Untersetzer verkauft
Des Dichters kranke Bäume
als Bieruntersetzer
das hat was
ANNA kommt mit fünf Lodenmänteln herein und hängt sie an den Garderobenständer.
WIRT:
Anna was soll das?
Einen
habe ich gesagt
Immer und immer wieder
habe ich dir gesagt
Du sollst nur einen Mantel hinhängen
Was soll ich denn mit fünf Mänteln
kannst du mir das sagen?
Dummes Ding
Sie nimmt vier Mäntel vom Haken und bringt sie wieder zurück in die Kammer.
WIRT:
Die bringt es fertig
und zerstört meine ganzen Geschäfte
Den Luxemburgern
hätte sie fast zwei Tische verkauft
Gott sei Dank
sind sie schon alle betrunken gewesen
Dabei habe ich es ihr schon hundert Mal erklärt
Pro Reisegruppe
nur ein Tisch und ein Mantel
aber das kriegt sie nicht in ihren Kopf
ALOIS geht mit seinem Bier zu dem Tisch an der Tür.
ALOIS:
Ja
ja
hier hat er immer gesessen
Hier an der Tür
war sein Platz
Beim Essen
hat er mir von Madrid erzählt
Nur in Madrid
hat er gesagt
nur in Madrid
habe ich Sehnsucht
nach dem Hinteregger seiner Nudelsuppe
In Wien
hat er gesagt
in Wien
habe ich nur einen Heißhunger
auf dem Hinteregger seinen Rindsbraten
Aber schon nach zwei Tagen
hat er gesagt
schon nach zweimal
Nudelsuppe und Rindsbraten beim Hinteregger
kann ich Nudelsuppe und Rindsbraten
nicht mehr sehen
WIRT:
Das hat er niemals gesagt
Meine Nudelsuppe und meinen Rindsbraten
hat er immer nur gelobt
ALOIS:
Dir
hat er es nicht gesagt
mir schon
Ich bin ja auch sein Vertrauter gewesen
Mir
hat er alles anvertraut
Ausgesprochen
hat er sich nur mit mir
Alois
hat er gesagt
Du bist ein Gemütsmensch
mein Beichtvater
und dabei
hat er immer gelacht
Ja
ja
er konnte schon lustig sein
wenn er wollte
WIRT:
Ich
habe ihn nie lachen gesehen
die ganze Zeit nicht
Die Menschen
haben es ja auch nicht
gut mit ihm gemeint
Andauernd
soll er Drohbriefe erhalten haben
regelrechte Morddrohungen
sagt man
Und das alles
wegen ein paar Theaterstücken
Die Städter
sind schon ein verrücktes Volk
und allen voran
die Wiener
Erst hassen sie ihn wie die Pest
und kaum ist er unter der Erde
wollen alle seinen Tisch
und seinen Mantel kaufen
Die Beerdigung
soll ja auch recht trostlos gewesen sein
Für Blumen und Kränze
haben sie kein Geld
aber ein Erinnerungsstück
wollen sie alle haben
Ein Erinnerungsstück
vom großen Meister
kann gar nicht teuer genug sein
Ich versteh' die Städter nicht
ALOIS:
Heimlich
und in aller Stille
haben sie ihn beerdigt
Nur im Kreise
der Verwandten und Freunde
so hat es mir der Bruder geschrieben
und sich für all meine Arbeit bedankt
Wenn ich einmal in Wien sein sollte
so hat er geschrieben
würde er sich selbstverständlich Zeit nehmen
mir sein Grab zu zeigen
Die Zeitungen
wurden erst hinterher informiert
Die Presse
hat ja sowieso nur negativ
über ihn geschrieben
Regelrecht zum Volksfeind
haben sie ihn erklärt
WIRT:
Den Karajan
hat man seinerzeit in Salzburg
auch heimlich verscharren müssen
Die Salzburger
haben ein Glück
erst Mozartstadt
und jetzt auch noch der Karajan in ihren Reihen
Wenn der hier gelebt hätte
ein Geschäft wäre das geworden
Karajan Semmel
Würste
Braten
Kugeln
ganze Mehlspeisen
Frisuren
Mäntel
Hosen
Beim Karajan
würde mir vieles einfallen
aber bei so einem unbeliebten Dichter
wie er einer war
da bleibt nicht viel
ein paar Mäntel
ein paar Tische
Bin gespannt
ob die Bleistifte gehen
Er geht in die Küche.
ALOIS:
Ja
ja
sein Vertrauter bin ich gewesen
immer hier
mit ihm am Tisch gesessen
Einmal
als ich ihm nach einem Sturm
das Dach gerichtet habe
ist er mit einem Bier gekommen
und hat gesagt
Es ist gut
einen Freund zu haben
Ja
ja
Freund hat er gesagt
Jetzt ist er tot
und die anderen
machen ein Geschäft daraus
Schlecht sah er aus
als er das letzte Mal da war
müde wirkte er
Dass du mir ja nicht den Garten vernachlässigst
hat er mir noch zum Abschied gesagt
Und wenn ich aus Wien zurück bin
fällen wir beide den letzten Baum vor dem Haus
Nur wir beide Alois
hat er noch gesagt
Jetzt
hat ihn der eine Baum
doch noch überlebt
werde ihn halt allein fällen müssen
Gott sei Dank
hat mich der Bruder übernommen
Den Garten
halten Sie natürlich weiter in Ordnung
hat er geschrieben
Sie mit ihrer grünen Hand
sind unentbehrlich
Der Bruder
auch ein feiner Mensch
Er nimmt einen kräftigen Schluck.
Ob ich noch mähen soll?
Er schaut aus dem Fenster.
Das Wetter
es wird wohl umschlagen
Und morgen
ist auch noch ein Tag
Die Bedienung kommt mit einem Karton Bleistifte in die Gaststube.
ANNA:
Mein Gott
ist es schwül draußen
ALOIS nimmt ihr den Karton ab und stellt ihn auf die Theke.
Das ist aber lieb von dir Alois
Soll' ich dir eine frische Halbe machen?
ALOIS:
So ist's recht Anna
Eine Halbe
ist das rechte Maß
Der Hinteregger
der Geizkragen
lässt höchstens mal ein Krügerl springen
Obwohl er an meinen Ideen genug verdient
bin ich ihm nur ein Krügerl wert
Die Idee mit den Bleistiften
ist auch von mir
ANNA :
Ganz verändert ist der Onkel
seitdem er tot ist
Den Zeitungsbericht
über Ohlsdorfs großen Dichter
hat der Onkel über sein Bett gehangen
Ohlsdorfs großer Dichter
dass ich nicht lache
Im ganzen Jahr
hat er höchstens einen Monat
hier verbracht
ALOIS:
Ja ja
er hat's halt nirgendwo
lang ausgehalten
aushalten können
Immer hat ihm was gefehlt
In Madrid
dem Hinteregger seine Nudelsuppe
Und hier bei uns
sein spanischer Kaffee
Die Bedienung gibt ihm das Bier.
ANNA(leise) :
Verändert
hat den Onkel das Fernsehen
Das Fernsehen
ist an allem schuld
Kurz nach seinem Tod
haben sie im Fernsehen
ein Theaterstück von ihm gebracht
und mein Onkel hat's gesehen
Ich habe mich noch gewundert
da er sonst doch nie fernsieht
Ganz allein
ist der Onkel im Saal gesessen
regelrecht gespenstisch
ist das gewesen
Mit ganz großen Augen
hat der Onkel unentwegt auf den Fernseher gestarrt
und dabei immer wieder
mein Gasthof
das ist mein Gasthof geschrieen
Ich bin zu ihm hin
und hab' ihn beruhigen wollen
Aber es ist nur schlimmer geworden
Schau Anna
schau hin
Da mein Gasthof
mein Saal
Schau Anna
das bin ich
das bin ich
Das soll ich sein
Danach
habe ich ihn zwei Tage lang
nicht gesehen
Einfach verschwunden war der Onkel
und danach wie ausgewechselt
Kurze Zeit später
sind die Lastautos gekommen
Und jetzt
steht der ganze Schuppen voller Tische
und die Kammer quillt vor Mäntel über
Erst gestern
hat der Onkel eine Kupferplatte
in Auftrag gegeben
mit irgendeiner Inschrift
die will er draußen an der Tür anbringen
Aber das Schönste
kommt erst noch
Sie schaut sich ängstlich um.
Heute Morgen
musste ich für ihn
einen Eilbrief aufgeben
an den Landeshauptmann adressiert
Der Onkel verlangt eine Umbenennung
unseres Ortes
Aus Ohlsdorf
will der Onkel Utzbach
oder Butzbach machen
Möchte nur wissen
wer ihm solche Ideen
in den Kopf setzt?
Alois
ich hab' Angst um ihn
Eines Tages
werden sie ihn abholen
und dann steh' ich da
ganz allein
ALOIS:
Hast du denn den Brief aufgegeben?
ANNA:
Wo denkst du hin
Verbrannt habe ich ihn
Aber wenn er keine Antwort bekommt
wer weiß
wem er dann schreibt
vielleicht dem Bundespräsidenten
ALOIS:
Übernehmen wird er sich
der Hinteregger
dein lieber Onkel
Übernehmen
das sage ich dir
Die ganze Geldschacherei
da liegt kein Segen drauf
Aus der Küche
WIRT:
Anna
wo bleibst du denn so lange?
ANNA:
Ich komm ja schon
ich komm ja schon
Die Bedienung geht in die Küche.
ALOIS:
Mir scheint
jetzt sind sie alle verrückt geworden
Der Bürgermeister
will ein Denkmal errichten
und der Hinteregger
gar den Ort umbenennen
Man sollte den Vierkanthof einreißen
dann wär’ endlich eine Ruh'
So ähnlich muss es zugegangen sein
als man in Alaska
Gold gefunden hat
Da sind auch alle verrückt geworden
Der WIRT kommt aus der Küche.
WIRT:
Was ich dich noch fragen wollte
Ich habe gehört
du hast einen Schlüssel vom Vierkanthof
ALOIS:
Aber freilich
wo ich doch noch den Garten mache
eine Vertrauensperson bin ich
das hat auch der Bruder erkannt
Einmal die Woche
lüfte ich kurz durch
und schicke dem Bruder
die Post nach Wien
Obwohl er schon ein Jahr tot ist
der Briefkasten ist jeden Tag voll
WIRT:
Nun
ich hätte da vielleicht
ein Geschäft für dich
ALOIS:
Eine Führung durch das Dorf?
WIRT:
Ja
ja
eine Führung
ist sicherlich auch drin
Weißt du
ich bekomme heute
hohe Gäste aus der Stadt
richtige Berühmtheiten
Würdenträger
ein Berater des Papstes
und ein ehemaliger Ministerpräsident
aus Deutschland
sind darunter
Und da habe ich mir gedacht
ALOIS(unterbricht):
Nein nein
Das schlag' dir aus dem Kopf
Ich führ' niemanden mehr in den Innenhof
Beim letzten Mal
haben sie einfach Blumen gepflückt
und ich habe den Ärger gehabt
WIRT:
Aber Alois
mein lieber Alois
wer redet denn vom Innenhof
ich dachte
eher an eine Führung
an eine Hausführung
ALOIS:
Durchs Haus soll ich sie führen?
durchs Haus
Ja bist du denn wahnsinnig geworden?
Das kommt überhaupt nicht in Frage
Eine Vertrauensperson
hat der Bruder mir geschrieben
Eine Vertrauensperson
verstehst du?
Glaubst du
ich setz' meine Stellung aufs Spiel?
Nein
das schlag' dir aus dem Kopf
Der WIRT holt eine Flasche und setzt sich zu ihm.
Er schüttet ALOIS einen Schnaps ein.
WIRT:
Die ganze Flasche kannst du haben
mein bester Obstler
ALOIS(leckt sich die Lippen):
Nein
WIRT:
Wo du doch fast zur Familie gehörst
ALOIS:
Nein
WIRT:
Wo du doch bald zur Familie gehören wirst
ALOIS:
Jetzt auf einmal
Erst jagst du mich zum Teufel
weil ich mit der Anna
auf Kirchweih getanzt habe
und jetzt
WIRT(unterbricht):
Alois
mein lieber Alois
ein Missverständnis
alles nur
ein dummes Missverständnis
ALOIS:
Ach Unsinn
Wer hat mir denn vorgeworfen
dass ich kein Geld habe?
Du hast mich doch
als Erbschleicher beschimpft
und mich vor all' deinen Gästen
aus dem Haus geworfen
Glaubst wohl
ich hätte das vergessen
Er versucht aufzustehen, der WIRT hält ihn zurück.
WIRT:
Musst mich verstehen
Alois
Die Anna
ist so etwas wie eine Tochter für mich
bin halt eifersüchtig gewesen
damals
Sie ist nun mal
mein ein und alles
ALOIS:
Und darum kann sie wohl auch ackern
bis sie umfällt
WIRT:
Es ist schwer
eine gute Bedienung zu finden
Und wo sie doch mal
alles erben wird
Warum mach ich denn das alles?
Damit sie es einmal besser hat
damit ihr es einmal besser habt
ALOIS:
Du bist und bleibst ein Gauner
Hinteregger
Ich hätte es wissen müssen
nicht umsonst hast du mich eingeladen
Und deine Nichte
willst du auch verschachern
Pfui Teufel
Hinteregger
Er steht auf.
Pfui Teufel
Die treue Seele Alois
hat er gesagt
Eine Vertrauensperson
hat sein Bruder geschrieben
Den einzigen Freund
den ich habe
hat er gesagt
und daran halt' ich mich
Hinteregger
Damit du es weißt
Mit Geld
kannst du mir nicht kommen
Servus Hinteregger
Er verlässt die Gaststube.
WIRT:
Na warte
Bürschchen
dich krieg' ich auch noch
wäre doch gelacht
Er steht auf und geht in die Küche.
Aus der Küche
Anna Anna
komm her
ich muss mit dir reden
Notausgang
Für Reiner Scheibe
PERSONEN:
LESSING, Journalist, an den Rollstuhl gefesselt
PFLEGER des Journalisten, Freund der JUNGEN FRAU
JUNGE FRAU, Freundin des PFLEGERS
MAKLER, vertritt den Hausbesitzer
sowie:
HANDWERKER, PIANIST, CONFERENCIER, WOHNUNGSSUCHENDE, GÄSTE, eine MUTTER mit ihrem KIND, ALTE FRAU, JOURNALISTEN, HUREN, BARMANN,
eine STIMME
Erste Szene
Im Arbeits- und Wohnzimmer.
Auf der einen Seite die Wohnungstür und eine Wendeltreppe, die nach oben führt, auf der anderen ein großes Fenster mit Schiebetür und Balkon. In der ganzen Breite und bis zur Decke ein übervolles Bücherregal, davor ein großer Schreibtisch, dessen Füße Aktenstapel sind. Im ganzen Raum überall verteilt, kleine und große Papier– und Aktentürme.
Hinter dem Schreibtisch im Rollstuhl der Journalist LESSING, den man durch die hohen Aktenberge jedoch nur schwerlich erkennen kann.
Von der Tür her hört man lautes Stimmengewirr.
LESSING:
Wie soll sich einer
bei diesem Lärm
konzentrieren können
Ohrenbetäubender Lärm
Menschengeschwätz
Nichtigkeiten
Bis zur Straße
werden sie wieder stehen
Seit einem Monat
jeden Mittwoch
und jeden Samstag
stehen sie bis zur Straße
Nervenkrieg
Menschengeschwätz
Die Stimmen
hoffnungslos Wartender
Man will mich Kleinkriegen
mürbe machen
Taub müsste man sein
taub
Der Anblick
dieser wartenden Meute
ist erträglich
Jede Woche
sind es wieder ein paar mehr
Von Woche zu Woche aber
werden die Stimmen
unerträglicher
Gleich wird er wieder läuten
Ich werde nicht aufmachen
wie jeden Mittwoch
wie jeden Samstag
Jeden Mittwoch
und jeden Samstag
das gleiche Ritual
Fünf Minuten lang
in kurzen Abständen
wird er läuten
in immer kürzer werdenden Abständen
Ich werde mich nicht von der Stelle bewegen
Er wird nach mir rufen
und dann einfach aufschließen
obwohl es verboten ist
Obwohl es verboten ist
wird er einfach die Tür öffnen
das Schwein
Ich sollte ihn über den Haufen schießen
Mildernde Umstände
wird man mir geben
vielleicht sogar auf Notwahr erkennen
Alles nur eine Frage
der Auslegung
Er rollt vor den Schreibtisch und dann im Slalom um die Aktentürme herum zum Fenster. Um seinen Hals hängt ein Jagdglas.
Er schaut hindurch.
Bis zur nächsten Ecke stehen sie
die Hoffnungslosen
Mir scheint die Anzahl
an Frauen mit Kindern
hat zugenommen
Vielleicht
sollte ich eine Statistik aufstellen
Mich würde es nicht wundern
wenn er für die Besichtigung
Geld nehmen würde
Die gleichen Gesichter
die gleichen Schicksale
In allen Köpfen
der gleiche ungetrübte Optimismus
Gleich wird er läuten
Sturm wird er läuten
der Makler
das Schwein
Der Besitzer
ist ein feiger Hund
er schickt seinen Zuhälter
Er schaut auf die Uhr.
Jetzt kann es nicht mehr lange dauern
In der Einhaltung der Zeit
ist er korrekt
Ein korrekter Mensch
ein Geschäftsmann
vom Scheitel bis zur Sohle
Der größte Fehler meines Lebens
ist es gewesen
hierher zu ziehen
Er schaut wieder durch das Fernglas ( diesmal in die Wohnung ).
Manchmal habe ich das Gefühl
als ob mir jeden Moment
die Augen
aus dem Kopf fallen würden
einfach so
Ich kann nichts dagegen tun
Es kommt einfach über mich
und es bleibt mir nichts anderes übrig
als zu warten
Manchmal ist der Druck so stark
dass ich Tage nur mit Warten verbringe
in der Hoffnung
dass sie endlich herausfallen
Plop
plop
wie Tischtennisbälle
Zweimal ein kurzes Plop
und sie sind draußen
Er lacht.
Beim Lesen
beim Studieren der Zeitung
trage ich eine Brille
obwohl ich überhaupt keine Brille benötige
Ich bilde mir ein
durch das Tragen der Brille
könnte ich ein Herausfallen verhindern
dabei verstärkt die Brille
nur den Augendruck
Ein Wahnsinn das Ganze
ein absoluter Wahnsinn
Das Lesen
das Studieren der Zeitung
die immer kleiner werdenden Buchstaben
die von Ausgabe
zu Ausgabe
immer kleiner werdenden Buchstaben
haben schuld daran
Der Augendruck
der überhöhte Augendruck
ist eine fürchterliche Krankheit
Der Arzt spricht von einer Überfunktion
der Schilddrüse
Er rollt hinter seinen Schreibtisch und öffnet mehrere Schubladen.
Ein ganz normales Symptom
bei einer Überfunktion der Schilddrüse
sagt der Arzt
Wenn der Arzt ein Symptom
als normal bezeichnet
weiß er meist keinen Rat
Es ist nicht normal
ein Gefühl zu haben
dass einem die Augen herausfallen
Plop
Plop
wie Tischtennisbälle
In Hamburg
hatte ich keine Überfunktion der Schilddrüse
In Hamburg
bin ich kerngesund gewesen
Die jodhaltige Luft
sagt der Arzt
hat eine Überfunktion verhindert
oder war es da die Unterfunktion
dabei habe ich die Hamburger Luft
nie als besonders gut empfunden
Er bückt sich.
Irgendwo hier muss sie liegen
Ich bin mir sicher
dass ich sie in den Schreibtisch gelegt habe
Das Archiv
es wächst mir über den Kopf
es macht sich selbständig
Von Anfang an
hat es sich selbständig gemacht
Nur
ich habe es nicht bemerkt
zu spät
die Dimension erkannt
Da ist sie ja
meine kleine Freundin
Er kommt wieder hoch.
In der Hand hält er eine Pistole.
Ich werde diesen Pedanten
ein wenig in Aufregung versetzen
Er schaut abermals auf die Uhr, rollt nach vorne und entsichert die Pistole.
Meine kleine Freundin
enttäusche mich nicht
Vier
drei
zwei
eins
Es läutet.
Vier
drei
zwei
eins
Es läutet erneut.
Die Stimmen vor der Tür werden immer lauter.
Das Läuten wiederholt sich in kürzeren Abständen.
Aus dem OFF
MAKLER:
Herr Lessing
machen Sie bitte auf
Ich weiß
dass Sie da sind
Seien Sie vernünftig
Es hat doch keinen Sinn
Lassen Sie uns
wie zwei vernünftige
Unterdessen zielt LESSING auf die Tür und drückt ab.
Von draußen hört man Schreie.
MAKLER:
Meine Herrschaften
ich bitte Sie
bewahren Sie Ruhe
Nichts ist passiert
Alles nur ein Scherz
ein Spaß
Der gute Herr Doktor Lessing
hat einen Spaß gemacht
LESSING:
Ein guter Schuss
genau wo ich ihn hin haben wollte
Seit über einem Jahr
liege ich dem Vermieter in den Ohren
er soll mir einen Gucki einbauen
Alles muss man selber machen
Es klopft jemand zaghaft an die Tür.
MAKLER:
Herr Lessing
was ist jetzt?
Machen Sie auf oder nicht?
LESSING rollt zurück zu seinem Schreibtisch.
LESSING(murmelnd):
Was fragt er mich denn
wo er doch einen Schlüssel hat
Der Makler öffnet langsam die Tür, die aber dann von unzähligen Menschen, zum Teil mit Kindern, weit aufgestoßen wird.
Die WOHNUNGSSUCHENDEN verteilen sich im Raum.
MAKLER:
Meine Herrschaften
bitte bleiben Sie zusammen
Ich darf Sie bitten
nichts anzufassen
Einige WOHNUNGSSUCHENDE gehen die Wendeltreppe nach oben hinauf.
MAKLER:
Halt
So geht das nicht
So nicht
meine Herrschaften
so nicht
Er geht auf die Wendeltreppe zu.
MAKLER:
Wenn Sie mich bitte vorbeilassen würden
Mühsam zwängt sich die Meute nach oben.
LESSING:
Nach oben wollen sie alle
Jeder möchte der erste sein
Vielleicht sollte ich die Treppe ansägen
die ich dann
mit einer Tafel versehen werde
mit der Aufschrift
Vorsicht
Treppe ist wegen Einsturzgefahr
nicht zu betreten
Wird das ein Spaß
auf Verbotsschilder
achtet sowieso niemand
wenn es um eine Wohnung
wenn es um die Existenz geht
von oben
MAKLER:
Bitte meine Herrschaften
Bitte fassen Sie nichts an
LESSING:
Wie viele Menschen
in einen Raum passen
ohne dass eine Panik entsteht
Interessant
interessant
Von Mal zu Mal werden es mehr
Möchte gerne wissen
wie es oben ausschaut
Seit zwei Monaten
bin ich nicht mehr oben gewesen
Er dreht sich um.
Was war das für ein Geräusch?
Da ist doch jemand
Da scharrt doch etwas
Hört sich an wie ein Hund
Jetzt bringen sie schon ihre Haustiere mit
Er rollt zu einem Aktenberg.
Ja was machst denn du hier?
Wo ist denn deine Mama?
Mit einer Hand zieht er ein Kind hervor und setzt es auf seinen Schoß.
Das Kind beginnt zu schreien.
LESSING:
Aber
aber
aus dem Alter sind wir doch raus
Er fährt mit dem Kind hin und her.
Was
Das macht Spaß
zu sich
Was für Zeiten
wo die Mutter ihr Kind leugnen muss
um eine Wohnung zu bekommen
Von oben eine hysterische Stimme
MUTTER:
Mein Kind
Wo ist mein Kind?
Hat jemand mein Kind gesehen?
MAKLER:
Sie haben also ein Kind
Sagten Sie nicht eben
MUTTER(unterbricht):
Mein Kind
Wo ist mein Kind?
MAKLER:
Unverheiratet und ein Kind
interessant
interessant
ein WOHNUNGSSUCHENDER:
Schreit unten nicht ein Kind?
Sofort erscheinen mehrere WOHNUNGSSUCHENDE an der Galerie.
mehrere WOHNUNGSSUCHENDE(im Chor):
Da ist das Kind
Er hat das Kind in seiner Gewalt
Die MUTTER und der MAKLER erscheinen auf der Treppe.
MUTTER:
Mein Gott
mein Kind in der Hand eines Verrückten
Warum tut denn niemand was?
Warum ruft niemand die Polizei?
mehrere WOHNUNGSSUCHENDE(im Chor):
Polizei
Polizei
LESSING schaut irritiert.
MUTTER:
Er wird es erschießen
er wird es erschießen
Die MUTTER möchte zu ihrem Kind, der MAKLER hält sie zurück.
MAKLER:
Keine Panik
keine Panik
Das Kind hat aufgehört zu schreien.
MAKLER:
So lassen Sie doch das Kind los
Herr Lessing
Ein unschuldiges Kind
Ist es das wert?
Wegen einer Wohnung
ein Menschenleben opfern
wollen Sie sich wirklich unglücklich machen?
Überlegen Sie doch
MUTTER:
Er wird es umbringen
Er wird es umbringen
DER MAKLER hält der MUTTER den Mund zu.
MAKLER:
Wir können über alles reden
Ich werde mit dem Vermieter sprechen
Noch ist die Wohnung nicht vergeben
vielleicht können Sie bleiben
Ein gefährliches Murren geht durch die Runde.
Ich bin mir sogar sicher
der Vermieter wird ein Einsehen haben
in Anbetracht Ihrer Situation
Ich verspreche
ich werde mich für Sie einsetzen
mehrere WOHNUNGSSUCHENDE(im Chor):
Schiebung
Betrug
Alles Schiebung
MAKLER:
So verschrecken Sie den armen Mann nicht
Sehen Sie nicht
dass er behindert ist
zur Mutter
Wenn Sie mir versprechen
nicht zu schreien
nehme ich meine Hand fort
Bedenken Sie
er ist zu allem fähig
Das KIND hat unterdessen die Pistole genommen und zielt damit auf die Treppe. Die WOHNUNGSSUCHENDEN flüchten wieder nach oben.
Der MAKLER versteckt sich hinter der MUTTER.
MAKLER(leise):
Gehen Sie langsam zu Ihrem Kind
haben sie keine Angst
Ich halte Ihnen den Rücken frei
Der MAKLER schiebt die MUTTER wie ein Schutzschild vor sich her.
MUTTER:
Hermännchen
Hermännchen
ein WOHNUNGSSUCHENDER:
Hermann?
Hermannstraße?
mehrere WOHNUNGSSUCHENDE:
Hermannstraße
Hermannstraße
Die WOHNUNGSSUCHENDEN stürzen die Treppe hinunter und verlassen die Wohnung.
LESSING wendet sich ab.
LESSlNG:
Feiglinge
allesamt Feiglinge
MUTTER:
Hermännchen
Hermännchen
Das KIND klettert vom Rollstuhl herunter und läuft der MUTTER in die Arme.
MAKLER:
Das wird Folgen für Sie haben
Anzeige werde ich erstatten
Geradezu gemeingefährlich sind Sie
zur MUTTER
Kommen Sie
Kommen Sie
Beide verlassen die Wohnung.
Eine JUNGE FRAU erscheint an der offenen Tür. Sie beobachtet LESSING der aus dem Fenster starrt.
Nach einer Weile schließt sie die Tür.
LESSING fährt mit dem Stuhl herum.
LESSING:
Was wollen Sie noch hier?
Die Besichtigung ist zu Ende
Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte
JUNGE FRAU:
Ich wollte zu Ihnen
LESSING:
Zu mir?
Schickt Sie der Besitzer?
Oder etwa das Amtsgericht?
JUNGE FRAU:
Ich komme wegen dem Buch
LESSING:
Was für ein Buch?
JUNGE FRAU:
Ich habe Ihr Buch gelesen
Das Beiruter Tagebuch
LESSING:
So so
mein Beiruter Tagebuch
Alle Welt sucht eine Wohnung
und Sie kommen wegen meinem Buch
Ihnen scheint es gut zu gehen
besser als den anderen
Er wendet sich ab, rollt zum Fenster und starrt durch sein Jagdglas.
Nach einer Weile
JUNGE FRAU(leise):
Wenn ich störe
komme ich ein anderes Mal
LESSING:
Da laufen sie wie die Ameisen
hetzen zum nächsten Termin
tragen dem Makler die Tasche bis zum Auto
küssen ihm die Füße
huldigen ihm
machen leere Versprechungen
Das ist das Zeitalter
der Makler und Zwischenverdiener
Der Bäcker erhöht die Brotpreise
nur um seinen Anlageberater bezahlen zu können
Was für Zeiten
Die Polizei
wird das Schwein nicht rufen
das traut er sich nicht
Die Polizei im Haus
bedeutet Imageverlust
Bei dem Mietwucher
kann er sich die Polizei nicht leisten
Die JUNGE FRAU steht unschlüssig im Raum, sie traut sich nicht auf LESSING zuzugehen.
Nach einer Weile verlässt sie den Raum.
LESSING:
Überall wo man hinschaut
herrscht Krieg
An den Krieg
können sich die Menschen gewöhnen
Ich weiß wovon ich rede
Seitdem ich denken kann
befinde ich mich mitten drin
in der Pufferzone
in der so genannten Pufferzone
An den Krieg
gewöhnen sich die Menschen
nur der Friede
ist ihnen unheimlich
Er rollt zu einem der Aktenstapel und zieht ein Dossier heraus.
Er liest laut die Überschrift
LESSING:
Beirut
Weihnachten
Er rollt hinter seinen Schreibtisch und holt eine Flasche Whisky hervor.
LESSING:
Volle Flaschen
haben so etwas Unschuldiges an sich
Bevor er sich ein Glas sucht und einschüttet, nimmt er schon einen kräftigen Schluck.
LESSING:
Beirut
Weihnachten
Mein Beiruter Tagebuch
es ist zum Lachen
Langsam verschwindet das Bücherregal und eine Beiruter Hotelbar wird sichtbar. In der Mitte der Bar steht ein Weihnachtsbaum mit bunten blinkenden Lampen, davor
JOURNALISTEN und HUREN. In französischer Sprache singen sie "Stille Nacht, Heilige Nacht".
LESSING:
Das ganze Buch
eine Lüge
eine so genannte Lebenslüge
Internationaler Flughafen
Taxi
Hotel
Zimmer
Bar
Immer nur in der Hotelbar gewesen
die ganze Zeit
Draußen haben sie geschossen
Die Botschaft längst geschlossen
da haben wir noch Karten gespielt
Nein nein
das war Hanoi
das muss Hanoi gewesen sein
Ich verwechsle es
mit Hanoi
In Beirut
haben wir nur Whisky getrunken
Galone um Galone
Der Barpianist hat durch uns
ein Vermögen verdient
in dieser Zeit
Jede Nacht ein endloses Warten
Draußen ratterten die Maschinengewehre
zischten die Katschukas
und der arme Teufel
von Pianospieler
musste spielen
anspielen
gegen die Welt da draußen
Wir haben ihn nicht weggelassen
spielen musste er die ganze Nacht
An manchen Abenden war das Eis
teurer als der Whisky
Na denn Prost
LESSING nimmt einen kräftigen Schluck. Der Pianospieler spielt einen Tusch. Die Anwesenden klatschen. Ein "Fröhliche Weihnacht’" in verschiedenen Sprachen macht die Runde.
Der BARPIANIST spielt wieder seine Musik.
LESSING:
Der Pianist spielte
was das Zeug hielt
Um seine Seele
hieß es damals
Mit dem Teufel
um die Wette
Wir haben gelacht
und ihn mit Münzen beworfen
Ich habe in der Bar geschlafen
wie fast alle
Die Berichte abgeschrieben
und keine Zeit gehabt
den Tripper zu kurieren
Er rollt mit der Whiskyflasche und einem Glas auf dem Schoß in die Bar. Die JOURNALISTEN und die HUREN sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn nicht beachten. Von einem Kleiderständer nimmt LESSING eine weiße Smokingjacke und zieht sie über.
LESSING(laut):
Wir alle
haben die Berichte abgeschrieben
abgeschrieben
abgeschrieben
Niemand in der Bar beachtet LESSING.
LESSING:
Keinen von meinen Berichten
hat die Agentur haben wollen
da habe ich sie bedient
Die Wahrheit
kommt ins Tagebuch
Er lacht laut.
Wir alle haben die Weltöffentlichkeit
mit irgendeiner Scheiße bedient
Hört ihr
wir alle haben die Welt beschissen
Fröhliche Weihnachten
Hauptsache
es ist einfach und stimmig
Nur nicht die Wahrheit
bloß nicht die Wahrheit
Die Menschen wollen Information
und keinen Ekel
Quoten
Auflage machen
darum geht es
nicht wahr
meine Freunde
Er nimmt einen kräftigen Schluck.
Die Menschen bloß nicht anekeln
nicht schocken
Ein vietnamesisches Mädchen
nackt
auf einer Straße
Mit Angst im Gesicht
Ja
so ein Bild
geht um die Welt
weil es harmlos ist
So ein Bild
kann man sich zum Frühstück
beim Studieren der Zeitung
getrost antun
so ein Bild schon
Da schmecken Eier und Salzstangen immer noch
Ausstellungen
kann man mit solchen Bildern machen
Preise gewinnen
Die Agenturen lechzen
nach solchen Bildern
Er nimmt sein Glas und schmeißt es in den Weihnachtsbaum.
LESSING:
Ich habe andere Bilder gesehen
Wir alle haben andere Bilder gesehen
Wir müssen damit leben
Halb verweste Menschen
Körperfetzen
einzelne Köpfe
Prost und Fröhliche Weihnachten
Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
Verklebte Leichen
wie wäre es damit
Bis zu vier Menschen habe ich gesehen
die ineinander verschmolzen waren
Ein Vater beugt sich zum Schutz
über seine Frau und seine beiden Kinder
Die glückliche Familie
die heilige Familie
Fröhliche Weihnachten
Er nimmt einen kräftigen Schluck.
LESSING:
Es wird Zeit
dass wir nach draußen gehen
Hört ihr
Wir dürfen die Wahrheit nicht länger
in unseren Köpfen behalten
Wir müssen sie hinausschreien
und nicht im Archiv ablegen
Lasst uns nach draußen gehen
Vergeblich versucht er sich im Rollstuhl aufzurichten.
ein JOURNALIST(ruft laut):
Vorsicht Heckenschützen
LESSING stürzt zu Boden und hält zum Schutz die Hände über den Kopf, dabei zerbricht die Whiskyflasche.
Die JOURNALISTEN und HUREN lachen. Der PIANOSPIELER spielt einen Tusch.
Grapefruit moon
PERSONEN:
MICHAEL, ledig, Dozent
ULF, verheiratet, zwei Kinder, Angestellter
HERBERT, verheiratet, bisexuell, Beamter
THEO, Strafentlassener
Alle vier kennen sich schon seit ihrer Schulzeit.
MARIA, Barfrau
HILDE, Transvestit und Sänger
sowie:
ein NACHRICHTENSPRECHER, ein PIANOSPIELER, GESELLSCHAFTSDAMEN, drei ÄLTERE HERREN, STRIPTEASETÄNZERIN, PUTZFRAUEN
Das Stück spielt in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Erste Szene
In der Wohnung von THEO.
Das Wohnzimmer bestehend aus Sitzecke, Esstisch, Wohnzimmerschrank und Fernseher. Der Raum hat drei Türen, über der einen hängt ein Transparent: »Herzlich Willkommen Theo«, eine andere Tür führt in die Küche, die dritte ins Schlafzimmer.
Aus dem Schlafzimmer: Staubsaugergeräusche. Aus der Küche: Geschirrgeklapper.
Nach einer Weile: eine Stimme aus der Küche
MICHAEL(ruft):
Ulf
kannst du mal das Radio anmachen
Es kommen gleich Nachrichten
Und schalt um Gotteswillen
den scheiß Staubsauger ab
ist ja nicht zum aushalten
Der Staubsauger wird abgestellt.
ULF kommt mit einer Schürze bekleidet aus dem Schlafzimmer.
ULF:
Total verdreckt die Bude
Ist ja auch kein Wunder
nach all den Jahren
Hat sich ja niemand drum gekümmert
zur Küche hin
Wenigstens das Grobe
muss ich doch wegmachen
Er sucht das Radio.
Seit wann interessierst du dich
für die Nachrichten?
Aus der Küche
MICHAEL:
Die Quoten will ich hören
Die Lottoquoten
Sieben Millionen sind im Pott
MICHAEL kommt ins Wohnzimmer.
Auch er hat eine Schürze um, in der Hand hält er einen Teller und ein Handtuch.
MICHAEL:
Stell dir vor
sieben Millionen
Was man damit alles machen kann
Ein alter Bugatti
eine Yacht
‘ne Insel in der Südsee
mit knackig braunen Mädchen drauf
mit solchen Titten
Er macht eine ausholende Armbewegung.
ULF:
Südseemädchen haben keine großen Titten
die sind höchsten so groß
wie Grapefruits aber dafür
schön fest und rund
MICHAEL:
Ist doch wirklich scheißegal
aber ich sag dir eins
Bei sieben Millionen
haben die auch große Titten
darauf kannst du dich verlassen
ULF hat das Radio gefunden, er macht es an.
Aus dem Radio hört man die Stimme des NACHRICHTENSPRECHERS.
NACHRICHTENSPRECHER:
Die wegen Polizistenmordes verurteilte
frühere Angehörige der terroristischen
Rote Armee Fraktion
Angelika Speitel
ist vom Bundespräsidenten
begnadigt worden
Das Bundespräsidialamt bestätigte gestern
einen Bericht des Nachrichtenmagazins
Der Spiegel
Die Ex-Terroristin
die noch in der Justizvollzugsanstalt
Köln-Ossendorf sitzt
soll demnächst auf freien Fuß
gesetzt werden
Ein ebenfalls an den Bundespräsidenten
gerichtetes Gnadengesuch
des früheren
ULF schaltet das Radio wieder ab. MICHAEL schaltet es wieder ein.
MICHAEL:
Ich will die Quoten wissen
NACHRICHTENSPRECHER:
Der innenpolitische Sprecher
der CDU/CSU
hat die Entscheidung im Falle Speitel
als verfrüht bezeichnet
Es sei unverständlich
warum bei ihr eine lebenslange
Freiheitsstrafe
nur zwölf Jahre
Freiheitsentzug bedeuten solle
während andere Mörder
die nicht aus der Terrorismusszene kämen
in der Regel 15 bis 30 Jahre
für Mord büßen müssen
ULF schaltet das Radio wieder aus.
ULF:
Ist ja nicht zum aushalten
MICHAEL:
Und die Lottoquoten?
ULF:
Scheiß auf die Quoten
Das muss man sich mal vorstellen
da wird die begnadigt
als ob nichts gewesen wäre
da wird so eine einfach begnadigt
von unserem Herrn Bundespräsidenten
nach lächerlichen zwölf Jahren
Unsereins würde da vermodern
kein Hahn würde nach einem krähen
Und so eine wird einfach begnadigt
MICHAEL:
Von wem redest du eigentlich?
ULF:
Hast du eben nicht gehört?
MICHAEL(ärgerlich):
Ich wollte die Lottoquoten hören
ULF:
Von der Terroristin red‘ ich
die von der RAF
die begnadigt werden soll
Na wie heißt sie denn gleich noch?
Haben sie eben doch noch gesagt
MICHAEL:
Aber nicht die Lottoquoten
ULF:
Sei doch mal still
Der Name liegt mir auf der Zunge
MICHAEL:
Ist ja auch egal
hab ja sowieso
ganz andere Zahlen gehabt
ULF:
Ich hab’s Speidel
Genau
Speidel heißt die Tante
wie die Schauspielerin
kennst du doch
ist so in unserem Alter
und noch ganz gut in Schuss
MICHAEL:
Ja ja
Ich weiß wen du meinst
die Rotblonde
mit der würde ich auch gern mal
Die hätte nichts zu Lachen
ULF(nachdenklich):
Da buchten sie den Theo
für sechs Jahre ein
Muss die Zeit voll absitzen
obwohl er ein anständiger Bürger ist
Und so eine Polizistenmörderin
Terroristenfotze
kommt nach zwölf Jahren
schon wieder raus
Ich sag dir
dieses Land geht den Bach runter
MICHAEL:
Muss dir ehrlich sagen
Speidel sagt mir nicht viel
Ich meine
Speidel als Schauspielerin
Ja
Aber als Terroristin
wirklich
habe ich noch nie etwas von gehört
ULF:
Willst sie auch noch in Schutz nehmen
was?
So etwas gehört mindestens
lebenslänglich hinter Gitter
wenn nicht noch mehr
oder abgeschoben
Ich bin wirklich kein Freund der Todesstrafe
aber bei so einer
Es gibt keine Gerechtigkeit mehr
Aber ich sag dir
das wird noch viel schlimmer werden hier
Armer Theo
Der Theo hatte wenigstens einen Grund
MICHAEL:
Armer Theo
dem hat das Schicksal arg mitgespielt
Beide setzen sich.
ULF:
‘Ne Zigarette?
Er bietet ihm eine an.
MICHAEL:
Danke
ULF gibt ihm Feuer. Beide rauchen schweigend.
Nach einer Weile
ULF betrachtet seine brennende Zigarette
ULF:
Theo hat ja damit aufgehört
wegen der Kohle
Hauptsache er hat die Wohnung
nicht verkaufen müssen
So hat er wenigstens einen Platz
ein Zuhause
wenn er rauskommt
MICHAEL:
Könnt ich nie
Überhaupt Knast
würde ich nicht überleben
Dann schon eher die Kugel
ULF:
Ja ja
das sagt sich so leicht
Weißt du noch vor Gericht?
Als der Richter
er stockt
als der Richter das Urteil verkündete
Sechs Jahre ohne Bewährung
Und Theo?
Nicht einmal mit der Wimper hat er gezuckt
Das ist wahrer Charakter
Hätte ich ihm gar nicht zugetraut
MICHAEL:
Der Verteidiger ist ja auch eine Flasche gewesen
so ein richtiges Muttersöhnchen
ULF:
Der war schwul
ich sag’s dir
Hundertprozentig
Das war eine Tunte
wie sie im Buche steht
Der hat unter seiner Robe
bestimmt Strapse getragen
Beide lachen
MICHAEL:
Da kannst du Recht haben
Auf jeden Fall
war er nicht verheiratet
konnte also gar nicht mitreden
ULF:
Bist du doch auch nicht
MICHAEL:
Das ist doch etwas ganz anderes
Ich habe beide sehr gut gekannt
war sogar Trauzeuge
wenn du dich erinnern magst
MICHAEL nimmt einen kräftigen Zug.
ULF:
Und dann der Staatsanwalt
Der Staatsanwalt
eine Frau
Eine Frau
in so einem Prozess
das roch doch direkt nach Verfahrensfehler
In so einem Prozess
eine Frau
da hatte er überhaupt keine Chance
Und wie die ausgesehen hat
richtig verbittert
MICHAEL:
Wahrscheinlich hat sie lang keinen
mehr drin gehabt
die Tante
ULF:
Lesbisch
So wie die aussah
Lesbisch
Lesbierinnen erkenne ich schon auf
hundert Meter Entfernung
Die gehen irgendwie anders
MICHAEL:
Wer weiß
was die zwischen den Beinen
alles so mit sich führen
Beide lachen.
MICHAEL steht auf.
Ich hol mir ein Bier
willst du auch eins?
ULF:
Na klar
bei der staubigen Luft
MICHAEL geht in die Küche.
ULF:
Ich glaube
ich hätte es genauso gemacht
MICHAEL(ruft):
Ein kaltes oder ein warmes ?
ULF:
Kalt natürlich
Also
wenn meine Inge
mir das antun würde
ich würde genauso durchdrehen
Ist ja auch ganz normal
steht ja schon in der Bibel
MICHAEL(ruft):
Was steht in der Bibel?
ULF:
Na das mit der Ehebrecherin
wurde einfach gesteinigt
MICHAEL kommt mit dem Bier wieder.
MICHAEL(lachend):
Soviel Steine gibt es in ganz Deutschland nicht
ULF:
Da kannst du Recht haben
Beide prosten sich zu.
Also
wenn das meine Inge machen würde
ich tät‘ schon durchdrehen
Da geht man ein Leben lang schuften
für die Familie
rackert sich ab
und die liebe Ehefrau fängt ein Verhältnis an
Am besten noch mit einem Jüngeren
Weißt du
das habe ich der Inge auch gesagt
wenn sie beispielsweise
er überlegt
sagen wir mal
mit dir
etwas anfangen würde
MICHAEL macht einen erschrockenen Eindruck, fängt sich aber schnell wieder.
MICHAEL:
Wieso ausgerechnet ich?
ULF:
Ist doch nur ein Beispiel
Also nehmen wir einmal an
du und meine Inge
ihr hättet etwas miteinander
Ich meine da kann man ja drüber reden
nicht?
MICHAEL:
Drüber reden kann man
warum nicht
ULF:
Du und Inge
das wäre sogar verständlich
MICHAEL:
Also ich weiß nicht
ULF:
Warum?
Ihr kennt euch nun einmal lange
und dann ist es halt einmal
Ich betone
einmal
passiert
Nein wirklich
würde ich drüber wegkommen
Vielleicht ein paar Ohrfeigen
ein blaues Auge
im Affekt
aber das wäre es denn auch schon
MICHAEL(ängstlich):
Du würdest dich also mit ihm schlagen?
ULF:
Ach wo
Wie kommst du darauf?
Dir würde ich nichts tun
Sie bekäme ein paar hinter die Ohren
MICHAEL schaut erleichtert.
ULF nimmt einen großen Schluck und fährt dann fort
Aber bei einem Jüngeren
da würde ich ausrasten
da hätte ich kein Verständnis
Allein der Ästhetik wegen
Meine Inge und ein Jüngerer?
Nein danke
Da würde ich rot sehen
Das wäre mehr als eine Beleidigung
mir gegenüber
Ich schufte den ganzen Tag
so dass ich abends
total müde
ins Bett falle
und sie amüsiert sich mit einem Halbwüchsigen
Da würde ich rot sehen
Mal im Vertrauen
Bei ihren Hängetitten
glaub ich sowieso nicht daran
dass da noch einer spitz werden kann
er lacht.
Man merkt, dass das Thema MICHAEL unangenehm ist.
MICHAEL:
Hast du eine Ahnung
wann die kommen?
ULF:
Herbert holt ihn um drei ab
Dann will er ihm noch ein wenig
die Stadt zeigen
so zum eingewöhnen
hat sich ja auch viel verändert
in den Jahren
MICHAEL:
Ja Ja
Sechs Jahre sind eine lange Zeit
Sechs Jahre
ULF:
Lass uns mal wieder an die Arbeit gehen
damit wir fertig werden
Beide trinken ihr Bier auf "Ex" aus. Dann geht jeder wieder in das Zimmer.
Nach einer Weile kommt MICHAEL mit einem Tablett Geschirr herein.
Aus dem Nebenzimmer hört man wieder Staubsaugergeräusche.
MICHAEL beginnt den Tisch für vier Personen zu decken.
MICHAEL:
Sechs Jahre
Verdammt lange Zeit
Ich würde wahnsinnig werden
Sechs Jahre keine Frau
ganz schön hart
Gut
dass ich nie geheiratet habe
Ehefrauen bringen einen
entweder unter die Erde
oder in den Knast
Das hat schon mein alter Herr gesagt
der hat sich nicht umsonst scheiden lassen
Kann man sich heutzutage
gar nicht mehr leisten
eine Scheidung
Na ja
an mir ist der Kelch
noch einmal vorbeigegangen
Und das mit Theo
habe ich irgendwie kommen sehen
seine Frau war einfach zu selbstständig
hat auch mehr verdient als er
Das ist nie gut
wenn die Frau mehr verdient
Gibt nur unnötige Reibungspunkte
Theo hat darunter bestimmt gelitten
auch wenn er darüber nie geredet hat
Sie war einfach zu hübsch für ihn
und er zu gutmütig
Die hätte einen starken Mann gebraucht
zu dem sie hätte aufschauen können
Dann wäre das nicht passiert
Wie hatte das der Anwalt
noch so schön in seinem Plädoyer formuliert?
Er war halt der erste
der geschossen hat
wahrscheinlich hätte sie
das Opfer
einen Monat später oder so
genauso gehandelt
Er ist mit dem Eindecken fertig und bringt das leere Tablett in die Küche.
Er kommt mit einem Bier wieder.
MICHAEL setzt sich hin.
MICHAEL:
Keiner von uns hätte ihm das zugetraut
er war einfach nicht der Typ dazu
Ihm fehlte irgendwie der Ehrgeiz
das war schon in der Schule so
Wenn ich da nur an den Sportunterricht
zurückdenke
ein Versager auf der ganzen Linie
Schach spielen konnte er gut
aber sonst
Ich weiß noch
wie er das erste Mal mit dieser Frau
in unserem Stammlokal aufgetaucht ist
ganz schön gestaunt haben wir
Na ja
neidisch waren wir schon
Er nimmt einen Schluck.
Obwohl
solche Frauen habe ich auch abgezogen
aber nur für eine Nacht
Da bin ich Realist
So was kann man auf die Dauer nicht halten
Die wusste
wo es langgeht
das ist immer scheiße
Tanzt einem auf der Nase herum
und ehe man sich versieht
steht man als Blödmann da
Nee nee
ohne mich
Aber der Theo
war richtig Feuer und Flamme
hatte endlich was zum Angeben
Ist ja auch acht Jahre gut gegangen
Acht Jahre
was für ein Zeitraum
kann ich überhaupt nicht nachvollziehen
bin halt kein Gewohnheitstier
Drei Monate höchstens
und dann ist gut
wird ja auch sonst langweilig
in jeder Beziehung
Und außerdem entwickeln sich
die meisten Frauen
wenn sie verheiratet sind
Der Staubsauger wird abgeschaltet.
zu richtigen Muttertieren
richtigen Mamas
werden immer runder und runder
und ehe man sich versieht
liegt da so ein Fleischberg neben einem
Nein danke
Zum Glück gibt’s ja den Puff
ULF kommt mit dem Staubsauger ins Wohnzimmer.
ULF:
Was ist mit dem Puff?
MICHAEL:
Nichts
hab nur laut gedacht
ULF:
Gar keine schlechte Idee
Wir legen alle zusammen
und Theo kann endlich wieder
so nach Herzenslust bumsen
Was für ein Geschenk
Man merkt, dass ihn das Thema »aufgeilt«.
Du
muss ich dir unbedingt erzählen
Ich war letzte Woche wieder schauen
Eigentlich wollte ich gar nicht
wollt halt nur schauen
ob Frischfleisch da ist
War da so eine Schwarze
ich sage dir
glaube Marokkanerin
Da konnte ich nicht nein sagen
Die hat es mir besorgt
mein lieber Schwan
so etwas hast du bestimmt noch nicht erlebt
Mit den Füßen
verstehst du?
Mit den Füßen
das war der helle Wahn
Endlich mal eine
die ihr Geld wert war
Die ganze Zeit reibt er an dem Staubsaugerschlauch, so als ob er onanieren würde. MICHAEL schaut ihn amüsiert dabei zu.
MICHAEL:
Weißt du eigentlich
dass zwanzig Prozent alles Männer
es mit dem Staubsauger treiben
Erst jetzt merkt ULF, was er die ganze Zeit tut.
ULF:
Idiot
Du und deine Statistiken
Er rollt das Staubsaugerkabel auf. MICHAEL ist aufgestanden.
MICHAEL:
Willst du auch noch ein Bier?
ULF:
Na klar
bei der trockenen Luft hier
MICHAEL geht in die Küche Bier holen.
ULF:
Würde meine Inge
mit mir nie machen
mit den Füßen
Sie würde irgendwas von Kirche reden
und sich zur Seite rollen
MICHAEL kommt mit dem Bier wieder.
Weißt du
wenn Frauen erst einmal über vierzig sind
kannst du sie vergessen
Ab vierzig werden sie frigide
das liegt wohl in der Natur
Manchmal beneide ich dich richtig
Wenn man noch einmal von vorne anfangen könnte
MICHAEL gibt ihm ein Bier.
MICHAEL:
Na na na
Du wirst doch nicht auf deine Tage
melancholisch werden
Passt nicht zu dir
ULF:
Du hast gut reden
Beide setzen sich.
Betteln muss ich
Betteln
verstehst du?
Bei der eigenen Frau
Betteln
Ich habe das Gefühl
dass sie sich irgendwie rächen will
Dabei hat sie überhaupt gar keinen Grund
Da sind die Kinder
das schöne Haus
Sie hat alles
Sie bekommt alles
Sogar ihren eigenen Wagen hat sie
Das hat noch lange nicht jede
MICHAEL:
Vielleicht sind es die Wechseljahre
ULF:
Nimm sie auch noch in Schutz
Nein nein
da steckt was anderes dahinter
werde ich schon noch herausbekommen
MICHAEL:
Seit wann machst du dir so viele Gedanken?
Kenne ich gar nicht an dir
ULF zündet sich eine Zigarette an.
ULF:
Ich habe irgendwie das Gefühl
als ob mir die Zeit davonrennt
Und jetzt
wo der Theo rauskommt
Sechs Jahre war er drin
und die Zeit verging wie im Fluge
Verstehst du?
Nichts ist passiert
als ob man selber dringesessen hätte
Sechs Jahre
und man selber hat alles verschlafen
MICHAEL:
Jetzt übertreibst du aber
Du hast ein Zuhause
Familie
was willst du mehr?
ULF:
Das sagt der Richtige
Zweiundvierzig
Ledig
Dickes Bankkonto
Ungebunden
Und du willst mir die Vorzüge
einer Ehe
MICHAEL(unterbricht):
Kannst du dich noch an Babette erinnern?
Die Tochter des Tankstellenbesitzers
Wie wir beide
sie flachgelegt haben
Zusammen
Weißt du noch?
ULF(mürrisch):
Die hieß nicht Babette
Barbara oder so
Ja
daran kann ich mich noch gut erinnern
ihr habt mich nämlich nicht mitgenommen
Herbert und du
MICHAEL:
Was erzählst du da?
Du warst dabei
und nicht Herbert
Du hast dich doch noch so geziert
weil sie so direkt war
weil sie uns beide
gleichzeitig haben wollte
ULF:
Herbert war dabei
das weiß ich ganz genau
Herbert und du
Ich habe mich um Theo kümmern müssen
MICHAEL:
Was hatte denn der Theo damit zu tun?
ULF:
Als ob du das nicht mehr wüsstest
Ihr habt ihn doch noch bequatscht
dass er dazu kommen soll
MICHAEL:
Ja ja
ich erinnere mich wieder
war das ein Spaß
Wir so mittendrin
im wahrsten Sinne des Wortes
kommt Theo rein
zieht sich die Hose runter
und will mitmachen
Was macht Babette?
ULF:
Barbara
MICHAEL:
Ist doch gleich
Sie haut ihm eine runter
und sagt
Du Schwein
Er versucht »Babette« nachzumachen. Er lacht dabei.
Du Schwein
Wir sind sie feste am rammeln
und sie sagt
Du Schwein
Du Schwein
war das ein Spaß
Armer Theo
der hat vielleicht geguckt
Du Schwein
sagt sie
MICHAEL bekommt sich nicht mehr ein vor Lachen.
ULF schaut ein wenig ärgerlich.
ULF(ärgerlich):
Ist es jetzt gut
Ist es jetzt gut
MICHAEL(lachend):
Wir waren schon ein großes Team
ULF:
Ich sag es dir
zum letzten Mal
ich war nicht dabei
verstehst du?
Ich war nicht dabei
MICHAEL(ernst):
Ist ja schon gut
hab schon verstanden
Du warst nicht dabei
Waren es halt
Herbert und ich
ist doch nicht so wichtig
Und wenn du schlechte Laune hast
lass sie nicht an mir aus
Okay?
ULF(kleinlaut):
Bin in letzter Zeit
ein wenig gereizt
Er steht auf und geht zum Schrank, öffnet eine Tür (eine große Hausbar wird sichtbar) holt eine Flasche Cognac heraus und schüttet sich ein großes Glas ein.
Willst du auch einen?
MICHAEL:
Nein danke
ULF geht zum Fenster.
Er trinkt in langsamen Zügen und schaut aus dem Fenster.
Plötzlich nimmt er einen kräftigen Schluck, seine Augen werden größer.
ULF:
Komm mal her
Das musst du gesehen haben
Komm schnell
bevor es zu spät ist
MICHAEL kommt ans Fenster und schaut hinaus.
ULF:
Nicht da
Da musst du hinschauen
er zeigt mit dem Finger
MICHAEL macht große Augen.
Wahnsinn nicht?
Ist das ein Körper?
Sind das Brüste?
Pass auf
gleich bückt sie sich wieder
Das Höschen ist fast durchsichtig
Wahnsinn
MICHAEL:
Wie leichtsinnig
ULF:
Was sagst du?
MICHAEL:
Wie leichtsinnig
so die Fenster zu putzen
Sie wird noch runterfallen
ULF:
Jetzt
ja jetzt
Komm bück' dich schon
meine Kleine
Ja so ist schön
Hast du das gesehen
Wahnsinn
einfach Wahnsinn
MICHAEL:
Leichtsinnig
einfach leichtsinnig
Mit aller Seelenruhe
putzt sie die Scheiben von Außen
und das im vierten Stock
Seit wann bist du unter die Spanner gegangen?
Ich dachte
aus dem Alter wären wir raus
er wendet sich ab.
Tu was du nicht lassen kannst
Ich für meinen Teil
werde jetzt den Braten
in die Röhre schieben
es wäre schön
wenn du mir gleich
beim Zwiebelschneiden helfen könntest
Er geht in die Küche.
ULF:
Ob meine Inge
auch so die Fenster putzt?
Zutrauen würde ich es ihr
Abends die keusche Gattin
und morgens der Vamp
Unser Nachbar grinst mich in letzter Zeit
auch schon immer so komisch an
Ich sollte mir mal einen Tag frei nehmen
im Büro
einfach so gegen zehn Uhr zu Hause auftauchen
einfach so
Zweimal im Monat darf ich noch
das ist doch nicht normal
Sie wird ihren Ausgleich haben
und ich werde dahinter kommen
liebe Inge
darauf kannst du dich verlassen
und dann gnade dir Gott
Die armen Kinder
um die Kinder tut es mir leid
MICHAEL(aus der Küche):
Kommst du nun endlich
sonst werden wir nie fertig
ULF:
Komm ja schon
Er geht zur Hausbar und schüttet sich noch einen Cognac ein. Nachdenklich leert er das Glas in kleinen Zügen.
Nach einer Weile aus der Küche
MICHAEL:
Scheiße
Gottverdammte Scheiße
Er kommt in das Wohnzimmer, um einen Finger hat er ein Papiertaschentuch gewickelt, es ist blutdurchtränkt.
MICHAEL:
Ich habe mich geschnitten
nur weil du mir nicht geholfen hast
Hol mir mal ein Pflaster
aber schnell
Scheiße
Gottverdammte Scheiße
nur weil du dir
halbnackte Frauen anschauen musst
ULF sucht in den Schubladen nach Pflaster.
Hättest du vielleicht die Güte
dich ein wenig zu beeilen
ULF sucht weiter im Wohnzimmerschrank.
Wo suchst du denn auch
da findest du bestimmt nichts
Dich kann man auch zu nichts gebrauchen
Er geht in das Schlafzimmer. Unterdessen scheint ULF etwas gefunden zu haben. Er holt ein dickes Photoalbum aus einer Schublade.
ULF(murmelnd):
Sylt 1978
Er setzt sich an den Tisch und blättert fasziniert in dem Buch.
Nach einer Weile kommt MICHAEL wieder aus dem Schlafzimmer.
Um den Finger hat er einen großen Verband gewickelt. In der Tür bleibt er stehen und schaut auf ULF.
MICHAEL:
Schön
Wirklich sehr schön
ULF schreckt hoch.
Ich bin fast am verbluten
und du schaust dir in aller Seelenruhe
Bilder an
ULF:
Komm mal her
so was hast du noch nicht gesehen
Unser lieber Theo
Ja ja
stille Wasser sind tief
Interessiert setzt sich MICHAEL neben ULF.
MICHAEL:
Na dann zeig schon her
ULF:
Na zu viel versprochen?
MICHAEL:
Das grenzt ja schon an Pornographie
er blättert weiter
Hätte ich dem Theo gar nicht zugetraut
ULF:
Wie kann man nur solche Photos
von der eigenen Frau machen
und sie dann auch noch so offen
herumliegen lassen?
Ich meine
schlecht hat sie ja nicht ausgesehen
die Kleine
Kein einziges Härchen
am Körper
das hat schon was
findest du nicht?
MICHAEL zeigt auf ein Bild.
MICHAEL:
Schau mal
da
Ich meine
ich kann mich täuschen
aber ist das nicht Herbert?
ULF:
Herbert?
Herbert ist viel größer
MICHAEL:
Den mein ich doch gar nicht
der dahinten
das ist Herbert
ULF:
Mensch Michael
Du hast vollkommen Recht
das ist Herbert
Herbert und Theos Frau
hätte ich nie gedacht
wirklich
wäre ich nie draufgekommen
Aus der Küche kommen kleine graue Wolken.
MICHAEL:
Herbert
die linke Ratte
Macht bei uns einen auf biederen Ehemann
und vergnügt sich heimlich mit rasierten Frauen
ULF:
War er denn schon 1978 verheiratet?
MICHAEL:
Na klar
seit 1976
noch vor dir
Aber Theo war noch nicht verheiratet
ob er sie durch Herbert kennen gelernt hat?
ULF:
Keine Ahnung
er hat mit mir nie darüber gesprochen
Müsstest du eigentlich wissen
Du warst doch Trauzeuge
Die Rauchwolken werden größer.
MICHAEL:
Trauzeuge schon
aber nicht Beichtvater
Beide lachen
Riechst du das auch?
ULF:
Wenn ich gewusst hätte
dass der Herbert und die
dann hätte ich es auch einmal versucht
Bei so einer hätte ich keine Skrupel
auch wenn der Theo mein Freund ist
Sie war halt so ein Typ von Frau
die mehrere braucht
die gar nicht genug bekommen kann
wie die Barbara von der Tankstelle
MICHAEL:
Babette
nicht Barbara
ULF(nachdenklich):
Frauen
sind schon die größeren Schweine
Nach Außen
reden sie von Emanzipation
und im Endeffekt
wollen sie von uns
doch nur
flachgelegt werden
er nimmt ein Bild aus dem Album.
Bin mal gespannt
was Herbert dazu sagt
Freu mich jetzt schon
auf sein blödes Gesicht
MICHAEL:
Riechst du immer noch nichts?
ULF:
Nein
ich rieche nichts
MICHAEL:
Als ob es irgendwo brennen würde
ULF(lachend):
Vielleicht bei der Nackten von gegenüber
MICHAEL ist aufgestanden und schaut aus dem Fenster. Dann erst dreht er sich um. Jetzt entdeckt er die großen schwarzen Wolken, die aus der Küche kommen.
MICHAEL(entsetzt):
Der Braten
Scheiße
Gottverdammte Scheiße
Er rennt in die Küche.
Stammheim
PERSON:
MANN, ein verurteilter Wirtschaftsboss
Das Stück spielt in einer Gefängniszelle im Hochsicherheitstrakt von Stammheim.
1.
Eine schwere Eisentür wird zugeschlagen.
Der MANN telefoniert.
MANN:
Irgendwie
muss ich hier herauskommen
wäre doch gelacht
Hallo
Hallo
Der MANN sitzt in der Mitte des Raumes und telefoniert mit einem großen Mobiltelefon.
Hallo
Noch nicht einmal
ein Besetztzeichen
Hallo
Er legt das Telefon beiseite.
Gut
dass meine Gruppe
nicht in diesen Mist investiert hat
Er sucht in seinem Aktenkoffer nach Papieren.
Irgendwo
muss ich sie haben
Wenn ich mich in der nächsten halben Stunde
nicht bei Frau Schmidt melde
bricht in der Firma ein Chaos aus
Er nimmt das Telefon.
Hallo
Hallo
Vielleicht
sollte ich den Anbieter wechseln
Hallo
Hallo
Er presst das Telefon fest an sein Ohr.
Scheiße verdammte
ich komme hier nicht raus
Er legt das Telefon beiseite.
Der MANN steht auf und geht zum vergitterten Fenster.
Keine Wolke am Himmel
und trotzdem funktioniert es nicht
Atmosphärische Störungen
hat der Direktor
der technischen Abteilung gesagt
Atmosphärische Störungen
im einundzwanzigsten Jahrhundert
dass ich nicht lache
Warum komme ich hier nicht heraus?
Es piept.
Auf dem Weg zum Telefon.
Ich habe es gewusst
Frau Schmidt
Sie sind ein Juwel
Er fällt über einen Stuhl.
Frau Schmidt
bleiben Sie dran
halten Sie aus
Er rafft sich auf.
Frau Schmidt
ich komme
nur Geduld
Obwohl er eine Taste drückt, piept das Telefon weiter
Frau Schmidt
hören Sie mich
Sagen Sie doch was
Frau Schmidt
bitte
Er drückt mehrere Tasten. Das Telefon hört nicht auf zu piepen.
Christel
bist du es
Christel
wenn du es bist
mach auf der Stelle
die Leitung frei
Hast du verstanden
Nein
warte
Hörst du
ruf in der Firma an
ich brauche sofort die Gebrauchsanweisung
von diesem scheiß Telefon
Hallo
bist du noch dran?
Hallo
Entnervt wirft er das Telefon auf das Bett.
Keiner kommt herein
Ich komme nicht hinaus
Er stampft mit den Füßen auf den Boden.
Was ist denn das?
Er tritt mehrere Male fest auf und klopft dann die Wände ab.
Diese Idioten
Kein Wunder
das seinerzeit
die Baufirma
Konkurs hat anmelden müssen
Diese Idioten
haben tatsächlich
Stahlbeton benutzt
Stahlbeton
auf dem Kostenvoranschlag
ja
auf der Rechnung
ja
Himmel das ist normal
Stahlbeton
so etwas
verbaut man doch nicht
Alle Welt
schreibt Stahlbeton
auf die Rechnung
bei öffentlichen Ausschreibungen
bei staatlichen Bauten
Vielleicht
zehn Prozent
von der veranschlagten Summe
verbaut man
wenn überhaupt
Und ich habe Bau-Grosse
auch noch ins Geschäft gebracht
dachte wirklich
er wäre einer von uns
Wie man sich täuschen kann
was habe ich den Minister
beknien müssen
Wahrscheinlich
ist der Pool
den ich dem Minister
gestiftet habe
auch aus Stahlbeton
Na wunderbar
Grosse
was bist du nur
für ein Versager
Schießt sich auch noch eine Kugel in den Kopf
dieser Idiot
Bringt sich wegen Schulden um
War ja auch Atheist
der Grosse
Baut hier den ganzen Kasten
aus Stahlbeton
Manche Menschen
sind wirklich
nicht zu retten
Er holt aus seiner Pfeifentasche ein wertvolles Stück heraus und stopft sie genüsslich.
Wenigstens
habe ich sein Haus
auf Madeira
aus der Konkursmasse
retten können
Der Minister
hat die Kurzurlaube
immer genossen
Er zündet ein Streichholz an. Die Flamme flackert.
Zug
Hier herrscht Zug
Ich ruiniere mir doch nicht meine Pfeifen
Das Streichholz erlischt.
2.
Auf dem Boden liegen unzählige Streichhölzer. Der MANN kniet vor einer Steckdose und fuchtelt mit seinem Pfeifenreiniger in derselben herum. Im Mund zitternd eine Zigarette.
MANN:
Kein Saft
Die Heizung
bullert vor sich hin
Die Klimaanlage
läuft auf vollen Touren
und ist nicht zu regulieren
Aber den Strom
stellen sie ab
Na wunderbar
einfach wunderbar
Umständlich versucht er das Telefon zu öffnen. Der Akku fällt heraus.
Er nimmt die Pfeifenreiniger und stellt eine Verbindung zwischen Steckdose und Akku her. Funken entstehen.
Er hält die Zigarette an die Funken und zieht kräftig.
Genau so
muss sie schmecken
die Zigarette danach
Die letzte Zigarette
vor der Exekution
Was ist das
für eine Gesellschaft
was für ein Staat
wo ein Staatsanwalt
selbst Richter
ihren Beruf
ausüben dürfen
ohne in der Partei zu sein
Da stimmt doch was nicht
Das Ganze
grenzt an Anarchie
Die Blicke
allein die neidischen Blicke
bei der Offenbarung
meines offiziellen
zu versteuernden
Jahreseinkommens
waren ja eindeutig
Befangen
das ganze Gericht
war befangen
An der alten Zigarette zündet er sich sofort eine neue an.
Um mich
klein zu kriegen
müssen die sich
schon etwas besseres
einfallen lassen
Dass ich mehr
als der Bundeskanzler verdiene
ist eine Selbstverständlichkeit
Nur für den kleinen Neider
von Staatsanwalt
nicht fassbar
Wahrscheinlich ein ganz Linker
dieser Staatsanwalt
vom Richter
erst gar nicht zu reden
Grüner
oder Kommunist
Wer heutzutage
ein öffentliches Amt
bekleidet
und nicht
einer Partei angehört
muss zwangsläufig
verdächtig sein
Vielleicht
ist ihm ein Kontakt
zur Terroristenszene nachzuweisen
oder zu einem Geheimdienst
Alles nur eine Frage
von Beziehungen
Ob Christel
den Prozess verfolgt hat?
Durfte mich ja nicht umdrehen
wegen der Journalisten
und aus taktischen Gründen
Ja
auf meinen Anwalt
kann ich mich
jederzeit verlassen
Er zündet sich an der alten Zigarette eine neue an.
Wahrscheinlich
sitzt Gerhard schon beim Justizminister
Ich habe ihm Bankvollmachten übertragen
Die Nacht werde ich überleben
Eine Nacht ist doch lächerlich
Im Grunde
hätte das Strafmaß
überhaupt nicht höher
ausfallen können
hat Gerhard gesagt
Umso höher das Strafmaß
desto besser stehen die Chancen
bei der Revision
Drei Jahre
im Grunde lächerlich
Der Verfahrensfehler
liegt klar auf der Hand
Ein politischer Prozess
mit einem politischen Urteil
Da wurde mit zweierlei Maß gemessen
Wer hat denn das Gerichtsgebäude
seinerzeit
modernisieren lassen
Das bin doch ich gewesen
Spätestens Morgen
bin ich draußen
Gerhard
wird mich hier
rausholen
allein Christel
könnte es nicht ertragen
Er weiß ja
wie nah sie
am Wasser gebaut ist
Er zündet sich mit der alten Zigarette eine neue an.
Werde ohnehin
kein Auge zutun
Eine Nacht
ist doch wirklich lächerlich
Jubiläum
PERSONEN:
ALTE FRAU
JUNGER MANN
1.ARZT
CHEFARZT Professor
HAUSMEISTER
ZIVILDIENSTLEISTENDE
2.ARZT
KOWALSKI
MUSIKER
RECHEW und WAGNER zwei Schachspieler
ASSISTENZARZT
GRÄFIN Königin der Nacht
GRAF
ALLEINUNTERHALTER
INSASSEN
MINISTERPRÄSIDENT
SEKRETÄR, FOTOGRAFEN, JOURNALISTEN, ANWESENDE
1. Szene
In der Psychiatrie.
Auf dem Flur einer geschlossenen Abteilung. Rechts und links viele Türen, die mit Zahlen gekennzeichnet sind, gegenüber den Türen, Bänke. In der Mitte (nach hinten versetzt) ein übergroßes Fenster, durch das man in einen großen Saal schauen kann. Der Saal wird gerade festlich geschmückt.
Auf der linken Seite sitzen: eine ÄLTERE FRAU und ein JUNGER MANN.
JUNGER MANN:
Das Warten ist das Allerschlimmste
Die Zeit ist zäh
wie ein Kaugummi
Warten ist sinnlos
Wenn man sich entschließt
zu warten
ist man hoffnungslos verloren
Das Leben draußen
ist schnell
sehr schnell
Ein Tag mit sinnlosem Warten zugebracht
und man hat den Anschluss verpasst
Wenn man wartet
glaubt man
dass die Zeit nicht vergeht
aber genau das Gegenteil
ist der Fall
Wenn man aufhört
zu warten
ist es zu spät
um noch aufzuspringen
Wer wartet
scheidet aus
und zwar für immer
ALTE FRAU:
Ich warte nicht
habe seit langem
kein Zeitgefühl mehr
wozu auch
Ich habe nichts und niemanden
auf den ich warten kann
also warte ich nicht
Beim Arzt muss ich warten
Aber das ist kein richtiges Warten
wenn man es muss
Alles was man muss
ist nicht richtig
ist nicht wahr
Die Wahrheit kann nicht erzwungen werden
Hier muss ich sein
habe eine Vorladung
Da ich hier sein muss
bin ich nicht hier
Nur meine Angst ist hier
Es ist egal
ob ich hier sitze
oder woanders
Überall nur ein muss
Der Arzt sagt
ich sollte versuchen
an mich zu denken
JUNGER MANN:
Wieder dieses sinnlose Warten
und überall
die gleichen Flure
Diese Flure
sind wie ein Vakuum
erst durch das Öffnen der Türe
kommt die Zeit wieder
und dann ist es zu spät
Immer
wenn es längst zu spät ist
wird eine Tür geöffnet
In diesen Fluren
hängen keine Uhren
Ich habe in diesen Fluren
noch nie eine Uhr hängen gesehen
Überall da
wo das warten sinnlos ist
hängen keine Uhren
Die Ärzte sind schlaue Menschen
vorbeugende Charaktere
Ohne Uhr
auch keine Sinnlosigkeit
denken sie
ALTE FRAU:
Drüben bereiten sie eine Feier vor
Ich habe das Schild gesehen
Fünfzig Jahre
stand darauf
umrahmt von goldenen Lorbeerblättern
Ein Jubiläum
ein Geburtstag
An Geburtstagen
geht immer alles drunter und drüber
das wird hier nicht anders sein
Als ich fünfzig Jahre alt wurde
hat sich mein Mann
extra frei genommen
Der Tagesablauf wurde auf den Kopf gestellt
Zum Frühstück gab es Brötchen
Aber schön war es
Ja es war schön
An meinem fünfzigsten Geburtstag
ist mein Mann
sehr lieb zu mir gewesen
Geburtstage
sind außergewöhnliche Tage
sie stellen die Regelmäßigkeit auf den Kopf
Fünfzig Jahre
stand auf dem Schild
Ein fünfzigjähriges Jubiläum
wird gefeiert
das wirft alle Regelmäßigkeiten
über den Haufen
Fünfzig Jahre
eine schöne Zeit
JUNGER MANN:
Ich kann nur hoffen
dass ich dieses Alter nicht erreiche
Fünfzig Jahre
sinnloses Warten
werde ich nicht aushalten
Zwanzig Jahre ohne Ruth
sinnloses Warten ohne Ruth
kann ich nicht aushalten
Ich bin krank
sagen die Ärzte
weil ich ohne Ruth nichts aushalte
Ohne Ruth ist ja auch alles sinnlos
Zwanzig Jahre
ohne Ruth
nur sinnloses Warten
Und draußen
herrscht eine andere Welt
Eine schnelle Welt
auf die ich nicht mehr aufspringen kann
Ruth hat man mir einfach weggenommen
regelrecht aus der Hand
hat man sie mir gerissen
Die Eltern haben mich nie leiden können
Ihre Eltern waren von Anfang an gegen mich
Es hat mich nicht verwundert
dass sie mich angezeigt haben
Aber dennoch ist es ein Unrecht
dass man sie mir weggenommen hat
Die Welt wollte ich ihr zeigen
wie ich es ihr versprochen hatte
Aber wie soll ich ihr die Welt zeigen
wenn ich mich hier
jede Woche melden muss?
ALTE FRAU:
Hoffentlich habe ich alles dabei
Sie kramt in ihrer Handtasche und holt mehrere Zettel heraus.
Wenn man nicht alles dabei hat
muss man wiederkommen
und sich wieder hinten einreihen
Man muss so lange wiederkommen
bis man alles dabei hat
Was "alles" ist
bestimmen sie
Für ein Wiederkommen
reicht meine Angst nicht aus
dann müssen sie mich wieder holen
Wenn man alles dabei hat
muss man nicht wiederkommen
Auf der rechten Seite geht eine Tür auf. ZWEI ÄRZTE in weißen Kitteln treten heraus.
1.ARZT:
Ich habe gehört
dass sie die Jubiläumsrede halten werden
CHEFARZT:
Ja ja
man hat mich gebeten
Auch das gehört dazu
auch das sind Pflichten
eines Chefarztes
obwohl mir dies nicht sonderlich liegt
Aber was soll man machen
Das Kuratorium
die Direktion
da ist man machtlos
Man ist halt selber nur ein Rädchen
ein kleines Rädchen im Getriebe
Wussten Sie eigentlich
dass wir über 250 Mitarbeiter haben
1. ARZT verneint.
Trösten Sie sich
ich habe es auch nicht gewusst
Er blättert in den Unterlagen.
Exakt 263 Mitarbeiter
Tapfere Streiter für die Gesundheit
für das Wohlergehen
für das Wohl der Gesellschaft
für das Wohl einer Kranken-Gesellschaft
Wie finden die Formulierung?
1. ARZT:
Nun von einer kranken Gesellschaft
CHEFARZT (unterbricht):
Nein nein
das meinte ich nicht
Tapfere Streiter
habe ich in meine Rede eingebaut
Bei
Er blättert in seinen Unterlagen.
263 Mitarbeitern
dachte ich mir
es ist besser
wenn ich von einem Kollektiv spreche
und niemanden besonders hervorhebe
Man ist ja doch nicht in der Lage
an alle zu denken
wie leicht vergisst man jemanden
Nicht wahr
Herr Kollege?
Das schafft nur böses Blut
er lacht verkrampft.
Irgendjemanden vergisst man immer
Nein nein
darauf lasse ich mich nicht ein
Es soll ja ein harmonischer Abend werden
Eine schöne Jubiläumsfeier
sollte man nicht so leicht
aufs Spiel setzen
Die Herren vom Betriebsrat
werden schon zu genüge
für Aufregung sorgen
Bei
er blättert wieder in den Unterlagen
263 Mitarbeitern
kann man nicht jedem gerecht werden
Tapfere Streiter
Eine Armee
im Kampf gegen die Krankheiten
gegen die Geisteskrankheiten
Die Geisteskrankheit
ist die größte Herausforderung unserer Zeit
der wir gemeinsam und entschlossen
entgegentreten müssen
Herr Kollege
falls Sie es in naher Zukunft
auf meinen Posten
abgesehen haben
würde ich eine Möglichkeit sehen
wie Sie sich
vor einer größeren Zuhörerschar
profilieren könnten
Beide verlassen durch eine andere Tür den Flur.
JUNGER MANN:
Die weißen Wände
begleiten einen
ein Leben lang
Aus dem warmen Mutterbauch
herausgepresst
in den kalten
weißgekachelten Kreißsaal
Schon in dem weißgekachelten Kreißsaal
ist man allein
da nützt das glückliche Lächeln
der Mutter
nicht viel
Das Lächeln der Hebamme und des Arztes
ist sowieso nur aufgesetzt
Seitdem ich das Leichenschauhaus
kennen gelernt habe
kann mir niemand mehr etwas vormachen
Der Kühlraum
unterscheidet sich
in keinster Weise vom Kreißsaal
Der einzige Unterschied besteht darin
dass der Kühlraum im Keller
und der Kreißsaal im Parterre liegt
und dazwischen überall
diese weißen Wände
Überall ein nahtloser Übergang
Die Farbe weiß
macht einen krank
ALTE FRAU:
Sie werden mich vergessen haben
es wäre nicht das erste Mal
Am Empfang wird man noch freundlich begrüßt
Ein Herzlich Willkommen
kommt ihnen leicht über die Lippen
Wenn man aber erst eine Nummer hat
seine Wartenummer
ist man hoffnungslos verloren
Mir macht es ja nichts aus
Ich bin es gewohnt
vergessen zu werden
Ich bin eine unscheinbare Person
hat auch der Herr Professor gesagt
Ein netter Mensch
der Herr Professor
Meinem Mann
hat das Unscheinbare gefallen
Wir sind nie weggegangen
immer Zuhause geblieben
Zuhause
habe ich es uns schön gemacht
Uns fehlte es an nichts
ein Radio
der Fernseher
Ich war halt nicht darauf vorbereitet
als mein Mann starb
hat auch der Herr Professor gesagt
Aber wer ist schon auf den Tod vorbereitet?
Das bringen sie nie im Fernsehen
Was hätte ich schon anderes tun sollen?
Auf der anderen Seite geht eine Tür auf.
Der HAUSMEISTER und der ZIVILDIENSTLEISTENDE betreten den Flur.
Sie haben eine Werkzeugtasche und einen großen Holzkoffer dabei.
HAUSMEISTER:
Früher war alles aus Holz
Er fischt eine Flasche Bier aus dem Blaumann und nimmt einen großen Schluck.
Früher hießen ja auch alle Willi
Auf meinen Großbaustellen
hießen sie alle Willi
er lacht
Ja
in ganz Deutschland
war ich auf Montage
Karstadt in Köln
Kaufhof in München
habe ich alles mitgebaut
Und dann macht dieser dumme Wichser pleite
weil er den Hals nicht voll kriegen kann
Ja so geht das
Hast du die Maße?
ZDL:
Von der Decke ein Meter sechzig
in einem Abstand von zwei Metern
HAUSMEISTER:
Das ist mal wieder typisch
für die Herren Akademiker
überhaupt keinen Blick fürs Praktische
Anstatt sie uns die Maße von unten angeben
Jetzt muss ich wieder die Leiter holen
er nimmt einen Schluck
Holst du mal die Leiter aus dem Keller
Mürrisch verschwindet der ZDL. Der HAUSMEISTER leert die Bierflasche öffnet die Holzkiste und tauscht die Flasche gegen eine neue aus.
Er öffnet die Flasche mit dem Schraubenzieher.
Früher war alles aus Holz
Da hat man dreißig Jahre
seine Knochen hingehalten
Bei Wind und Wetter
geschuftet bis zum Umfallen
Und dann
macht die Firma pleite
Konkurs
und was bleibt übrig?
Kaputte Knochen
und eine goldene Uhr
zum Fünfundzwanzigsten
Scheiß Sozis
wären die damals
nicht an die Macht gekommen
würde ich heute
noch auf dem Bau arbeiten
Als die Wende kam
war ich schon zu lange draußen
Scheiß Sozis
Dann
hat mir das Arbeitsamt
diese Stelle vermittelt
und ich musste auch noch danke sagen
Das Leben ist hart
aber es lehrt ungemein
Na denn Prost
Er nimmt einen kräftigen Schluck. Dann holt er aus der Holzkiste mehrere Bilderrahmen heraus und legt sie den Flur entlang.
Dass ich mal
in der Klapsmühle lande
hätte ich im Traum
nicht gedacht
Da drüben
sitzen auch so zwei arme Schweine
dabei bringt die Behandlung
überhaupt nichts
Irgendwann
springen sie ja doch
vom Dach
oder laufen Amok
Und ich kann den Dreck
wieder wegmachen
Von wegen im Herbst
nur Laub kehren
schön wär's
Früher hatte man solchen
die Spritze gegeben
und alle hatten ihren Frieden
Schon gut
dass ich nicht
in die Geschlossene muss
da soll es ja drunter und drüber gehen
Nee nee
früher war alles aus Holz
Der ZDL kommt mit der Leiter zurück.
Mit dem Zollstock messen sie die Wand aus und zeichnen Punkte ein.
ALTE FRAU:
Junger Mann
so setzen Sie sich doch
Setzen Sie sich neben mich
Wir könnten uns unterhalten
JUNGER MANN:
Vielleicht sollte ich mir eine Zigarette anzünden
er setzt sich
Kennen Sie das Phänomen mit der Zigarette?
Passen Sie auf
Sie müssen sich vorstellen
Wir stehen an der Haltestelle
und warten auf den Bus
Eine Viertelstunde
Zwanzig Minuten
eine halbe Stunde
aber kein Bus weit und breit
obwohl er längst überfällig ist
Sie zünden sich eine Zigarette an
und prompt nach dem zweiten Zug
biegt der Bus um die Ecke
und sie müssen
die gerade angezündete Zigarette wegwerfen
Das gleiche gilt für das Telefon
Den ganzen Tag klingelt das Telefon nicht
draußen regnet es
und sie nehmen ein Schaumbad
Noch keine fünf Minuten in der Badewanne
schon klingelt das Telefon
ALTE FRAU:
Seit fünfzehn Jahren
haben wir Telefon
und nie hat es geläutet
obwohl ich jeden Freitag bade
Wer hätte uns auch schon anrufen sollen?
Der einzige der das Telefon benutzt hat
ist mein Mann gewesen
Jeden Morgen
hat er die Zeitansage angerufen
wegen der Uhr im Wohnzimmer
Die alte Pendeluhr ist immer nachgegangen
jetzt steht sie
Siebzehn Uhr fünfunddreißig
Die Todeszeit meines Mannes
Ich habe sie angehalten
genau wie in dem Film
mit dem bekannten Schauspieler
JUNGER MANN:
Als ich Ruth mit nach Hause genommen habe
ist das Telefon unaufhörlich gegangen
Ihre Eltern
müssen sie wissen
Ihre Eltern
sind von Anfang an
gegen unsere Verbindung gewesen
Ruth und ich
wir wollten heiraten
Ihre Eltern hielten uns für zu jung
und jetzt ist es zu spät
ALTE FRAU:
O.W.Fischer
Ja O.W.Fischer ist es gewesen
der in dem Film
die Uhr angehalten hat
Mein Mann
hat ihn nicht leiden können
den O.W.Fischer
der war ihm nicht geheuer
Er hat lieber Krimis geschaut
mein Mann
und diese Ratespiele
wo man ein Auto
oder eine Flugreise gewinnen kann
Ich habe damals die Uhr angehalten
und die Schlafzimmertür zugemacht
In der ersten Zeit ging es noch
Ich habe im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen
bis der Geruch immer stärker wurde
Sie öffnet die Handtasche und holt ein kleines Fläschchen heraus.
Wollen sie auch einen Schluck?
sie trinkt
Cola mit Jägermeister
Früher habe ich nur Cola getrunken
aber Cola ist nicht gut
für den Magen
haben sie im Fernsehen gesagt
Jägermeister
ist gut für den Magen
hat mein Mann immer getrunken
wegen der Magengeschwüre
Cola mit Jägermeister beruhigt
JUNGER MANN:
Ich muss einen klaren Kopf behalten
Das wichtigste hier ist ein klarer Kopf
sonst ist man hoffnungslos verloren
ALTE FRAU:
Mein Mann hat viel getrunken
aber geschlagen hat er mich nie
sie nimmt einen Schluck
Nein
geschlagen hat er mich nie
Er hat es auch nicht leicht gehabt
Mit 45 Jahren Invalide
Frührentner
Er hat dann angefangen
aus Streichhölzern
Häuser zu bauen
Ja geschickt war er schon
habe ich auch den Leuten vom Fernsehen gesagt
JUNGER MANN:
In Südfrankreich
hat man mich dann festgenommen
Eine Unachtsamkeit meinerseits
Das mit dem Doppelzimmer
ist ein großer Fehler
gewesen
Wenigstens
habe ich ihr Frankreich
zeigen können
wenigstens
etwas von der Welt
ALTE FRAU:
Ja
die Leute vom Fernsehen waren sehr nett
Sie haben mich zum Essen eingeladen
und mir den Friseur bezahlt
weil ich mir Butter ins Haar machen musste
Die Leute vom Fernsehen haben gesagt
dass man die Wirklichkeit
inszenieren muss
sonst glaubt sie einem niemand
Den ältesten Kittel
habe ich überziehen müssen
Am Anfang
habe ich mich ein wenig geniert
Lampenfieber
haben die Leute vom Fernsehen gesagt
Ich hatte Lampenfieber
wie ein richtiger Filmschauspieler
JUNGER MANN:
Der vom Gericht beauftragte Psychiater
meinte in seinem Gutachten
ich hätte Ruth nur mitgenommen
das Wort "geraubt"
hat er absichtlich ausgeklammert
weil man wohl
in meinem Fall
nicht von Diebstahl
sprechen kann
um aufzufallen
Verstehen Sie?
Um aufzufallen
Der Psychiater
der gerichtsmedizinische Gutachter
glaubte allen Ernstes
ich hätte Ruth mitgenommen
um aufzufallen
Ein vollkommener Blödsinn
Deswegen bin ich hier
und muss warten
würde ich jetzt beispielsweise
einfach durch die Tür III eintreten
ohne anzuklopfen
würden sie mir glatt
eine Megalomanie unterstellen
Megalomanie ist der Größenwahn
müssen sie wissen
Nein nein
ich muss dieses sinnlose Warten ertragen
Es ist wahrscheinlich
nur eine Prüfung
Es tut mir leid für Sie
dass Sie mit darunter zu leiden haben
Sie wollen sehen
wie weit man gehen kann
Sie glauben
durch ein Nichtbeachten
meiner Person würde ich erneut auffällig
Auffällig
er wird lauter bis er schreit
AUFFÄLLIG
AUFFÄLLIG
AUFFÄLLIG
ALTE FRAU (unterbricht):
Seien Sie doch ruhig
sonst müssen wir wiederkommen
Für mich bedeutet es die Hölle
wenn ich wiederkommen muss
Allein die vielen Menschen
auf der Straße
und im Bus
wie sie mich anstarren
wie sie andauernd auf mich zukommen
Nehmen sie Rücksicht auf mich
bitte
er setzt sich wieder
JUNGER MANN:
Es hat sowieso keinen Sinn
Wenn die wollen
dass wir warten
warten wir
Herbstbesuche
Das Stück spielt in Paris in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
PERSONEN:
MADAME eine achtzigjährige ehemalige deutsche
Schauspielerin
JOSEPHINE ihr Hausmädchen
ALFONS ein Briefträger
ZWEI MÄNNER
Ähnlichkeit mit verstorbenen oder lebenden Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.
I. TEIL
1.
In einer großen Wohnung in Paris.
Ein Fenster und die Tür zu einem Nebenzimmer sind geöffnet. Aus dem Nebenzimmer hört man Geschirrklappern. Am Fenster sitzt in einem Rollstuhl MADAME.
MADAME:
Die schönsten Tage in Paris sind die Herbsttage
wenn die letzten warmen Sonnenstrahlen
sich auf die Blätter der Kastanien legen
Die Leute reden immer vom Frühling
Vom Frühling in Paris
Alles Quatsch
Der Herbst ist die schönste Jahreszeit
nicht der Frühling
sie wendet sich zur Tür
Nicht wahr Josephine?
Aus dem Nebenzimmer
JOSEPHINE:
Ja Madame
MADAME(äfft sie nach):
Ja Madame
Dabei hört sie gar nicht zu
hat noch nie zugehört
Ja Madame
ist das einzige was sie sagen kann
Ja Madame
Manchmal aber auch ganz praktisch
dass sie nie zuhört
sie rollt zur Tür
JUJUJUJUJUJUJU
Haben Sie alles abgedeckt?
Sie hebt den Arm und dirigiert die Antwort mit
beide zusammen:
Ja Madame
JOSEPHINE:
Ja Madame
Ich verstehe es nur nicht
wo Sie doch Besuch bekommen
MADAME:
Der Besuch kann mir den Buckel runterrutschen
Josephine denken Sie nicht so viel
das schadet Ihrem Teint
Und tun Sie mir bitte einen Gefallen
Sagen Sie nicht andauernd
ja Madame
ich kann es nicht mehr hören
JOSEPHINE:
Ja Madame
aber was soll ich sonst sagen?
MADAME:
Wie wäre es mit Gnädiger Frau
oder
ehrwürdige Herrschaft
JOSEPHINE:
Aber Madame
Hier in Paris sagen die Dienstmädchen
Madame
so habe ich es gelernt
so ist es üblich
MADAME:
Josephine?
Wie lange waren Sie bei den Herrschaften
vor mir in Stellung?
JOSEPHINE:
Zwei Jahre Madame
Wieso fragen Sie?
Ist etwas nicht in Ordnung?
MADAME(zu sich selbst):
Ich muss mir gelegentlich die Telefonnummer
von den Herrschaften geben lassen
Möchte zu gerne wissen
wie die das ausgehalten haben?
Den ganzen Tag nur
Ja Madame
MADAME rollt hinüber zu einer großen Kiste, die mitten im Raum steht.
MADAME:
Josephine?
Hatte ich Ihnen nicht gesagt
Sie mögen den Projektor in den Keller bringen?
Wieso steht er immer noch da?
JOSEPHINE kommt herein
JOSEPHINE:
Aber Madame
Die Kiste ist zu schwer für mich
Allein
die ganzen vielen Filmrollen in den Keller zu bringen
war schon eine Qual
MADAME:
Dann fragen Sie einen Ihrer nächtlichen Besuche
mit denen Sie Ihr Bett
und meinen Kühlschrank teilen
JOSEPHINE:
Aber Madame
MADAME:
Rufen Sie sie an
Hopp hopp hopp
Es wird doch wohl einer darunter sein
der kein Schlappschwanz ist
so wie der junge Deutsche
der mich unbedingt besuchen will
Sie lacht
JOSEPHINE:
So dürfen Sie nicht reden
Jede Woche hat er Ihnen geschrieben
und das zwei Jahre lang
sie beginnt zu schwärmen
Es waren immer solche lieben Briefe
So warme Worte
voller Würde und Hochachtung
Ihnen gegenüber
MADAME:
Alles Quatsch
Ich habe in dem Alter
besseres zu tun gehabt
als Briefe zu schreiben
Übrigens
woher kennen Sie denn meine Briefe?
Seit wann können Sie Deutsch?
JOSEPHINE:
Aber Madame
Sie haben sie mir vorgelesen
unzählige Male
So wunderschön hat es geklungen
wenn Sie sie vorgelesen haben
Ihre Stimme war so schön
wie in Ihren alten Filmen
MADAME:
Die Betonung lag wohl gerade auf alt
wie?
Genug geschwätzt
Decken Sie weiter alles ab
und rufen Sie einen Ihrer Hengste an
einen Ihrer Deckhengste
Sie lacht und haut JOSEPHINE auf den Hintern.
Missmutig verlässt JOSEPHINE den Raum.
zu sich selbst
Kann mich gar nicht daran erinnern
ihr die Briefe vorgelesen zu haben
Sie bestiehlt mich zwar
aber gelogen hat sie noch nie
sie rollt durch den Raum
JUJUJUJUJUJU
Ich werde alt
Auch fühlt sich mein Hintern
nicht mehr so kräftig an
wie der ihre
Obwohl ich glaube
dass ihrer häufiger betatscht wurde
als der meinige
Den triebhaften Hang
der Männer zum Dienstpersonal
werde ich wohl nie begreifen
sie dreht lautstark ein paar Runden durch den Raum.
Plötzlich hält sie inne.
Die Briefe!
Mein Gott!
wo sind die Briefe?
Verlegt werde ich sie haben
Irgendwo da
unter dem weißen Stoff
Josephine?
Josephine!
sie rollt zur Tür
Josephine?
Jetzt treibt sie es schon
am helllichten Tage
dabei ist sie noch nicht einmal eine Schönheit
Die französischen Männer
sie haben keinen Geschmack
Aber wenn ich da an mein Berlin denke
werde ich heute noch rot
Um diese Uhrzeit
sind wir erst nach Hause gekommen
MADAME(nachdenklich):
Aber das Berlin
mein Berlin
gibt es ja nicht mehr
Es ist vor mir gestorben
wie vieles andere auch
Manchmal frage ich mich
was schlimmer ist
zu sterben oder übrig zu bleiben
Alles stirbt weg
Am Anfang schmerzt er
der Verlust der Freunde
Aber wenn dann keiner mehr da ist
bei dem man klagen oder trösten kann
was hat es dann noch für einen Sinn
Alles Quatsch
das mit der Trauer
Alles Quatsch und verlogen
Die Briefe mit Tinte geschrieben
auf hellblauem Papier
in länglichen Umschlägen
genügend frankiert
und per Eilboten
Der Jugend kann es nicht schnell genug gehen
Ich habe nie auf diese Briefe geantwortet
bis auf dieses eine verflixte Mal
und jetzt kommt er
auf Grund einer Höflichkeitsfloskel
Jeder normale Mensch
würde höflich mit Nein danke antworten
Er aber schreibt Ich komme
Er liebt Hölderlin
genauso wie ich
Damit hat er mich gekriegt
Meinen Hölderlin
hat er dazu benutzt
um in meine Wohnung zu kommen
Die Briefe
jetzt weiß ich wieder wo sie sind
Sie stützt sich auf dem Rollstuhl ab und holt unter ihrem Sitzkissen die Briefe zum Vorschein.
Sie betrachtet sie für einen Moment, dann legt sie den Stapel wieder zurück.
Da liegen sie gut
Da wird sie niemand vermuten
selbst Josephine wird sie nicht finden
Sie rollt zum Fenster, daneben steht ein Tisch, der mit weißem Leinen abgedeckt ist. Sie zieht das Tuch herunter, ein Grammophon kommt zum Vorschein. Sie macht es, an Enrico Caruso ist zu hören
Schallplattenapparat
Die Deutschen können sich einfach
keine schönen Namen
für schöne Dinge einfallen lassen
Sie haben einfach keinen Sinn
für das Schöne
Grammophon klingt da
schon ganz anders
und in Verbindung mit der unsterblichen Stimme von Enrico Caruso
ist es gar eine Wohltat
Sie rollt zum Fenster
Sie schaut hinaus
Meine Kastanien
sie hören gerne Musik
Enrico Caruso ist eine Abwechslung
zum ewigen gleich bleibenden Straßenlärm
Es soll jetzt sogar schon Musikapparate geben
die den Straßenlärm übertönen können
Die Anschaffung
eines neuen modernen Grammophons
wäre eine Überlegung wert
Da würden sie staunen
meine Bäumchen
wenn plötzlich
Enrico lauter wäre als der Straßenlärm
Vielleicht würden dann auch
endlich die Kinder aufhören
mit Stöcken auf die Kastanien zu werfen
Die unerträgliche Ungeduld der Jugend
Sie können es nicht abwarten
dass die Früchte von selber hinunterfallen
Meine armen Kastanien
ich kann mit euch mitfühlen
Ob ich früher auch einmal so war?
Jetzt bin ich alt
und es ist egal
Sie rollt zur Tür hinaus
JUJUJUJUJUJU
Ich bin alt
2.
Das Zimmer wie vorher. Zwei Männer heben mit Mühe die Kiste an, die in der Mitte des Raumes steht.
1.MANN:
Verdammt schwer die Kiste
Ich war einmal Leichenbestatter
im 7. Arrondissement aber so etwas
2.MANN:
Schwerer als ein Klavier
Vielleicht die Überreste ihrer Liebhaber
Beide lachen und müssen die Kiste wieder absetzen.
2.MANN:
Wenn Madame nicht im Rollstuhl
sitzen würde
ich wäre nicht gekommen
1.MANN (schwärmerisch):
Ja Madame
Alle Filme von ihr habe ich gesehen
Ein Weltstar
verstehst du?
Die sieht unsereins sonst nur im Kino
Vierzig Jahre Weltstar
2.MANN:
Und dann so eine Wohnung
in so einem Bezirk
1.MANN:
Das ist schon in Ordnung
Viele berühmte Leute haben hier gewohnt
sicher
die meisten sind weggezogen oder verstorben
Sie will sicherlich nur ihre Ruhe haben
das kann ich verstehen
Und die Wohnung?
So schlecht ist sie auch wieder nicht
Ich finde die Wohnung passt zu ihr
Schade nur
dass sie im vierten Stock liegt
So kommt sie viel zu selten an die frische Luft
MADAME kommt hereingerollt
MADAME:
JUJUJUJUJUJU
Genug gequatscht
An die Arbeit meine Herren
Vom Quatschen bekommt man keine Kinder
und von mir noch nicht einmal ein Bier
Sie haut einem der beiden Männer auf den Hintern.
Beide schauen verblüfft.
Schöne pralle Hinterteile
da steckt Energie drin
Also los jetzt!
Eine Kleinigkeit
die Kiste für so starke Männer
Und wenn ihr brav seid
dürft ihr meine Beine sehen
Deshalb seid ihr doch nur gekommen
Meine Beine
die wolltet ihr sehen
Sie lacht.
JOSEPHINE erscheint in der Tür.
Die beiden Männer nehmen die Kiste und tragen sie hinaus.
JOSEPHINE:
Die schönsten Männer von Paris
nicht wahr Madame?
Solche Männer
haben Sie mir nicht zugetraut
MADAME:
Quatsch
Alles Quatsch
Neugierig waren sie
wie all die anderen auch
das ist alles
Sie wollten nur einmal sehen
wie so ein Weltstar lebt
wo er wohnt
so ein ehemaliger Weltstar
wie weit er schon heruntergekommen ist
Ohne Schminke
ohne Kostüm
und ohne Licht
Nur mal sehen
wie so eine von nahem aussieht
So genug geredet
schieben Sie mich ins Badezimmer
Es ist an der Zeit
dass ich mein Bad nehme
JOSEPHINE rollt MADAME hinaus.
Nach einer Weile kommen die beiden Männer wieder
1.MANN:
Gut, dass es nur eine Kiste gewesen ist
Eine zweite wäre über meine Kräfte gegangen
2.MANN:
Hast du es gesehen
Ein ganzes Museum hat sie da im Keller
Das muss ein Vermögen wert sein
Ich muss Josephine gleich einmal fragen
ob Madame noch Verwandte hat
mit denen sollten wir uns in Verbindung setzen
Wenn die Alte einmal abkratzt
und so lange kann das ja nicht mehr dauern
sollten wir uns um die Entrümpelung kümmern
das kann uns ein Vermögen einbringen
1.MANN:
Das wirst du gefälligst bleiben lassen
versündige dich nicht
Wie kannst du so über Madame reden
2.MANN:
Du mit deinem Anstand
mit deiner Moral
Wie weit hat dich das gebracht
mein Freund?
Du bist arbeitslos
1.MANN:
Und du
deine skrupellose Habgier
hat dich nicht viel weiter gebracht
2.MANN:
Ich habe Pech gehabt
das ist alles
JOSEPHINE kommt mit ein paar Flaschen Bier herein.
1.MANN:
Josephine
Du bist ein Engel
Sie gibt beiden eine Flasche Bier. Der 2.MANN nimmt sie in seinen Arm.
2.MANN:
Na
willst du nicht mal heute Abend
auf ein Gläschen bei mir vorbeikommen?
Wir hätten bestimmt viel Spaß miteinander
JOSEPHINE:
Den Spaß kann ich mir schon vorstellen
aber ich bin mit Alfons verabredet
Madame wollte es so
2.MANN:
Madame Madame
Jetzt bestimmt die Alte auch schon dein Privatleben
Es ist kaum zu glauben
1.MANN:
Sei still
du bist ja nur eifersüchtig
2.MANN:
Eifersüchtig?
Auf Alfons? Auf Alfons den Briefträger?
Dass ich nicht lache
1.MANN:
Josephine
Hör nicht auf sein Geschwätz
Seitdem auch er arbeitslos ist
ist er nicht mehr zu ertragen
Alfons ist ein netter Kerl
vielleicht ein wenig sonderbar
aber wer ist das nicht?
Er berührt eines der weißen Laken
Wenn Ihr noch einen Anstreicher braucht
Ich habe Zeit
Ich mache das wirklich gerne
JOSEPHINE(lacht):
Aber nein
Hier wird nicht tapeziert
Das ist nur
weil Madame Besuch bekommt
1.MANN:
Besuch?
JOSEPHINE:
Ja
Jemand aus Deutschland
1.MANN:
Und wieso deckt sie alles ab?
2.MANN:
weil sie krank ist
Verstehst du?
Plemm Plemm
JOSEPHINE:
Madame hat sicherlich ihre Gründe dafür
2.MANN:
Gründe Gründe
Die Frau ist nicht normal
Den Bäumen spielt sie Musik vor
und ihre Möbel deckt sie mit Tüchern ab
Das ist doch nicht normal
Vielleicht sollte man sie in ein Heim geben
Auf jeden Fall sollten wir die Verwandten benachrichtigen
Wenn Josephine mir die Adresse gibt
schreibe ich gern ein paar Zeilen
1.MANN:
Die Zeilen kann ich mir vorstellen
Komm jetzt
Wir müssen bei Madame Ossard noch den Garten machen
Er nimmt ihn am Arm
zu JOSEPHINE
Danke für das Bier
Und bestell Madame
einen schönen Gruß von uns
Bis bald
Beide verlassen das Zimmer Der 2.MANN taucht noch einmal kurz im Türrahmen auf
(grinsend)
Und du hast heute Abend wirklich keine Zeit?
JOSEPHINE(böse):
Nein
Calvados
Das kleinere Übel
ist immer das des anderen.
Die Welt nennt es Neutralität.
Und das ist das größere Übel.
PERSONEN:
HÖHERE INSTANZ
MADAME OSSARD
JUNGER ARBEITER
ALTER ARBEITER
JUNGE FRAU
JUNGER MANN
ARZT deutscher Offizier
ANNA seine Frau
KARL
RUSSE
TILLY
ALFONS der Briefträger
ZWEI MÄNNER
ALTER FRANZOSE
FLÜCHTLINGSFAMILIE
Prolog I
BEI EINER HÖHEREN INSTANZ
HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF):
Sie haben Menschen das Leben gerettet
beispielsweise Juden
Deutschen
Franzosen ?
MADAME OSSARD:
Entschuldigen Sie bitte
dass ich unterbreche
aber so stimmt das nicht
Ich möchte nur wissen
woher Sie Ihre Informationen beziehen
Sicher haben Juden
Deutsche bei mir gewohnt
auch Araber
sogar Russen
Aber
dass ich Menschen
das Leben gerettet haben soll
daran kann ich mich
beim besten Willen nicht erinnern
Sie überlegt.
Warten Sie
Warten Sie
Ich glaube
da war doch was
Ich erinnere mich wieder
Sie lächelt.
Es war kurz nach der Befreiung von Paris
Man feierte auf den Straßen
Es muss so gegen zehn Uhr abends gewesen sein
Da kam ein junger amerikanischer Soldat zu mir
Ein Neger
Volltrunken
Ein schöner junger muskulöser Neger
mit einem schönen braunen Hintern
Einen Knabenhintern
so wie ich ihn liebe
Sie verstehen was ich meine?
Nun
er hatte nur einen Schönheitsfehler
Eine Kugel
steckte in diesem Prachtexemplar von Hinterteil
Er hatte sich mit ein paar Zuhältern gestritten
wegen einem Mädchen
Das waren noch Zeiten
Ich habe sie ihm rausgeholt
aus diesem hübschen Hintern
Bezahlt hat er in Naturalien
Wenn Sie verstehen
was ich meine
nach einer Weile
Sind Sie noch da?
Aus dem OFF: HÖHERE INSTANZ räuspert sich.
HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF):
Wieder zum Thema
Sie behaupten also
keine Juden
sowie Franzosen der Resistance
bei sich aufgenommen zu haben?
MADAME OSSARD:
Das habe ich nicht gesagt
Was glauben Sie
wer alles bei mir gewohnt hat?
Einmal sogar Chinesen
Bei Madame Ossard
haben sie alle einmal gewohnt
Hauptsache die Francs stimmen
Verzeihung
stimmten
Aber
das kann mir jetzt auch egal sein
allem Anschein nach
brauche ich hier kein Geld
Oder?
Aber
um auf Ihre Frage zurückzukommen
Deutsche
Juden
Franzosen
haben bei mir gewohnt
Bei Juden habe ich mir immer
einen Vorschuss geben lassen
Das war handelsüblich
Das wird Ihnen jeder im Viertel bestätigen
HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF):
Madame Ossard
MADAME OSSARD:
Ja?
HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF):
Sie haben also beispielsweise Juden
vor den Deutschen Besatzern versteckt?
MADAME OSSARD:
Das können Sie mir nicht anlasten
Versteckt habe ich niemanden
Aber Ausweise habe ich auch nie verlangt
Sie wissen ja
wie das ist
Da möchte Mann mal gerne
aber die Ehefrau darf davon nichts wissen
Sie verstehen?
Eine Stunde später
ist das Zimmer wieder leer
HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF):
Es geht hier nicht um verstehen
Es geht um Tatsachen
Haben Sie nun während des Krieges oder davor
Emigranten Unterschlupf gewährt?
Ja?
Oder nein?
MADAME OSSARD:
Sie tun ja gerade so
als ob ich einer kriminellen Vereinigung angehört hätte
Aber
wenn Sie so fragen
erinnere ich mich wieder
Im Jahre dreiunddreißig
nach der Wahl Hitlers zum Kanzler haben viele Deutsche
bei mir gewohnt
Ob Juden darunter waren
kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen
Mit den wenigsten hatte ich Kontakt
Sie verstehen
was ich meine?
Die Deutschen
sind mir in guter Erinnerung geblieben
Wissen Sie
Deutsche haben es schwer
Deutsche sind Kopfmenschen
Wenn sie etwas nicht verstehen
oder nicht erreichen können
verzweifeln sie
brechen zusammen
wissen nicht mehr weiter
Sie schreiben einen Abschiedsbrief
und hinterlassen blutige Bettwäsche
Und wer hatte damals den Ärger?
Ich
Die Polizei musste kommen
Protokolle wurden aufgenommen
Zimmernachbarn verhört
Und ich konnte das Zimmer
für mindestens einen Tag nicht vermieten
Es ist gar nicht so einfach
ein Hotel zu führen
besonders als Frau
Das können Sie mir glauben
Es gab Zeiten
HÖHERE INSTANZ (unterbricht aus dem OFF):
Madame Ossard
Ich bitte Sie!
Sie sind hier
weil Sie Menschen das Leben gerettet haben
Verstehen Sie das?
MADAME OSSARD:
Leben
Ein Wort
das hierher nicht passt
Leben
Gelebt habe ich
Mein Hotel auch
Überleben musste ich
kämpfen
immer und immer wieder
Was mag bloß aus meinem Hotel werden
wo ich doch jetzt hier bin
und Sie mir Fragen stellen
die ich nicht verstehe?
Meine Zimmer
Wenn die nur reden könnten
Meine Zimmer
die müssten Sie befragen
Prolog II
VON DER LEBENDIGKEIT TOTER GEGENSTÄNDE
Heute.
Das Hotelzimmer ist spärlich eingerichtet (Stahlbett, Waschschüssel mit Ständer, Tisch und ein Stuhl). Es hat eine Tür und zwei Fenster, in das eine blinkt eine rote Neonreklame mit der Aufschrift „Cabaret“ hinein. Ein ALTER und ein JUNGER ARBEITER betreten das Zimmer, sie haben Bretter und Werkzeug dabei.
JUNGER ARBEITER:
Meine Frau hat uns Baguettes gemacht
dazu dein Rotwein
Er schnalzt mit der Zunge.
Wir werden es uns schon gemütlich machen
Der Chef wird das Haus bestimmt nicht betreten
der ist ja nicht lebensmüde
Na ja
man kann sich in diesen Zeiten
die Arbeit nicht aussuchen
Erzähl mir was über sie
ALTER ARBEITER:
Wen meinst du?
JUNGER ARBEITER:
Wen wohl
Du hast sie doch gekannt
die komische Alte
ALTER ARBEITER:
Du meinst Madame Ossard?
Und ob ich die gekannt habe
Als kleiner Junge habe ich schon für sie gearbeitet
Mein erstes Geld habe ich bei ihr verdient
Morgens brachte ich Baguettes und Zeitungen
Mittags musste ich die schmutzige Wäsche
in die Putzerei bringen
Und abends habe ich den Gästen
die Stadt gezeigt
Du verstehst
was ich meine
Das war übrigens ihr Lieblingssatz
Du verstehst
was ich meine
Madame Ossard war ein feiner Kerl
eine Persönlichkeit
da kannst du alle im Viertel fragen
Bei ihr habe ich einiges gelernt
Sie war meine erste Frau
verführt hat sie mich
im Mangelzimmer
Auf jeden Fall hatte sie Charakter
Und jetzt nagle ich ihr die Fenster zu
Ihr Jungen habt keine Ahnung
Alles müsst ihr abreißen
um dann eure hässlichen Kästen hinzusetzen
Wenn ich da nur an die Markthallen denke
tut es mir in der Seele weh
Und dieses Hotel?
Nächste Woche wird es abgerissen
Die Eisenkugel donnert drei viermal gegen das alte Gemäuer und Schluss ist
Schutt bleibt übrig
wird in die Vorstadt gefahren.
Vorbei ist es mit Madame Ossards schönem Hotel
Und dir soll ich etwas erzählen?
Der JUNGE ARBEITER beginnt mit Brettern ein Fenster zu verriegeln.
JUNGER ARBEITER:
Ist ja schon gut
Hilf mir mal lieber
Hoffentlich halten die Bretter
Die Rahmen hier sind total morsch
Er holt ein Brett und bleibt vor dem Waschständer stehen.
Renovieren hätte sie sollen
Ohne Dusche und WC
läuft doch heutzutage gar nichts mehr
Da sind ja sogar noch Blutflecken dran
Wie unhygienisch
Ich kann nicht verstehen
wie man so ein Hotel herunterkommen lassen kann
Der ALTE ARBEITER bringt ihm Hammer und Nägel.
ALTER ARBEITER:
Halt' den Mund
Bringen wir es lieber hinter uns
Es ist und bleibt dennoch eine Schande
Aber davon verstehst du nichts
Wenn diese Wände erzählen könnten
Ach
da würdest du ganz anders reden
Er entfernt sich wie in Trance von ihm.
Wenn sie nur erzählen könnten
was sie gesehen haben
Der JUNGE ARBEITER schaut ihm verdutzt nach.
Plötzlich verschwinden die Wände. Fenster- und Türrahmen bleiben. Der Raum wird nur durch Einrichtungsgegenstände begrenzt.
Der ALTE ARBEITER hat seinen Kittel ausgezogen.
Aus dem OFF: Musik von Astor Piazzolla: CONCERTO PARA QUINTETO).
DAS LIED VOM BANKROTTEUR UND SEINEM MÄDCHEN
ALTER ARBEITER (singt):
Die Straßen staubig
Kinder spielen mit ihren Hunden
Frauen stehen stolz an Häuserwänden
Männer stehen an den Theken
trinken Bier und Calvados
Mädchen
lachen laut
Und ein Wind
geht durch die Straßen
pfeift um jede Häuserwand
Warten
hattest du früher nie gekannt
Warten
Früher
war sie schön die Kleine
lächelte wie eine Sonne
nahm Männer mit nach Haus
wenn sie liebte
vom Himmel schallte es Applaus
Ja die Kleine
ihr Herz groß
wie ein Ozean
liebte jeden
und jeden Mann
Jetzt sitzt sie da am Küchentisch
wartet auf ihn
den Bankrotteur der großen Welt
Aber er
hatte nur versprochen
und nichts gehalten
Alt ist die Kleine
Vom Warten
sind die Ellenbogen rau
Früher
blieb er
ein oder zwei Nächte nur weg
Dann kam er eines Tages
brachte Fleisch und Blumen
manchmal sogar ein Halstuch aus Seide
Sie hatte nur gelächelt
ihm ein Bad gemacht
und den Rücken massiert
dem Bankrotteur
Er träumte von der großen Welt
sie liebte ihre kleine Welt
Dennoch war es ihr Mann
Es gab Abende
an denen sie sehr stolz auf ihn war
Jetzt sind ihre Augen trübe
und ihr Mund schmeckt nach Tabak
Warten
Der Aschenbecher beweist es
Auf den Straßen ist es staubig
und die Kinder spielen längst nicht mehr
Die Männer stehen an der Theke
trinken Calvados und Bier
Draußen stehen die Frauen
und sie lächeln stolz
Auch die Kleine ist darunter
und sie wartet
wartet
wartet
Die Musik verklingt.
ALTER ARBEITER:
So hat sie damals angefangen
als er nicht mehr kam
Zehn Jahre
ist sie bei jedem Wetter auf der Straße gestanden
hat ihr Geld verdient
ehrlich
und nie zu viel genommen
bis sie es sich hat leisten können
das kleine Hotel
Es ist schon seltsam
Das kleine Hotel
ist soviel älter
als Madame
aber man bringt es nur mit ihr in Verbindung
so als ob es eine Zeit
vor Madame
nie gegeben hätte
Der Besitzer vor ihr
ist niemandem im Viertel
in Erinnerung geblieben
Passte wohl auch nicht in diese Gegend
zu diesen Menschen
in diese Zeit
Die Zeit war nicht immer schön
aber irgendwie hat sie es immer geschafft
ihr kleines Hotel zu halten
Vielen Menschen war es eine Zuflucht Heimstätte
Anlaufpunkt
Briefadresse
Liebesnest
1. Szene
VOM SCHWEISSGERUCH DER BETTMATRATZEN
Sommer 1935.
In dem Hotelzimmer.
Die JUNGE FRAU und der JUNGE MANN liegen im Bett. Ihre Gesichter und Haare sind naß von Schweiß; sie haben sich gerade geliebt. Der JUNGE MANN schüttet Calvados in zwei große Gläser.
Die JUNGE FRAU zündet zwei Zigaretten an.
JUNGER MANN:
Für Cognac hat es leider nicht mehr gereicht
JUNGE FRAU:
Aber
das macht doch nichts
Hier
Sie reicht ihm die Zigarette. Er gibt ihr ein Glas.
JUNGER MANN:
Danke
Und dir macht das wirklich nichts aus
Ich meine hier
Dieses kleine Hotel
Aber momentan kann
Sie küsst ihn.
JUNGE FRAU:
Willst du nicht mir mir anstoßen?
Beide stoßen miteinander an.
Dann dreht er sich zur Seite und nimmt einen großen Schluck.
JUNGER MANN:
Es ist eine Schande
dass wir nach Paris fahren müssen
um uns zu lieben
Und dann in so einem Loch
Hast du gesehen
wie uns die Wirtin angeschaut hat?
Die hat sofort gemerkt
das wir nicht verheiratet sind
Sie küsst ihn auf den Hals.
JUNGE FRAU (lächelnd):
Du hast wohl vergessen
wo wir sind
Paris
Stadt der Liebe
Stadt der Illusion
Hier ist es egal
ob wir verheiratet sind oder nicht
Hier zählt das
was ist
was man tut
Also komm
Sie dreht ihn zu sich hin.
Denk nicht soviel nach
Hm
Tu mir den Gefallen
nicht jetzt
JUNGER MANN:
Wenn das so einfach wäre
Ich kann doch die Tatsachen
nicht einfach ignorieren
Und eine Tatsache zum Beispiel ist
dass dein Vater
uns verbietet
zu heiraten
und wir uns in schmierigen Pensionen
treffen müssen
Vielleicht sollte dein Herr Vater
eine Anzeige in die Zeitung setzen
Herr Professor Goldmann gibt bekannt
dass seine Tochter nur für Akademiker zu haben ist
Anfragen bitte unter dem Chiffre
JUNGE FRAU:
Du weißt ganz genau
dass dies nicht der Grund ist
Er hat viel mehr Sorge um dich
sieht die Schwierigkeiten einer Mischehe
Ihm wäre es sogar am liebsten
ich würde in Paris bleiben
Sie zieht sich etwas über und steht auf.
Vorgestern
haben sie unseren Wagen konfisziert
mitsamt dem Fahrer
Die Bankkonten sind gesperrt
Papa meint
dass sei erst der Anfang
Die Kollegen schneiden ihn auch schon
Seit gestern
geht er nicht mehr in die Universität
Die Demütigung
will er sich ersparen
Ich kann ihn gut verstehen
JUNGER MANN:
Unsinn
alles Unsinn
Dir und deinem Vater
wird überhaupt nichts passieren
Das Deutsche Volk braucht deinen Vater
Er ist Wissenschaftler
in der ganzen Welt anerkannt
JUNGE FRAU:
Nur nicht in Deutschland
JUNGER MANN:
Ich gebe ja zu
dass mit dem Wagen
und den Bankkonten ist nicht richtig
Aber wir sind erst am Anfang
da muss man kollektiv handeln
um schnell Veränderungen herbeizuschaffen
Du wirst sehen
nichts wird so heiß gegessen
wie es gekocht wird
JUNGE FRAU:
Du mit deinen Sprichwörtern
Vater hat ganz recht mit seinen Bemerkungen
Er richtet sich auf.
JUNGER MANN (zynisch):
Zu welchen Bemerkungen
lässt sich dein Herr Vater denn hinreißen?
Sie lächelt ein wenig.
Hm
Sag schon
Sie geht auf das Bett zu.
Nun
er sagt
für dich wird sich schon etwas finden
und wenn du nur auf das Oktoberfest gehst
und dein Gehirn ausstellen lässt
Hier ist zu sehen
das kleinste Stückchen Verstand
von ganz München
Aber
arisch
Er schmeißt ihr ein Kissen an den Kopf.
Sie lässt sich auf das Bett fallen. Beide müssen lachen.
Mata Hari - eine Nacht - ein Leben
Für M.B.
PERSONEN:
MATA HARI Tänzerin vermeintliche Spionin
CONFERENCIER
DEUTSCHER
FRANZOSE
OFFIZIER die vier männlichen Personen können von Mata Hari oder einem weiteren Schauspieler dargestellt werden.
FLÜSTERNDE STIMME aus dem OFF
NONNENCHOR aus dem OFF
Prolog
Dunkelheit
Aus dem OFF: Leise Choralmusik und das Tapsen von Ratten
Der Mond wirft sein Licht durch ein Gefängnisfenster. Schatten der Fensterstangen liegen auf einer Wand.
Auf dem Boden ein großer rechteckiger Kasten und ein runder Klumpen, in den langsam Bewegung kommt.
MATA HARI:
Was für eine Kälte
In diesem feuchten Loch
Da können die Mauern
noch so dick sein
MATA HARI dreht die Flamme einer Gaslampe höhe, stellt sie auf einen großen Überseekoffer und reibt sich die Hände gegen die Kälte.
Sie kniet in einem Militärmantel auf dem Boden und lauscht der Choralmusik
Ein Gefängnis
das von Nonnen bewacht wird
Was für Zeiten!
Aus dem Off: Die Choralmusik verstummt. Glocken läuten.
MATA HARI:
Shit
Merde
Scheiße
Kein gottverdammtes Gebet
fällt mir ein
Sie beginnt zu singen. Mata Hari singt ein altes holländisches Kinderlied
MATA HARI:
Wenn Gott
ein Holländer ist
lässt er bestimmt mit sich handeln
Ein Kinderlied
ihm zu Ehren
das müsste ihm doch gefallen
In Leeuwarden
gab es soviel zu entdecken
Ein eigenes Universum
Als Kind wollte ich nicht weg
Mama
habe ich gesagt
wir bleiben für immer zusammen
Opa hat draußen
auf der Bank gesessen
ohne Zähne
eine Pfeife geraucht
Vater war Hutmacher und hat an der Börse spekuliert
Auf Java soll er gewesen sein
hat mir kleine Elfenbeinfiguren mitgebracht
und mich
Auge des Tages genannt
Was so viel wie Sonne bedeutet
Meine Sonne
hat er immer zu mir gesagt
Meine Mutter
hatte javanische Wurzeln
Auge des Tages
Mata Hari
Sie steht auf und starrt in unendliche Ferne.
Mata Hari summt ein französisches Lied
BÜHNE DUNKEL
1. Szene
Dunkelheit
Aus dem OFF: Meeresrauschen
Der Mond, der sich über das Schattenkreuz an der Wand gelegt hat, leuchtet blass gelb.
Der Raum, eine Gefängniszelle, ist karg eingerichtet und kennt keine Farben außer grau.
Eine Pritsche, ein Tisch, ein Schemel, ein Krug mit Wasser, ein Eimer für die Notdurft und ein großer Überseekoffer mit Aufklebern aus aller Welt.
Im Hintergrund hängen Laken an der Leine.
Auf dem Tisch liegt ein Stapel graues Papier und graue Stifte.
MATA HARI kniet immer noch im grauen Militärmantel auf dem Boden und hält sich die Augen zu.
Sie atmet tief ein.
Auf den Laken erscheint ein Meer in Bewegung.
MATA HARI:
Seeluft
Salzig
wie man sie nur aus Holland kennt
Wir hatten immer Strandkörbe
Blau weiß gestrichen
mit roten Sitzen
dafür hat Papa gesorgt
Wahrscheinlich
werden sie immer noch da stehen
mit Schildern
auf denen RESERVIERT steht
Kleine weiße Schirme
haben wir gegen die Sonne gehalten
und sie in unseren Händen gedreht
bis alles geglitzert hat
als läge Goldstaub
in der Luft
MATA HARI steht auf, nimmt die Hände von den Augen und greift mit in die Manteltaschen. Mit vollen Händen verstreut sie Sand, der im Licht golden schimmert.
Sie stülpt die Innentaschen aus und klopft die letzten Sandkörner ab.
MATA HARI dreht sich dabei gegen dem Uhrzeiger im Kreis und verteilt den Sand spiralförmig um sich herum. Sie dreht sich immer schneller, bis sie auf dem Boden zur Ruhe kommt.
Aus dem Sand formt sie eine Burg.
MATA HARI:
Unbeschwerte Kindheit
Sommerduft
eingepackt in ein leuchtendes Blau
mit goldenem Strand
Weiße Schaumkronen
auf dem Wasser
und eine warme Luft
die einen zärtlich gestreichelt hat
Wenn man in einer Muschel
das Meeresrauschen einfangen kann
dann kann man auch
das Unbeschwertsein einpacken
es mitnehmen
ins Leben
Sie klopft sich den Sand aus den Händen und überlegt.
Was soll ich aufschreiben?
Wenn mir schon kein Gebet einfällt
Schreiben Sie die Wahrheit
das befreit
Für wen ist es eine Befreiung?
Für mich sicher nicht
In jedem Wort mit „heit“ am Ende
steckt Lüge
Absicht
Was für eine Schönheit!
Ins Bett will der Bube
sonst nichts
Freiheit
schreien sie und stürmen die Barrikaden
danach rollen die Köpfe
Name?
Margaretha Geertruida Zelle
Da haben sie alle gestaunt
die hatten sie nicht in ihren Akten
Staatsbürgerschaft?
Da habe ich geschwiegen
Was hätte ich sagen sollen?
Holländisch?
Französisch?
Deutsch?
Für meinen Vater
war ich immer die Prinzessin aus Java
Meine Papiere
haben sie studiert
Sie gegen das Licht gehalten
als ob zwischen den Papierschichten
ein Geheimnis zu lüften wäre
Das Schweigen
verwirrt sie
die Stille
ist für sie unerträglich
Schweigen
ist Macht
Da werden die Herren
unruhig auf ihren Sitzen
reiben ihre pickligen Ärsche
auf harten Bänken
Sollen sie doch
meine Tagebücher studieren
sie sind voll mit Zeitungsausschnitten
und Bildern
Das bin ich
mehr muss man von mir
nicht wissen
Haben sie etwa geglaubt
ich wäre nackt in den Gerichtssaal gesprungen
Nein
den Gefallen habe ich ihnen nicht getan
Das dunkle Kostüm
habe ich angezogen
Vom Hals
bis zu den Fesseln
dunkles Tuch
sie lacht
An ihren großen Augen
habe ich gleich erkannt
dass sie ganz andere Bilder
von mir verschlungen haben
Mit bebenden Kinn und Nase
mit einem See im Mund
der sich an den Seiten
wie ein Wasserfall
seinen Weg gesucht hat
haben sie mich
aus dem Fotopapier
in ihre verwegenen
feuchten Träume gesaugt
Kannibalen der Lüste
mit Allmachtsfantasien
die sie an ihren Dienstmädchen
Untergebenen
auf staubigen Dachböden
oder feuchten Kellern ausleben
Die mit dem Gehstock
und den hohen Hüten
gehen in „das Haus“
Jede noch so kleine Stadt
hat so ein Haus
Geführt von einer Kriegerwitwe
so wird erzählt
die ihre unzähligen Nichten
durchbringen muss
die alle musisch
sehr begabt
sie lacht
Also
was soll ich schreiben?
Mata Hari
Tänzerin
in ganz Europa
berühmt
gefeiert
verehrt
Vier Zahlen
sollen für das Erste reichen
MATA HARI nimmt ein Blatt Papier und einen Stift vom Tisch.
Sie legt sich auf den Bauch und faltet aus dem Papier ein Schiffchen. Dabei sind ihre Beine angewinkelt und zappeln wie bei einem Kind.
Sie schreibt vier Zahlen auf das Schiffchen und betrachtet es lächelnd.
Dann steckt sie es in die Spitze der Sandburg. Die Zahl „1897“ ist zu lesen.
MATA HARI:
Achtzehn war ich
als ich auf das Inserat
in einer Den Haager Zeitung
geantwortet habe
Vater war in Amsterdam
um sein Geschäft zu retten
Mutter seit drei Jahren
unter der Erde
Ich hatte mir fest vorgenommen
Kindergärtnerin zu werden
Aber der Leiter der Schule
hatte anderes mit mir vor
Natürlich
hat er das anders dargestellt
So viel geredet
dass niemand mehr wusste
wer Verführer
wer Opfer
Auf die Bibel
hat er geschworen
und nicht unerwähnt gelassen
wer letztendlich
für die Vertreibung aus dem Paradies
verantwortlich gewesen ist
Da ist das Inserat
gerade recht gekommen
Nicht viel geschrieben
mein Foto sprechen lassen
Ein paar Tage später
die Antwort
Eine Seite Brief
und ein Foto
Ein Mann
in Uniform
Älter
hat er ausgesehen
viel älter
als mein Vater
Der Onkel
bei dem ich gewohnt habe
hat mich nicht gehen lassen
So ist der Mann auf dem Foto
zu mir gekommen
hat sich vorgestellt
und um meine Hand angehalten
Gekauft
wie gesehen
Sie lacht.
Gekauft
wie gesehen
hätte Papa gesagt
Bestimmt ist Geld geflossen
So habe letztendlich ich
Papa das Geschäft gerettet
In die Richtung
wohin das Geld fließt
dahin dreht sich auch die Welt
Sie steht auf, klopft den Sand vom Mantel.
Leider
ist der Scheitelpunkt einer Glückswelle
schnell erreicht
Zum Glück
ist Geld da gewesen
und ich habe die rasante Abfahrt
mit Einkäufen versüsst
Eine Frau
hat nie genug anzuziehen
muss sie doch
in so viele Rollen schlüpfen
Von der Hure
bis zur Mutter
über die Hausfrau
Beraterin
Schmuckstück zum Zeigen
und und und
Sie legt sich im Militärmantel rücklings auf die Pritsche und starrt an die Decke.
Aus dem OFF: Meeresrauschen und von weitem das Signalhorn eines Schiffes.
So bin ich mit dem Schiff
Richtung Java
18 Monate verheiratet
mit einem Mann
der mein Vater hätte sein können
Das Unbeschwertsein
eingepackt in Tüll und Seide
Den Vater
eingetauscht
gegen einen Offizier
Rudolph MacLoud
sein Name
mit schottischen Vorfahren
aber durch und durch Holländer
gezeichnet durch seinen Dienst
in der Kolonialarmee
Mit der Überfahrt nach Ostindien
hat er wohl geglaubt
meine Kauflust einzudämmen
sie lacht
Wie eine Schlange bewegt sich MATA HARI lasziv auf dem Bett und befreit sich langsam von dem grauen Militärmantel.
Mit einer Hand öffnet sie lässig den Überseekoffer, aus dem Licht strömt.
Der blasse Mond verwandelt sich schleichend in eine gleißende Sonne.
Eine seltsame Gesellschaft
hatte sich da an Bord eingefunden
Frauen
deren Haut
blass
wie junger Käse
aber falsch gelagert
ausgetrocknet
mit Falten und Rissen
Wie eine Blume
die nicht aufgeht
die einfach verkümmert
ohne auch nur einem Insekt
die Blütenstempel zu zeigen
Frauen
ohne Schatten
weil der längst von ihnen Besitz genommen hat
Seelenlose Gestalten
mit einem Ziel
auf irgendeiner der unzähligen Plantagen
das Zeitliche zu segnen
MATA HARI dreht sich zur Seite und lässt den grauen Militärmantel langsam zu Boden gleiten. Darunter trägt sie einen eleganten weißen Badeanzug.
Ich habe bis heute nicht verstanden
warum sie ihre Männer begleitet haben
Nur um auf Java zu sterben?
Dabei ist Java
soviel mehr
die Insel Avalon
der Zauberer Merlin
die Lotusesser
Legenden
zwischen Spinnennetz
und Nebel
Wahrscheinlich
gibt es nur zwei Sorten
von Menschen
Die einen
die Angst vor dem Ungewissen
dem Fremden haben
Die anderen
die gespannt sind
und sich auf das Neue
Unbekannte freuen
MATA HARI reibt sich ein. Sie genießt es, ihren Körper zu berühren.
Den ganzen Tag Sonne
kann es etwas Schöneres geben?
Während die Frauen unter Deck
sich die Seele
aus dem Leib gekotzt haben
sind ihre Männer oben
an der frischen Seeluft
auf und ab gegangen
Ach was
wie räudige Hunde
sind sie herumgestreunt
haben mich nicht
aus den Augen lassen
Jede meiner Bewegung
haben sie genossen
vom Kapitän bis zum Küchenjungen
Der erste Sonnentag an Deck
auf dem Weg nach Java
ist letztendlich mein Debüt gewesen
Ohne es zu wissen
war es mein erster Auftritt
Das Deck war die Bühne
und die Sonne der Scheinwerfer
Aus dem OFF: Nachtvogelgeschrei
MATA HARI richtet sich auf und hält sich die Hand vor die Stirn
MATA HARI:
Wie schön das Meer glitzert
als hätte jemand
den Schleier
einer orientalischen Prinzessin ausgerollt
Dort drüben
das muss Java sein
BÜHNE DUNKEL
Sternsinger
PERSONEN:
ERSTER in allen Bereichen zur Androgynie
neigender Mensch
ZWEITER in allen Bereichen zur Androgynie
neigender Mensch
Das Stück spielt in der heutigen Zeit
PROLOG
Zwei vermummte Gestalten drehen Achten.
Ein Schneesturm weht ihnen ins Gesicht.
Aus dem OFF heult ein Sturm auf.
ERSTER:
Ich habe das Gefühl
wir bewegen uns im Kreis
ZWEITER:
Keine Angst
es sind Achten
ERSTER:
Im Grunde
dasselbe
Zwei Kreise
die miteinander
verbunden sind
ZWEITER:
Mathematiker?
ERSTER:
Wir brauchen einen Unterschlupf
Jetzt
wo uns der Heiland geboren wird
ZWEITER:
Dem Himmel
scheint es einen Dreck zu scheren
Zum Glück
sind die heutigen Dattel-
und Feigenbäume
winterhart
ERSTER:
Man sieht die Hand
vor Augen nicht
Was ist das?
ZWEITER:
Wo?
ERSTER:
Da
Er zeigt mit dem Finger nach oben.
ZWEITER:
Und?
ERSTER:
Vielleicht
sollten wir dem Stern folgen
ZWEITER:
So hell
leuchtet kein Stern
Es wird ein Satellit sein
ERSTER:
Wir können
es ja auf einen Versuch ankommen lassen
Immerhin
gibt es da
diese Prophezeiung
ZWEITER:
Prophezeiung
hin oder her
Wer glaubt denn
an so was?
Alte Weiber
ERSTER (unterbricht):
Und Jungfrauen
Beide lachen.
ZWEITER:
Ich glaube da
vorne ist was
ERSTER:
Wo?
ZWEITER:
Da
ERSTER:
Ein Zelt
Das ist unsere Rettung
ZWEITER:
Ich meinte
da
ERSTER:
Tiere
da stehen Tiere
mitten auf dem Gehweg
ZWEITER:
Das ist doch eine Kuh
ERSTER:
Eher
ein Ochse
ZWEITER:
Na klar
und das andere
ist ein Esel
wie in der Prophezeiung
ERSTER:
Unsinn
Das ist ein Bär
und der andere ein Bulle
Wir sind an der Börse gelandet
ZWEITER:
Unsinn
das ist ein Esel
ein dicker Esel eben
Vielleicht
ist er schwanger
und gebärt auch ein Baby
ERSTER:
Erstens
ist der Esel
ein er
und zweitens
gebärt ein Esel
kein Kind
sondern
ein Fohlen
ZWEITER:
Davon steht nichts
in der Prophezeiung
ERSTER:
Das Zelt
steht offen
Es scheint leer
ZWEITER:
An diesen Tagen
ist jeder bei seiner Familie
ERSTER:
Occupy-Bewegung
Attac
Und diese komischen Masken
Ich kenn
mich nicht mehr aus
ZWEITER:
Hauptsache
wir haben ein Dach
über dem Kopf
Ist das Kind
erst einmal da
wird es die Welt
verändern
ERSTER:
Das befürchte ich auch
ZWEITER:
Wir sollten die Rollen tauschen
Der Schneesturm lässt die beiden verschwinden.
1. SZENE: SCHWARZ - WEISS
Eine Tür wird zugeschlagen.
Zwei Könige stehen auf der Bühne, der ERSTE
schwarz, der ZWEITE weiß geschminkt.
Der ERSTE hält an einem Stil den Stern in der
Hand, in der anderen einen Koffer, der ZWEITE
schleppt zwei Koffer.
ERSTER:
Wieder nichts
ZWEITER:
Hast du
etwas anderes erwartet?
ERSTER:
Knapp
war es schon
ZWEITER:
Was heißt
hier knapp?
Die Tür
haben sie uns
vor der Nase
zugeschlagen
ERSTER:
Ich habe
ihre Augen gesehen
Müde
traurige Augen
ZWEITER:
Nichts
hast du gesehen
Einen Spalt nur
war die Tür offen
Die Kette
am Schloss
ERSTER:
Gefangen
im eigenen Ich
Genau so
haben die Augen
ausgesehen
ZWEITER:
Da war nichts zu sehen
ging
alles viel zu schnell
ERSTER:
Ich habe die Traurigkeit
gesehen
Diese Leere
diese Müdigkeit
Das ist kein
Zuckerschlecken
Da hat einer
lange
auf den Stern
gewartet
ZWEITER:
Die Tür
haben sie uns
zugeschlagen
ERSTER:
Immerhin sind wir es
die die frohe Botschaft bringen
ZWEITER:
Da bin ich mir
nicht so sicher
ERSTER:
Vom Himmel hoch
da komm ich her
ZWEITER:
Falscher Text
ERSTER (singt):
Wir kommen daher aus dem Morgenland
ZWEITER (unterbricht):
Und das ist unser Problem
ERSTER:
Wo sollen wir sonst her kommen?
ZWEITER:
Na von hier
Die Frohe Botschaft
von Nachbar zu Nachbar
Das wollen die Leute hören
Morgenland
dass klingt nach
arabischem Frühling
nach politischer Verfolgung
nach Bürgerkrieg
nach Flucht
nach riesigen Flüchtlingslagern
nach Flüchtlingsstrom
ERSTER:
Du meinst
wir sind hier
nicht erwünscht?
ZWEITER:
Doch doch
Als Erntehelfer
oder Scheißewegräumer
Giftspritzer
und Entsorger
ERSTER:
Also
brauchen sie uns
ZWEITER:
Das
würden sie nie zugeben
Es irritiert sie
wenn unsereins
Arzt oder Jurist wird
Sie empfinden das
als Undankbar
ERSTER:
Aber
sie profitieren
doch davon
Wir beleben
Handel
und Wirtschaft
Wissenschaft
und
Kunst
ZWEITER:
Ich sage nur
Morgenland
Das heißt
Beschneidung
Burka
Klitorisverstümmelung
Zwangsheirat
Hände ab
Kopf ab
ERSTER:
Sie halten uns
für die Speerspitze?
ZWEITER (lachend):
Nein
für die
die ihnen
die Luft rauben
Ihnen die Haare
vom Kopf fressen
Sie haben Angst
nennen es
Überfremdung
Die gleichen Leute
die hier
die Mauer abgebaut haben
bauen sie
wo anders wieder auf
ERSTER:
Ich bin gerne hier
Wir haben eine Botschaft
ZWEITER:
Welche?
ERSTER:
Ja
das jeder
hier herkommen kann
Der ZWEITER kann sich vor Lachen nicht mehr
einkriegen.
ZWEITER:
Wegstecken
werden sie uns nicht
Sie haben zu viel
mit den Grenzen zu tun
Tag für Tag
werden die Mauern höher
mit rasierscharfem Stacheldraht obenauf
ERSTER:
Wir tragen Turban
und einer von uns
ist schwarz
ZWEITER:
Schwarz
wie die Wichse
der Springerstiefel
ERSTER (singend):
Wir kommen daher
aus dem Morgenland
ZWEITER (unterbricht):
Morgenland
ist abgebrannt
Dass wir überlebt haben
ärgert sie am meisten
Das geht nicht
mit rechten Dingen zu
bei den schrecklichen Bildern
im Fernsehen
Dass so viele
überlebt haben
Sinkt ein Flüchtlingsschiff
vor ihren Küsten
glauben sie den Zahlen nicht
halten sie für übertrieben
Kommen wir ins Land
misstrauen sie den Zahlen
halten sie für untertrieben
ERSTER:
Das ergibt überhaupt keinen Sinn
ZWEITER:
Doch doch
Wir sind ohnehin
unglaubwürdig geworden
ERSTER:
Nur
weil sie uns die Tür
vor der Nase zuschlagen?
ZWEITER:
Schau uns doch mal an
ERSTER:
Was denn?
Was denn?
ZWEITER:
Wir sind unglaubwürdig geworden
ERSTER:
Unsinn
Die Zeit ist eine andere
ZWEITER:
Hallo?
Unsere Geschäftsgrundlage
stimmt nicht mehr
ERSTER:
Wir hätten nicht so früh
aufbrechen sollen
ZWEITER:
Na?
Fällt dir immer noch nichts auf?
Er beginnt laut zu zählen.
Eins
Zwei
Verstehst du?
Eins
zwei
Der ERSTE schaut den ZWEITEN ratlos an.
Fällt dir nichts auf?
ERSTER:
Ich bin der schwarze König
Du bist der weiße König
ZWEITER:
Und?
ERSTER:
Und?
Und?
Du gehst mir auf den Nerven
mit deinem Und?
Voller Wut stellt er die Koffer ab. Er öffnet sich.
Aus ihm entweicht eine Gummipuppe, die sich
langsam selbst aufbläst.
Die Sexpuppe trägt das Gewand eines Scheichs.
ZWEITER:
Es fehlt der dritte König
Weil es heißt
Heilige drei Könige
und nicht zwei heilige drei Könige
Ach was rede ich
zwei heilige Könige
ERSTER:
Was redest du?
Wir sind doch zu dritt!
Voller Stolz zeigt er auf die Puppe mit dem offenen
Mund, die ein Beduinengewand und eine Krone
trägt.
ZWEITER:
Bei dem Anblick
hetzen sie uns
die Hunde auf den Hals
ERSTER:
Ich kann gut mit Tieren
ZWEITER:
Oder sie rufen die Polizei
und die wollen Papiere sehen
gültige Papiere
waschechte Papiere
ERSTER:
Mein Gott
ZWEITER:
Das könnte dir so passen
Er setzt sich auf den zweiten Koffer, der verschlossen ist.
ERSTER:
Vielleicht
sollten wir den Schwarzen ganz weglassen
In den Niederlanden
diskutieren sie
über die Abschaffung
des swarten Piets
ZWEITER:
Wer?
ERSTER:
Der swarte Piet
der schwarze Peter
ist in den Niederlanden
der Assistent des Nikolaus
des Heilgen St. Nikolaus
ZWEITER:
Das ändert nichts
Den Negerkuss
schaffen sie ab
aber die Schwarzarbeit bleibt
So ist das
es lebe das Zigeunerschnitzel
und der lustige Bosnierteller
Und wenn es auf dem Balkan
ums große Abschlachten geht
schauen wir weg
ERSTER:
Ich meine ja nur
Wir können das Morgenland
doch einfach streichen
ZWEITER:
Wir können uns das ganze Gesinge
schenken
So weit kommen wir gar nicht
ERSTER:
Ich könnte einen Fuß
in die Tür stellen
oder den Stern nehmen
ZWEITER:
Die Gummipuppe
könnte uns rausreißen
Liebe zu dritt
und das am Vormittag
Haben die Schwarzen
nicht riesige Prügel
ERSTER:
Es lebe das Vorurteil
Zudem finde ich unseren
dritten König
sehr symbolträchtig
Er schwebt über allem
ist aus Plastik
und dadurch
langlebig
ZWEITER:
Langlebig
langlebig
Man merkt
sofort
das Goethe Institut
das will keiner hören
Klare Botschaften
sind angesagt
vor allem
am Vormittag
ERSTER:
Wir haben eine Botschaft
und sind nicht Bestandteile
einer Seifenoper
ZWEITER:
Eine Botschaft
eine Botschaft
wie sich das anhört
Da ziehen
drei durchgeknallte Könige
durch die Gegend
wahrscheinlich zugekifft
um den König der Könige
zu huldigen
Dass er geboren wurde
hat ihnen ein Stern verraten
der ihnen auch den Weg weist
Wie krank ist das denn?
Aber das Beste
kommt ja erst noch
Da kommen die drei Fürsten
aus dem Morgenland
huldigen einem Neugeborenen
in dem sie ihn
mit Reichtümern
voll scheißen
und als Dankeschön
kommen ein paar hundert Jahre später
die Kreuzritter
und metzeln alles nieder
ERSTER:
Ich glaube
die Leute spüren
deine negativen Schwingungen
Deshalb
schlagen sie die Tür zu
Wahrscheinlich
wissen sie noch nicht einmal warum
Eiskalt
wird sie sein
die Welle
Vielleicht denken sie auch
es ist der Sensenmann
Auf jeden Fall
fröstelt ihnen
und schmeißen
aus Schutz
die Tür zu
ZWEITER:
Es fröstelt ihnen
es fröstelt
Es ist deine Sprache
die sie nicht wollen
Und natürlich die Botschaft
Die Leute
wollen positive Nachrichten
Alles wird gut
Das ist es
Alles wird gut
ERSTER:
Alles wird gut
alles wird gut
Was ist das für eine Nachricht?
Da geht es doch um mehr
Die drei
stehen für den Aufbruch
für Veränderung
Da machen sich drei Könige auf
ZWEITER (unterbricht):
Eben
wahrscheinlich
damals schon
emigriert
Flüchtlinge
Zuhause
haben sie die drei
vor die Tür gesetzt
so
wird ein Schuh draus
Keiner wollte die mehr
Ein Tritt in den Arsch
und tschüss
ERSTER:
Sie wollten dem Kinde huldigen
Weihrauch
Myrrhe
und Gold für wahr
und dann sind sie
wieder zurück
ZWEITER:
Hast du jemals
von den Frauen
Eltern
oder Kindern
der Heiligen Drei Könige
gehört?
Ich nicht
ERSTER:
Oft sind jene Menschen
die der Gegenwart
weit voraus sind
sehr einsam
und allein
ZWEITER:
Naturgemäß
sind sie das
Sie leben
ja nicht
im Hier und Jetzt
ERSTER:
Der Stern
steht für eine Vision
ZWEITER:
Gibt es im Deutschen
nicht so einen Spruch
Wie ging er gleich
Wie ging er gleich
Ich hab's
Er hat die Lampe an
Die einen
folgen einem Stern
und die anderen
haben die Lampe an
ERSTER:
Sie haben
ihr Leben
der Vision
der Utopie
geopfert
Das Leben
auf dem Altar
einer neuen Zeit
geopfert
und auf alles verzichtet
Auf Frau
auf Kinder
Die Eltern
werden sie verstoßen haben
ZWEITER:
Da bringst du was
durcheinander
ERSTER:
Ich weiß
was du sagen willst
man kann aber auch
mit einer Idee
ein Königreich erschaffen
ZWEITER:
Und warum
sind sie nicht zurückgekehrt?
Es verliert sich jede Spur
Sie werden sich abgesetzt haben
Dem Kind
kurz das Geld
und die Gewürze gezeigt
und dann ab
durch die Stalltür
wahrscheinlich haben sie
Ochs und Esel
noch mitgenommen
oder direkt
vor Ort verzehrt
Die müssen einen Hunger
gehabt haben
ERSTER:
Hat Ben Hur
sie nicht in der Wüste
an einem Brunnen getroffen?
ZWEITER:
Ben Hur
Ben Hur
Der hat ja auch den Erlöser
das Kreuz getragen
Johannes den Täufer
kennen gelernt
und ist
überhaupt nicht gealtert
Märchen und Legenden
ERSTER:
Gerade zu dieser Jahreszeit
braucht der Mensch
eine Hoffnung
ein Licht
ZWEITER:
Der Ben Hur Schauspieler
war Sprecher
der Waffenlobbyisten
in den USA
Halleluja
Piefke
PERSON:
PIEFKE Metzgermeister aus Deutschland
IM LADEN
1.
Ein weiß gekachelter Raum.
PIEFKE trägt eine weiße Hose und ein weißes Hemd.
PIEFKE:
Ich habe die Blutwurst
nach Wien geholt
die Blutwurst und die Leberwurst
Ganz Österreich
habe ich meine Wurst geschenkt
Vor mir
gab es doch überhaupt
keine Wurst
in Wien
Geschweige denn
in Österreich
Würstl
das ja
Würstl
das können sie sagen
Würstl
und Würstlstand
zu mehr
hat es nicht gelangt
Würstl
Würstl
genauso
sehen sie aus
und sie schmecken auch so
Würstl
Wurst heißt das
WURST
W
U
R
S
T
WURST
Für alle
zum Mitschreiben
Wurst
Wurst
und nochmals
Wurst
Würstl
Armes Würstl
ja
da wird ein Schuh draus
Würstlstand
dieses ganze Getue
um eine Bude
Richtig stolz
sind sie
auf den Würstlstand
nur weil er mehr
als drei Sorten Würstl
anbietet
Würstl eben
und keine Wurst
Hier heißt
es ja auch nicht Metzger
sondern Fleischhauer
Und genauso
ist es denn ja auch
Wie die Bestien
reißen sie
am Fleisch
zerstören jede
noch so kleine Faser
Mehr als einen Brei
können sie nicht herstellen
und den
zwängen sie dann
in die Därme
geschlachteter Kreaturen
bis zum Schluss
Tierquälerei
Wer Würstl
sagt
und meint
ist ein Sadist
Ich weiß
ich weiß
laut darf ich das
nicht sagen
Schon gar nicht hier
in dieser Stadt
in der
heiligen Würstl Stadt
In der Hauptstadt
des Würstl
wird man für so etwas
zu selbigen verarbeitet
Es heißt
Wurst
und nicht
Würstl
WURST
W
U
R
S
T
WURST
Es heißt ja auch nicht
Kriegl
sondern
Krieg
Ich
habe die Wurst
nach Wien geholt
und sonst niemand
Hans
Wurstkönig
die Majestät
bin ich
Wurst
das heißt
Sinnlichkeit
Zur Herstellung
einer Wurst
die den Namen
auch verdient
muss man alle Sinne
beisammen haben
Sinne
und Sinnlichkeit
das liegt eng zusammen
Das kennt
der Fleischhauer nicht
Der zerkleinert alles
mischt es zusammen
und füllt es
in die Arschlöcher
dieser Welt
Nein
nein
das ist nicht von mir
Freud
das große Kind
dieser Stadt
hat das schon
in seinem Spielzimmer festgestellt
Der österreichische Fleischhauer
ist analfixiert
Darum bringt er
außer
einem Würstl
auch nichts zustande
Wahrscheinlich
hat er
die Mutter
als Endlosschleife im Ohr
Bub
mach dein Würstl
Bub
mach dein Würstl
PIEFKE biegt sich vor Lachen und verfällt in einen Hustenanfall.
PIEFKE:
Jetzt
wäre ich fast
am Wiener Würstl
erstickt
so weit
kommt es noch
Alle Kriege
in den letzten hundert Jahren
ach was sage ich
zweihundert Jahren
habt ihr verloren
Darüber
würde ich mal nachdenken
Mit einem Würstl
ist kein Staat
zu machen
geschweige denn
ein Krieg zu gewinnen
Selbst euer Anstreicher
aus Braunau
hat diese KOST
schlichtweg
abgelehnt
Würstl
PIEFKE lacht.
Würstl
PIEFKE lacht und schaut sich um.
So
sieht ein Meisterbetrieb aus
Bei mir
kann man sogar
von der Decke essen
Tip Top
das ganze Geschäft
von der Kühlkammer
bis zum Laden
Eine Bruchbude
ist das gewesen
als ich es
für teures Geld erworben habe
Übers Ohr
haben sie mich gehauen
Gedacht
mit einem Deutschen
kann man es ja machen
Von Anfang an
haben sie mir Steine
in den Weg gelegt
und als Krönung
mir diese Bruchbude
angedreht
Braun sind die Kacheln gewesen
tief braun
Aus Spaß
habe ich noch gefragt
ob hier früher die Gauleitung
ihren Sitz gehabt hätte
Aber diesen Witz
haben sie nicht verstanden
Sie nehmen überhaupt nichts auf
was von Außen kommt
Das Fremde
betrachten sie gar
als Bedrohung
Man muss sich das
einmal vorstellen
ein einfacher
rechtsschaffender Metzger
aus Deutschland
eine Bedrohung
für die ganze Stadt
Ganz Wien
hat gezittert
Dass ich nicht lache
Er lacht aufgesetzt.
Das einzige
was zu zittern hätte
ist das Würstl
denn dem Würstl
habe ich den Kampf geschworen
PIEFKE hebt die Faust zum Gruß.
2.
PIEFKE steht vor dem Wandspiegel neben der Tür und versucht sich eine weiße Fliege zu binden.
PIEFKE:
Der Liebe wegen
nach Wien
Gibt es sonst einen Grund
in diese Stadt zu kommen?
Man braucht sich ja nur
die Gesichter da draußen
anzuschauen
dann weiß man sofort
Freiwillig ist niemand hier
Und die
die es wirklich schaffen
der Stadt
den Rücken zu kehren
sind wie vom Erdboden verschluckt
Man hat nie mehr
von ihnen gehört
Da ist doch was faul
wenn man mich fragt
Aber
mich fragt niemand
Da verschwinden
reihenweise
die Menschen
aber niemanden
interessiert das
Wahrscheinlich
bin ich der einzige
in dieser Millionenstadt
der sich diese Frage stellt
Millionenstadt
dass ich nicht lache
Millionen Vermisste
das ja
Es hat in Wuppertal
mal einen Metzger gegeben
der hat Wandergesellen
zu Pökelfleisch
verarbeitet
und in der Nachbarschaft
verschenkt
Der Mann war beliebt
Da konnte man hinkommen
wo man wollte
Das waren die Hungerjahre
nach dem 1. Weltkrieg
da sehnte sich der Mensch
nach was zu beißen
Ich mache
das beste Pökelfleisch
der Stadt
Ohne mich
wüssten sie hier gar nicht
was richtiges pökeln heißt
Wer beim Salz spart
hat schon verloren
Und hier sparen sie sogar am Fleisch
Ich sage nur Würstl
Würstlstand
Nein
schaut man in die Gesichter
dieser unglücklichen Kreaturen
da wünscht man sich
einen Moses
der sie aus der Gefangenschaft
hinausführt
und wenn nur
ins Waldviertel
Es wird einen Steinbruch
oder ähnliches geben
wo die hinkommen
die sich anmaßen
nur einfach zu buchen
Ich bin der Liebe
wegen hier
Auf der Jagd
bin ich gewesen
im schönen Kärnten
Rehaugen
Rehaugen
hat sie gehabt
Mit Rehaugen
fängt es an
dann mutieren sie
zu Kälberaugen
Selbst die Schweineaugen
sind nur eine Zwischenstation
denn letztendlich
landet man immer
bei den Fischaugen
Wenn man früh morgens
wach wird
und man schaut
in Fischaugen
weiß man
dass das Leben
an einem vorbei gerauscht ist
Die lange Nase
hat es noch gemacht
das Leben
(singend)
Nanananana
Nanananana
Und schon war es weg
Den Grüßaugust
gegeben
und schon durch die Tür
Wer morgens früh
in Fischaugen blickt
sollte am besten
liegen bleiben
Schatzi
wo sind meine Manschetten?
Du weißt schon
die Weißgoldenen
die du mir
zum Firmenjubiläum
geschenkt hast
Die mit der Wurst drauf
die das Würstl schluckt
Er lacht.
Eine ganze Seite
habe ich in der Zeitung geschaltet
Erst ein australischer Künstler
ist bereit gewesen
dass zu zeichnen
was ich haben wollte
Ein österreichischer Maler
hätte sich überhaupt
nicht getraut
Eine Wurst
so groß
wie ein Walfisch
und dann
die Laich
der kleine Hering
das Würstl
das einfach
gefressen wird
Er lacht.
Aufkleber
habe ich machen lassen
Flugblätter
sowieso
Einen Zeichentrickfilm
wollte ich drehen lassen
Aber die Herren Künstler
haben nasse Füße bekommen
Die Stadt
der Fischaugen
und der Mutlosen
Komm auf die Brüstung
säuseln die Brücken
und locken
mit süßlicher Stimme
Die Stadt
kann von Brücken
gar nicht
genug bekommen
Wie die Lemminge
springen sie
in die Donau
Schatzi
Ich finde die Manschetten nicht
Du weißt schon welche
Der Liebe wegen
nach Wien
Mein Vater
wollte mich entmündigen lassen
Die Mutter
hat geweint
Warum nicht Wuppertal?
Gutes Pökelfleisch
kommt aus Wuppertal
Mutter
ich habe einen Auftrag
habe ich gesagt
eine Mission
Ich will die Wurst
in die Welt bringen
Ein Missionswerk errichten
Nicht umsonst
habe ich Orgel gelernt
Er holt hinter dem Tresen ein (Keyboard) hervor und beginnt damit Orgelmusik zu produzieren.
Halleluja
Halleluja
Wahrlich
Ich sage euch
es kommt die Wurst
die eurer Leben
verändern wird
Halleluja
Halleluja
Ich sage euch
der Weg
wird ein beschwerlicher sein
Das Krokodil
wie ihr
die Gewürzgurke nennt
wird euch den Weg weisen
Halleluja
Halleluja
Wahrlich ich sage euch
es kommt die Zeit
und mit ihr
die Wurst
die euer Leben
verändern wird
Halleluja
Halleluja
Er stellt die Orgel zurück hinter den Tresen.
Was für eine Akustik
Da kann sich der Wiener Musikverein
eine Scheibe abschneiden
Da verpufft doch
jeder Ton
an vergoldeten Säulen
und Streben
Weiße Kacheln
das ist das ganze Geheimnis
der ganze Wiener Musikverein
weiß gekachelt
Dann könnte man
von einem gelungenen Neujahrskonzert reden
aber so
Wieder nur so
eine Würstlveranstaltung
Darum liebt der Wiener
ja auch die Operette
und nicht die Oper
Wie muss sich Mahler
in dieser Stadt
der Ignoranten
gefühlt haben
Mahler
mit h
In keiner anderen Stadt
muss man das hervorheben
Wenn ich
von Mahler
rede
denken
die Würstlpanscher
ich würde den Anstreicher
den Postkartenmaler
meinen
Den Beethoven
haben sie
zu ihrem gemacht
den Gefreiten
längst zum Piefke
Hitler
klingt ja auch
fast preussisch
Hitler
Grützwurst
Schicklgruber
Würstl
Ein Schicklgruber
würde bei uns
Schinkel heißen
und für die Ewigkeit
bauen
und nicht zerstören
Das ist ohnehin
der größte Unterschied
Mit einer Mission
bin ich
nach Wien gekommen
Missionieren
wollte ich
die frohe Botschaft
verkünden
Es gibt hinter dem Würstl
eine Wurst
Er schaut nach oben
Schatz
ich finde die Manschettenknöpfe nicht
Du weißt schon welche
Der Vater
war ja
vollkommen
gegen die Verbindung
Schon bei dem Wort
Deutschland
ist er rot angelaufen
und hat Schaum gespuckt
Mich
hat er überhaupt nicht
sehen wollen
Ein Piefke
kommt mir nicht ins Haus
soll er immer
und immer wieder
gerufen haben
Irgendwann
haben es die Nachbarn
nicht mehr ausgehalten
Ein Tag
vor unserer Hochzeit
haben sie ihn geholt
und nach Steinhof gebracht
Abteilung 53
Ein kleiner Pavillon
am Rande des Parks
Man schaut direkt
auf die Jugendstilkapelle
Abteilung 53
steht auf keinem Wegweiser
selbst auf dem Plan
für die Feuerwehr
ist er nicht eingezeichnet
Ein kleines
unscheinbares Gebäude
mit einem Aufzug
der tief in die Erde geht
Einen riesigen Stollen
haben sie in den Fels getrieben
um Platz zu haben
Platz
für all diejenigen
die schon bei dem Wort
Deutschland
rot anlaufen
und Schaum spucken
In schicken Zweitbettzimmern
sind sie untergebracht
und werden den ganzen Tag
mit Kuhglocken und Volksmusik
beglückt
Tu felix austria
Nein
das können wir Deutsche
nicht sagen
ganz im Gegenteil
Der Römer
hat uns beschimpft
unsere Wälder
als stinkende Sümpfe
bezeichnet
Unsere Tradition
und vor allem
unsere Sprichwörter
nicht ernst genommen
So wie man es
in den Wald
hinein schreit
so schallt es heraus
Während
der Österreicher
die Jause
für den Römer bereitet hat
haben die Germanen
die Speere gespitzt
und die Äxte geschliffen
(mit kläglich nachgemachtem Wienerakzent)
Herr Cäsar
darf‘s noch ein kleiner Brauner sein
Bitte sehr
bitte gleich
Wir haben eine Römertorte
zum Niederknien
ach was sage ich
zum Reinsetzen
oder darf‘s
ein gallisches
Geschnetzeltes sein
I scheiß mi an
der Cäsar
auf dem Opernball
und wen hat er dabei?
Ja
wen hat er dabei
die K
die Kle
die Kleo
die Kleopa
ja
die Kleopatra
das geile Luder
aus der
Schönbrunner
Herr Cäsar
haben‘s
schon Karten
für das Neujahrskonzert
Über die Tauern
ist der Cäsar
Maut sparen
und dann in der Breite
ins Alpenvorland
So ist der Deutsche
gastfreundlich
bis auf aufs Messer
Und später
die teutonische Keule
PIEFKE betrachtet die gebundene Fliege im Spiegel.
Sitzt wie angegossen
wie das Brät
in der Wurst
Stramm
müssen die Därme sein
Stramm und aufrecht
Die deutsche Wurst
steht
Das Würstl
na ja
Es schlawinert eben
Schatz
hast du gehört?
Wie soll sie?
wie soll sie?
Ist ja gar nicht oben
Wahrscheinlich
irrt sie auf dem Gelände
von Steinhof herum
auf der Suche
nach Pavillon 53
Aber den
gibt es ja gar nicht
zumindest
offiziell nicht
Er lacht.
Aber das
wissen nur
die Piefkes
Die Schläfer
PERSONEN:
THEOPHIL Expolitiker und Bestsellerautor
EDELTRAUD Frau des Expolitikers und Bestsellerautors
MARTIN Freund und Verleger
RENATE Journalistin, langjährige Freundin
ROBIN Tochter, um die vierzig, aber wie ein Punk gekleidet, nach der amerikanischen Frauenrechtlerin Robin Morgan benannt
FRAU SCHNECK Lektorin und Schwester von Martin
GINA Inhaberin des Eissalons
GINO Inhaber und Ehemann von Gina
HANS-RÜDIGER Farbiger aus Südafrika
Das Stück spielt in der heutigen Zeit.
Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, mit Namensträgern und Spiegelbildern ist nicht beabsichtigt, sondern künstlerische Freiheit.
1.AKT
1.
Eine große Fensterfront. Dahinter mehrere einzelne Tische und Stühle und eine lang gezogene Bar. Durch eine Pendeltür geht es links in die Küche. Dort sind die Fenster bis in Kopfhöhe aus Milchglas. Rechts zwei Türen, die zu den Toiletten führen. Auch hier Milchglas bis in Kopfhöhe. Von der Decke hängt ein großer Ventilator, ein ehemaliger Flugzeugpropeller.
Vor dem Eingang steht eine große Leiter, deren Spitze nicht zu sehen ist.
Mehrere Stromkabel führen nach oben.
Unten an der Leiter steht GINA, die Besitzerin des Eissalons.
Auf dem Boden liegen mehrere Buchstaben aus Leuchtstoffröhren.
GINA schaut nach oben und schüttelt den Kopf.
GINA:
Pass bloß auf
Wenn es nicht geht
dann geht es nicht
Eine Stimme aus dem OFF, die GINO, dem Ehemann gehört, ruft.
GINO (aus dem OFF):
Ich werde doch wohl noch
ein paar Schrauben locker kriegen
Die Leiter wackelt und gerät in Bewegung. GINO steigt herunter und gibt seiner Frau einen Kuss.
GINO:
Weißt du noch?
Schraube locker
Keine Tassen im Schrank
Der Krug bricht immer am Brunnen
oder so ähnlich
beide lachen
GINA:
Schuster bleib bei deinen Leisten
Ehrlich währt am längsten
Lieber den Spatz in der Hand
als die Taube auf dem Dach
GINO:
Dank deinem Geschick
ist es wohl diesmal umgekehrt
Was bin ich froh
wenn der ganze Mist unten ist
Das Abmontieren hätte mich
ein Vermögen gekostet
und du handelst sogar
noch Geld aus
Ach Frau
was würde ich bloß ohne dich machen?
GINA:
Arzt wärst du geworden
und zwar der beste
GINO:
Jetzt haben wir zwei wunderbare Kinder
und diesen Laden
ein Restaurant könnten wir hier eröffnen
GINA:
Hör auf
Das mit heute ist und bleibt eine Ausnahme
Denk an die Kinder
An ihr Lachen
Du machst das beste Eis der Stadt
GINO:
Ich weiß
ich weiß
Schuster bleib' bei deinen Leisten
beide lachen
GINO gibt seiner Frau einen dicken Kuss und steigt wieder die hohe Leiter hinauf.
GINA:
Was für ein Mann
EDELTRAUD kommt von der Seite.
EDELTRAUD (telefoniert):
Schatzi
Natürlich hätte ich dich gern
vom Flughafen abgeholt
Wo bist du gerade?
Immer noch in Brüssel
So so
nimm Dir einfach ein Taxi
Eissalon Sara...
Ja ja
das ist die Überraschung
Nein nein
Den Laden gibt es schon
Keine Ahnung
wahrscheinlich eine Ewigkeit
Wir gehen doch seit Jahren
nicht mehr raus
Es sei denn
wir sind eingeladen
Im Grunde
ist Theophil
menschenscheu
Der Mann mit den Rehaugen
weißt du noch?
sie lacht
Und ich bin drauf reingefallen
Ich weiß
ich weiß
Er war anders
als die anderen Kinder
Ich habe mich oft gefragt
wie er es geschafft hat
andere zu überzeugen
Ach Renate
ich freu mich so
dass du es geschafft hast
dir die Zeit zu nehmen
Hallo Hallo
EDELTRAUD steckt ihr Smartphone weg.
EDELTRAUD sieht die Leiter und GINA.
Aber nein
aber nein
Sie bauen immer noch ab?
Gleich kommen die Gäste
Das sollte doch eine Überraschung werden
Ach nein
Ach nein
GINA:
Keine Angst
das bekommen wir alles hin
Wir haben zehn Uhr morgens
und Sie haben das Lokal
für drei Uhr Nachmittags gemietet
EDELTRAUD:
Die Leiter muss weg
Und die Buchstaben
müssen abgedeckt werden
Das soll doch eine Überraschung werden
Rede ich spanisch
oder was?
GINA:
Ich bitte Sie
vor zwei Tagen haben Sie mich besucht
das Lokal besucht
und gefragt
ob Sie das da oben haben könnten
EDELTRAUD:
Wie?
Und da haben Sie noch überlegt
und nicht sofort angefangen
Kein Wunder
dass die deutschen Kinder nicht mehr mitkommen
Mit ihrer phlegmatischen Weltanschauung
bremsen sie den ganzen europäischen Prozess
Wobei ich
nur meinem Mann zuliebe
Europäerin bin
ich halte gar nichts
von einer Großvereinigung
Die kulturelle Vielfalt
das war doch das Schöne
Aber jeder doch
in seinem Land
GINA:
Wir werden den Tag
zu ihrer Zufriedenheit ausrichten
Machen sie sich da keine Sorgen
EDELTRAUD:
Sorgen?
Ihre Ruhe möchte ich haben
So geht das nicht
EDELTRAUD nimmt ihr Smartphone und drückt eine Taste.
(ins Telefon)
Hier geht ja wohl alles schief
Diese Leute glauben
sie kommen damit durch
Du weißt ja
Servicewüste Deutschland
Da miete ich zu dieser Jahreszeit
einen Eissalon an
und mit Nichtstun
und Dilettantismus
wird es einem gedankt
Die Leute
Können so undankbar sein
EDELTRAUD scheint es gar nicht zu stören, das GINA und auf der Leiter auch GINO alles mithören können.
Renate
Bist du noch da?
Wieso Zollkontrolle?
Bei einem Inlandflug?
Ach wegen der Sicherheit
Was sollst du?
Das ist doch nicht wahr
Sag das noch mal
Den Midleton
sollst du wegschütten?
Den Midleton
Weiß der Schwachkopf überhaupt
für wen der edle Tropfen ist?
Was?
Gib mir den Schwachkopf mal
Was?
Der Mittelstrahl?
Ja
wenn es Sie glücklich macht
GINA holt einen Stuhl aus dem Eissalon und stellt ihn zu EDELTRAUD.
EDELTRAUD weist sie mit einer Handbewegung ab.
Hören Sie guter Mann
Bevor ich Ihnen meinen Namen sage
gebe ich Ihnen den Rat
die Frau
die einer meiner besten Freundinnen ist
mit der Flasche Whiskey
in das Flugzeug zu lassen
Nicht nur
dass Ihr Dienstherr
der Innenminister
der Taufpate
meiner Tochter ist
Ach das interessiert Sie nicht?
So leichtfertig gehen Sie also mit der Zukunft
Ihrer Kinder um
Im Übrigen wird Sie Ihre Frau verlassen
Wahrscheinlich schon heute Abend
wenn Sie erfährt
was für ein Dummkopf Sie sind
Das glauben Sie nicht?
Welcher Sekte gehören Sie denn an?
Zeugen Jehovas?
Wiedertäufer?
Ich sage Ihnen
auch die werden Sie
vor die Tür setzen
wenn sie erfahren
wie blöd Sie sind
Ach
Sie wollen mit mir nicht diskutieren?
Höre ich da etwa
erste Lernschritte heraus?
Hallo?
Hallo
Einfach aufgelegt
(zu GINA)
GINA:
Kann ich helfen?
Haben Sie Ärger mit Behörde?
Mein Cousin
hat einen Freund
dessen Freundin
putzt bei einem Anwalt
EDELTRAUD:
Ach Kindchen
Lassen Sie uns lieber rein gehen
und die Tische zusammenstellen
GINA und EDELTRAUD betreten den Eissalon. Im selben Moment fällt von oben etwas schweres Klobiges herunter und wirbelt Staub auf.
BÜHNE DUNKEL
2.
Vor dem Eissalon ist GINO damit beschäftigt die einzelnen großen Leuchtreklamebuchstaben mit Schwamm und Wasser zu reinigen. Im Eissalon sind die Tische zu einer langen Tafel zusammengestellt. GINA stellt die Stühle an den langen Tisch. Die Hand von EDELTRAUD, die zwischen der Schwingtür steckt, winkt fordernd.
GINO:
Beachtlich
was diese kleinen Vögel
alles unter sich lassen
er lacht
Vogelscheiß am Morgen
vertreibt Kummer und Sorgen
Dabei geht es uns gut
Ein eigenes Geschäft
Keine Schulden
Die Kinder studieren
Der Junge wird Arzt
Und das Mädchen Advokat
Nein
Wir haben Glück gehabt
Sonntagskinder
Und jetzt werden wir auch noch
die Reklame los
Endlich ein eigenes Schild
vor unserem eigenen Lokal
Eigentum verpflichtet
Es wird nichts so heiß gekocht
wie es gegessen wird
Ein Hund lief um die Ecke
und stahl dem Koch ein Bein
Unsinn Unsinn
den Wein
Die Deutschen und ihre Sprichwörter
Wer solche Sätze bilden kann
dem wird nicht langweilig
GINA kommt aus der Küche in den Salon und tritt nach draußen.
GINA:
Die Frau raubt mir noch den letzten Nerv
GINO:
Ich habe auch noch einen
Ehrlich hat den Längsten
GINA (lachend):
Trottel
Ehrlich währt am längsten
Das will sagen
Wenn du ehrlich bist
bleibst du und deines Gleichen erhalten
Im Großen gedacht
Nur die Kultur überlebt
die ehrlich ist
GINO:
Das leuchtet mir ein
Lügen haben kurze Beine
Wenn du da bist
denke ich ganz anders
GINA:
Ich weiß
mein Schatz
Aber wenn du nicht gleich
in der Küche verschwindest
ist es vorbei
mit unserem Glück
GINO:
Und?
Wo ist diese Frau?
GINA:
Oben
GINO:
Wie oben?
GINA:
Ja
in unserer Wohnung
GINO:
Du hast sie
in unsere Wohnung gelassen
und stehst jetzt hier
Was ist
wenn sie ins Schlafzimmer geht?
GINA:
Sie wird sich fragen
Warum wir keinen Sex mehr haben
bei zweiundfünfzig Fernsehern
GINO:
Bitte bitte
das haben wir so lange schon durch
Er ist mein Bruder
Jeder Geschäftsmann
fängt klein an
Und er eben mit zweiundfünfzig Fernsehern
GINA:
Die geklaut sind
GINO:
Woher willst du das wissen?
Sag mir lieber
warum diese Frau
In unserer Wohnung ist?
GINA:
Sie kann nicht
GINO:
Was kann sie nicht?
GINA:
Kacken
Sie kann nicht kacken
Ich weiß
eine Frau
sollte so etwas nicht sagen
eine Frau
sollte andere Worte benutzen
Aber glaube mir
auch sie hat kacken gesagt
Natürlich nicht am Anfang
Da hat sie so getan
als würde sie sich
für unsere Wohnung interessieren
Aber ich habe es ja gesehen
diesen gequälten Blick
in ihren Augen
Nein
Sie wollte nur kacken
und das hat sie letztendlich auch gesagt
GINO:
Ich hab noch einen:
Aus dem Krug
wird so lange getrunken
bis man bricht
beide lachen
GINO (ernst):
Und du glaubst
die sitzt jetzt da oben
und presst
und presst
ein Ei aus?
GINO:
Und die Buchstaben?
Was ist mit den Buchstaben?
Glaubst du
der liebe Gott holt sie vom Dach
GINA:
Du und dein lieber Gott
Für mich ist dein lieber Gott
zu oft in Urlaub
Am siebenten Tage sollst du ruhen
Ach
was soll das?
Für die einen ist der Siebte der Fünfte
Für die anderen der Siebte der Sechste
Was ist das für eine Welt
GINO:
Und für manche ist jeder Tag der Siebte
er lacht
Für mich wäre das nichts
Den ganzen Tag
auf der faulen Haut liegen
Mit lässigem Schritt und Designeranzug nähert sich HANS-RÜDIGER, ein hochgewachsener Farbiger, der gut in die New Yorker Künstlerszene passen würde.
HANS-RÜDIGER:
Ick hier richtick?
Du Chef
ich Kellner
GINO:
Kellner?
Soll ich lachen
GINA:
Das geht schon in Ordnung
(zu HANS-RÜDIGER)
Dann kommen Sie mal mit
HANS-RÜDIGER:
Tutu
Sie können Tutu zu mir sagen
GINA lacht und führt HANS-RÜDIGER ins Lokal.
GINO:
Uns geht es zwar gut
auch wieder nicht
dass wir uns einen Kellner leisten könnten
Wenn es nach mir gegangen wäre
Ich hätte das Lokal nicht vermietet
vor allem nicht an Leute
die keine Anzahlung leisten
Der Bekannte eines Freundes
meines Freundes
vermietet Ruderboote
der nimmt auch eine Kaution
Selbst beim Billard
oder Minigolf
nehmen sie Pfand
oder verlangen Kaution
Aber meine Frau
nimmt nichts
Große Leute
sagt sie
da kommen große Leute
Seit wann zahlen große Leute?
Zudem
sehe ich nur eine Frau
die unaufhörlich telefoniert
und nicht kacken kann
Aber das
werde ich mir mal aus der Nähe anschauen
GINO steigt die Leiter hoch.
GINA und HANS-RÜDIGER verlassen die Küche und treten durch den Hinterausgang nach draußen.
GINA:
Und Sie trauen sich das zu?
Jetzt
wo sie keinen Dialekt mehr sprechen
HANS-RÜDIGER:
Habe schon ganz andere Sachen gemacht
Eigentlich habe ich
schon fast alles gemacht
Selbst den Jim Knopf
im Kindertheater gegeben
Ich bin das zweite Kind von fünfzehn
das verpflichtet
Zudem habe ich noch dreiundzwanzig Onkel und Tanten
die ihrerseits auch viele Kinder haben
GINA (lachend):
Ihr Humor gefällt mir
Ich habe das Buch über Ihren Großvater gelesen
HANS-RÜDIGER:
Na
dann kann ich Ihnen ja nichts vormachen
Bitte verraten Sie mich nicht
Es soll für alle eine Überraschung sein
GINA:
Ich kann Schweigen wie ein Grab
Ich komme aus einem Land
da ist so eine Charaktereigenschaft
überlebenswichtig
Ein Frauenschrei von oben lässt GINA und HANS-RÜDIGER erstarren.
Dann das laute Geräusch einer Bohrmaschine.
HANS-RÜDIGER:
Wollen Sie nicht nachschauen?
GINA:
Nein nein
Ich kann mir denken
was passiert ist
Unsere Toilette hat ein Fenster
und geht zur Straße
HANS-RÜDIGER:
Ich kann auch kochen
Was halten Sie von einer exotischen Suppe?
GINA:
Sie wollen es Italienisch
Einfach
Toskanisch
So wie die Bauern essen
HANS-RÜDIGER:
Einfach und teuer
Dekadent
wie der ganze Kontinent
In letzter Konsequenz
werden wir gezwungen werden
kommunistisch zu sein
Die Natur kennt keinen Gewinn
Wir Menschen
träumen von einer Win Win Situation
Und die Politik
betreibt weiter
ihren menschenverachtenden Kapitalismus
Zu recht
denn die Demokratie
in der jetzigen Form
ist ein Vampir
er lacht
Keine Angst
Ich kann den Neger perfekt geben
Devot
Opportunistisch
GINO steigt die Leiter herunter. In der Hand hält er ein Seil.
Langsam lässt er das Seil herunter. Ein A aus der Neonreklame taucht auf und nähert sich langsam dem Boden.
GINO:
Was sie sich anstellt
Prinzessinnengehabe
Da kommt
was auf uns zu
Dabei
habe ich doch gar nichts gesehen
GINO steigt mit dem Seil wieder die Leiter hinauf.
Aus dem OFF ist ein Auto zu hören. Der Wagen hält, Türen öffnen und schließen sich.
THEOPHIL und MARTIN schreiten heran. Sie tragen lange Kaschmirmäntel, Hüte und dunkle Sonnenbrillen.
MARTIN:
Bis du dir sicher
dass das hier ist?
Sieht mir nicht sehr einladend aus
THEOPHIL:
Es ist mein Geburtstag
und Edeltraud hat etwas organisiert
Ich kenne es gar nicht anders
Statistisch gesehen
sind neunundsechzig Prozent
meiner Geburtstage gut organisiert gewesen
dreizehn Prozent weniger gut
an vier Prozent
möchte ich mich nicht erinnern
und an zwei Komma fünf Prozent
will ich mich nicht erinnern
MARTIN:
Zwei Komma fünf Prozent?
Wann hast du denn einen halben Geburtstag gefeiert?
THEOPHIL:
Nun
meine Frau wollte unbedingt
an meinem Geburtstag heiraten
Zwei Feierlichkeiten an einem Tag
Da muss ich teilen
Korrekterweise wären es übrigens
keine Null Komma fünf Prozent
sondern Null Komma Sieben Fünf Prozent
Denn ich muss ja fairer Weise
die Hochzeit mit meiner Frau teilen
MARTIN:
Dass ich da selbst nicht darauf gekommen bin
Aber an New York
erinnere ich mich zu genau
an deine Geburtstagsfeier in New York
Ausgerechnet der Central Park
musste es sein
Ohne das Auswärtige Amt
säßen wir wahrscheinlich
immer noch im Knast
THEOPHIL:
Du übertreibst
Letztendlich war es ein Kommunikationsproblem
Andere Länder
andere Sitten
Wusstest du eigentlich
dass noch nie so wenig Morde
in New York begangen worden sind
wie heute?
Das ist ein Fünftel von dem
als wir in der Stadt waren
Zweitausendzweihundertzweiundvierzig Morde
Bei einer Acht Millionen Stadt
In Prozente einfach lächerlich
MARTIN:
Das habe ich aber anders in Erinnerung
Eingedroschen haben sie auf uns
Mit den Pferden sind sie auf uns los
weil sie gedacht haben
wir wären irgendwelche
zugekifften
Vietnamveteranen
die durch LSD
auf ihrem Trip
hängen geblieben sind
Nur weil Edeltraud
auf die grandiose Idee gekommen ist
uns in Blumenkinder
Kostüme zu stecken
Da trägt man einmal
Veteranen Armeesachen
und schon wird man verprügelt
er lacht
Dafür habe ich meine erste Negerin gefickt
und du musstest zahlen
Erinnerst du dich
wie du mich gefragt hast
ob sie gestunken hat?
Wie ein Pennäler
hast du mich ausgefragt
Jede Kleinigkeit
wolltest du wissen
THEOPHIL:
Statistisch gesehen
ist mir jede Frau fremd
Wenn es nach meiner Frau geht
Neunundneunzig Prozent
Eine Welt
die mir fremd ist
muss ich mir erfragen
Dass Ernst Jünger
im letzten Drittel
seines Lebens
sich der Insektenforschung
gewidmet hat
erscheint mir zwangsläufig
MARTIN:
Dir fremd
dass ich nicht lache
Vor nicht einer Stunde
hast du dir die Seele
aus dem Leib gebumst
THEOPHIL:
Ich bumse nicht
Wenn überhaupt
lasse ich mich bumsen
Im Grunde
ist es eine Verrichtung
nicht mehr und nicht weniger
Eine Verrichtung
Auf die ich jeder Zeit verzichten kann
Außer an meinem Geburtstag
da hat es Tradition
Seit meiner Volljährigkeit
pflege ich diese Tradition
Zudem muss ich wissen
was eine Millionen Menschen
täglich ins Bordell treibt
Statistisch gesehen
keine unbedeutende Zahl
Vor allem wenn man bedenkt
das nicht alle eine Millionen Besucher
am Besuchertag auch Geburtstag haben
MARTIN:
Eine schöne Bewahrung
Aber müsstest du dann nicht
auch immer dieselbe Dame benutzen
THEOPHIL:
Du hast nichts verstanden
mein Freund
Es geht doch nur um die Verrichtung
Die Damen
spielen da doch
überhaupt keine Rolle
Die Damen
sind nur die Gewürzmischung
in einer Melange aus Erinnerungen
Welcher Tag taugt
da besser
als der eigene Geburtstag
Die Erinnerung
ist der Parameter
Statistisch gesehen
MARTIN (unterbricht):
Ich geh ins Puff
weil ich Bumsen will
So wie ich zum Friseur gehe
um mir die Haare schneiden zu lassen
THEOPHIL:
Ich gehe zum Friseur
um Neues zu erfahren
Die Befindlichkeit der Menschen ertasten
so wie bei einer Vorsorgeuntersuchung
Wie übrigens dreiundsiebzig Prozent
der männlichen Bevölkerung
Bei Frauen
liegt die Prozentzahl
wesentlich höher
MARTIN:
Kleine Hafenrundfahrt was?
er lacht
Im selben Moment fällt der Buchstabe S aus der Neonreklame zu Boden und wirbelt eine Staubwolke auf.
BÜHNE DUNKEL
Diese Website verwendet Cookies. Bitte lesen Sie unsere Datenschutzerklärung für Details.
OK