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Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

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»DIE BEVÖLKERUNG DES LANDES IST DAZU ANGEHALTEN, DEM REISENDEN UND NÄCHTIGENDEN FREMDEN DEN LIEBLICHEREN TEIL IHRES WESENS NICHT VORZUENTHALTEN.«


Aus einem Aufruf der Kärntner Landesregierung im Jahre 1891






Den ganzen Tag sitze ich entweder in meinem Arbeitszimmer, das keines ist, da ich ja nur dasitze, um aus dem Fenster auf meinen selbstgepflanzten Nussbaum zu schauen, oder ich sitze in meinem Stammcafé, wo ich den ganzen Tag in die Zeitung schaue, hineinschaue, sie aber niemals lese. 

Auf dem Weg von meinem Arbeitszimmer zum Café, das nicht einmal fünfhundert Meter entfernt liegt, denke ich manchmal. Wenn ich mich bewege, also die Treppe hinuntersteige und dann den breiten Bürgersteig entlanggehe, denke ich, dass das Leben an mir vorbeiläuft, seit Jahren schon an mir vorbeigelaufen ist. Nur wenn ich gehe, denke ich, dass das Leben an mir vorbeiläuft. Wenn ich sitze, denke ich nicht, folglich läuft auch das Leben nicht an mir vorbei, wenn ich sitze, vergeht nur die Zeit. Die Zeit läuft gnadenlos weiter, gegen mich. Gott sei Dank, wenn ich sitze, denke ich nicht an die Zeit, bin ich gar nicht in der Lage zu denken, da die Sauerstoffzufuhr zu gering und der Alkoholkonsum zu hoch ist. 

Das Nichtdenken eröffnet neue Perspektiven. Einfach nur schauen und ab und zu den Gesprächen am Nebentisch lauschen. Das Einfach-nur-Hinschauen, Zusehen, was andere machen, die Anstrengung anderer, sich über den Tag zu retten, bringt mich über den Tag. Um mehr geht es nicht, als einfach nur über den Tag zu kommen. 


1.


Von der Raststätte aus sehe ich entfernt, auf einer Anhöhe, die Würzburg. Nicht die Tatsache, dass die Würzburg ausgerechnet in Würzburg auf einer Anhöhe steht, verwundert mich. Nein, es ist die Architektur; die Architektur der Würzburg in Würzburg. Zu Unrecht trägt sie den Namen Würzburg. Korrekterweise müsste sie nämlich Würzschloss heißen und nicht Würzburg, denn architektonisch gesehen ist die Würzburg ein Schloss. 

In diesem entscheidenden Moment, wo ich darüber nachdenke, ob es überhaupt Städte gibt, deren Namen mit »Schloss« enden, und ich darauf komme, dass es schlecht bestellt ist um ein Land, in dem selbst schon mit den Städtenamen gelogen, einem etwas vorgegaukelt wird, in diesem entscheidenden Moment, wo ich die Lanze über alle Städte dieser Republik breche, holt mich meine Frau aus meinen Gedanken, indem sie routinemäßig meinen Bauch betatscht wie den eines Teddys. 

Nicht ohne Grund betatscht sie meinen Bauch, der mich müde und träge gemacht hat, nein, ohne Grund hat sie in ihrem Leben noch nie etwas gemacht. Sie schaut in meine Augen, und schon glaubt sie mit hundertprozentiger Gewissheit sagen zu können, was ich denke. Das hat sie von ihrer Mutter, einem Menschen, dem ich von Anfang an misstraut habe. Einem Menschen, der seine Weisheiten aus irgendwelchen Kalendern oder Zeitschriften zusammenklaubt, wie Kinder im Wald Blaubeeren, und sie dann auf alles und jeden zur Anwendung bringt, muss man einfach misstrauen. Eine dieser Weisheiten kommt hier, durch ihr Fräulein Tochter, ihre beste Schülerin, zur Anwendung. »Dem Manne alles, aber auch jeden Wunsch, von den Augen ablesen, ist die Erfüllung jeder gesunden Frau. « 

Ja, dieser Unsinn kommt jetzt zum Tragen, und mein Bauch muss darunter leiden. 

Da ich lange die Würzburg betrachte, glaubt sie, ich möchte dieses Bauwerk besichtigen und tätschelt mir den Bauch. 

»Möchtest du, dass wir noch einen Abstecher zur Würzburg machen? « 

Ihre Frage gibt mir die Genugtuung, mich auch diesmal in ihr nicht getäuscht zu haben. Ihre Mutter ist stärker als ich, da kann ich nichts machen. Von mir lernt sie nichts, wird sie nie etwas lernen. Meine einzige Chance besteht darin - eine fast unlösbare Aufgabe - ihrer Mutter etwas beizubringen. Dann bestünde wenigstens theoretisch die Chance, dass die Mutter ihrer Tochter das Gelernte weitergibt. Aber ich lebe nicht in Luftschlössern, nein im Gegenteil, mich regt es auf, dass die Würzburg Würzburg und nicht Würzschloss heißt. Etwas, worüber ich mit meiner Frau nicht reden kann. Sie besitzt zwar einen Doktortitel, aber den hat der bundesdeutsche Kanzler auch. Blitzschnell kontere ich mit »Nein«, mit der anschließenden Begründung, unseren Zeitplan nicht durcheinander bringen zu wollen. Da Zeitpläne ein wesentlicher Inhalt ihres Lebens sind, eine Tatsache, die wiederum ihrer Mutter zu verdanken ist, habe ich ausnahmsweise gewonnen. 

Sie bezahlt, und wir beide verlassen diesen schrecklichen Ort. 

Wieder auf der Autobahn kann ich es mir nicht verkneifen, noch einmal in den Rückspiegel zu sehen: Auf einer Anhöhe die Würzburg, die eigentlich Würzschloss heißen müsste. 

Ein paar Stunden später - nach dem Zeitplan meiner Frau eine halbe Stunde zu früh - betreten, korrekter ausgedrückt, überfahren wir österreichischen Boden. Ich weiß, betreten oder befahren hört sich besser an. Man betritt oder befährt österreichischen Boden, das hat was, erinnert mich an die erste Mondlandung oder die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Meine Frau und ich überfahren die Grenze, da gibt es nichts zu beschönigen. Ich wäre viel lieber zu Fuß über die Grenze gegangen. Zu Fuß riecht man die andere Luft und spürt den anderen Straßenbelag. Im Auto spürt man nichts, man merkt es nur an der anderen Farbe des Mittelstreifens. Dennoch bin ich ergriffen in Anbetracht der Grenzüberschreitung, der Grenzüberfahrung, lasse mir aber nichts anmerken. Du mein glückliches Österreich! Tu felix Austria! Endlich hast du mich wieder! Ich denke an Haydn und H. C. Artmann. 

Kurz nach der Grenze halten wir: Hallein, die schmutzigste Stadt Österreichs. Die Stadt der Zwischenübernachtungen für Rentner und Jugoslawienfahrer. Meine Phantasie reicht nicht aus, mir vorzustellen, dass man hier Urlaub machen kann, dass es Menschen gibt, die freiwillig zwei oder drei Wochen hier verbringen, angesichts des großen Zellstoffwerkes. Früher roch es in der ganzen Stadt nach Urin und Stall, heute nach Urin, Stall und Zellstoffwerk, von den Abgasen gar nicht zu reden. 

Wir machen halt, da wir – entsprechend dem Plan meiner Frau - hier übernachten werden. Da wir eine halbe Stunde zu früh in Hallein sind, ist Monika sichtlich irritiert. Sie blättert nervös im Fremdenführer herum, aber unter H wie Hallein kann sie keine Eintragung entdecken. Scherzend ich vor, sie solle doch einmal unter B  nachschlagen, B wie Bad Hallein. Da es nun mal nicht in meiner Art liegt, auf andere ironisch wirken zu können, schlägt sie wirklich unter B, B wie Bad Hallein nach. Ihre Suche bleibt natürlich erfolglos. Anschließend, wohl für mich als Strafe gedacht, zerrt sie mich durch die Innenstadt, deren Romantik der einer Autobahnraststätte gleichkommt. Sehnsucht nach der Würzburg kommt in mir auf. Hätten wir vor ein paar Stunden die Würzburg besichtigt, wäre mir dies hier erspart geblieben. Hallein, die schmutzigste Stadt Österreichs. 

Wir übernachten im Hotel zum Wilden Kaiser. Das Wort Hotel bedeutet in Österreich, abgesehen von ein paar Ausnahmen, nur eine Einteilung in eine Preisklasse. In Österreich wird alles, was in punkto Übernachtungen teuer ist, als Hotel bezeichnet. Es gibt in Österreich Fremdenzimmer, Pensionen und Hotels. Das Preiswerteste und qualitativ Beste sind die Fremdenzimmer. Zum Frühstück: knusprige Semmeln, richtige Butter, hausgemachter Schinken und wahlweise selbsteingemachte Marmelade oder Waldhonig. In den Pensionen ist das Frühstück ähnlich, nur schon etwas weniger, dafür kann man hier aber Mittag essen. Nun könnte man folgerichtig denken, in den österreichischen Hotels gäbe es noch weniger zum Frühstück, aber dafür könnte man Mittag- und Abendessen – weit gefehlt. Die Phantasie eines Normalsterblichen reicht nicht aus dafür. Das österreichische Hotelfrühstück kommt einem Kunstwerk gleich. Es nennt sich in der Regel Kontinentalfrühstück und besteht aus mehreren kleinen Plastikobjekten und zwei halbaufgetauten Semmeln, die zäh wie Gummi sind. Auf den kleinen Plastikobjekten sind schöne Bilder aufgemalt, z. B. Johannisbeersträucher, Erdbeeren, ganze Serien von Zeichentrickfiguren oder ganz schlicht eine Kuh. An jedem dieser Objekte ist an der Seite ein kleines Plastikteil angebracht, das bei der ersten Berührung sofort abbricht. Sollte es einem doch noch gelingen, dieses Verpackungswunder zu öffnen, spritzt einem der Inhalt über den frischgereinigten Anzug oder über die frisch gestärkte Bluse. Da meine Frau eine unerfahrene Österreichbesucherin ist, übernachten wir in einem Hotel. Während unserer Stadtbesichtigung halte ich Ausschau nach einem Café, in dem ich am Morgen frühstücken kann. 

Eines haben alle drei Kategorien, also Fremdenzimmer, Pensionen und Hotels gemeinsam: die Betten. Wo man auch hinkommt, ob in der Steiermark, im Burgenland oder sonst wo, die Betten sind überall gleich. Auch unser Doppelbett ist da keine Ausnahme. Wahrscheinlich hat es in Österreich nur einen Bettenhersteller gegeben. Vor dreißig Jahren hat dieser pfiffige Unternehmer, ohne Rücksicht auf gesundheitliche Schäden, all seine Betten verkauft und sich dann aus dem Staub gemacht. 

Meine Frau hat natürlich ein Doppelzimmer erster Kategorie gebucht. Die Zimmer sind alle gleich, mit Ausnahme des kleinen Zettels, der an der Innenseite der Zimmertür hängt und einem noch einmal bestätigt, dass man das teuerste und, wie einem versichert wird, auch das beste Zimmer des Hauses gebucht hat. 

Der erste Reisetag liegt hinter uns. 

Ich liege im Bett und beobachte Monika, die beim Tisch sitzt und ihre Checkliste durchgeht. Ab und zu macht sie kleine Häkchen. Es hat schon etwas Rührendes an sich, wie sie so am Tisch sitzt und ihr verplantes Leben noch einmal durchgeht. Für mich ein beruhigendes Gefühl, mich um nichts kümmern zu müssen. Mit ihren Anfang vierzig hat sie einen hervorragenden Körper. Die 25-Watt-Birne, stärkere habe ich in österreichischen Hotels bisher nicht entdecken können, wirf ein warmes Licht auf ihr Nachthemd - würde ich sie, meine Frau, nicht so genau kennen, ich fände es direkt erotisch. Sie schließt ihr Buch und beginnt die allabendliche Jagd nach Kleintieren jeglicher Art. Ein Tick von ihr. Sie hat Angst vor Spinnen, Mücken, Nachtfaltern etc., und jedes Mal, wenn sie woanders übernachtet, schaut sie erst einmal genau in allen Ecken nach, ob sich nicht irgendwo ein Nachtfalter oder ähnliches Getier versteckt hat. Dann bin ich an der Reihe. Da meine Frau keinem Tier etwas zuleide tun kann, muss ich aufstehen, meinen Schuh oder eine Zeitung nehmen und die arme Kreatur töten. Es hat überhaupt keinen Sinn, vor ihr einzuschlafen. Sie würde mich ohne Skrupel wecken und mir den Befehl zu töten geben. Meistens bin ich zu faul, um aufzustehen. Ich nehme einfach meinen Schuh oder eine Zeitung und werfe ihn oder sie nach dem Untier. Nur ein blutiger Fleck bleibt zurück auf der Tapete. Dann schaut mich Monika geängstigt an, als ob ich gerade eine fünfköpfige Familie ausgerottet hätte. 

Ihre Spinnenangst ist krankhaft. Zu Hause in unserem Schlafzimmer riecht es immer nach Paral, so stark, dass ich mich die ersten Monate unserer Ehe jede Nacht habe übergeben müssen. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt, die Spinnen auch. 

Endlich wird das Licht gelöscht. 

Wir beide liegen schweigend nebeneinander. Sie zur Seite gedreht, ich auf dem Rücken, zwischen uns die Besucherritze, das einzig Positive an Österreichs Betten. Ich werde warten, bis sie eingeschlafen ist, dann aufstehen, ans Fenster gehen, eine Zigarette anzünden, in die Nacht hineinschauen und an mein kleines Dorf am Berg denken: Weißberg. 


Das kleine Dorf Weißberg, eingebettet zwischen zwei Bergen. Weißberg, eine Ansiedlung ohne jegliche Bedeutung, selbst für Österreich. In der Mitte des Dorfes eine Kreuzung, darüber eine orangeleuchtende, blinkende Laterne. Vieles habe ich vergessen. Die Straßenlaterne, das ewige Aufblinken, Tag wie Nacht, ist mir in Erinnerung geblieben. Dieses orange blinkende Zeichen, ein Garant für die Existenz des Dorfes; für mich, ein Leuchtturm meiner Sehnsüchte, aber das ist schon lange her. 

Großbauer, Großgrundbesitzer, Erbbauer wider Willen, fast schon eine Bernhardsche Figur. Dreimonatiges Oberhaupt einer Gruppe, die nie die meine war. Nicht die Tatsache, dass noch so viele Nazis dort leben, oder die Unterdrückung der slowenischen Minderheit, das alles ist es nicht gewesen, war nicht der Grund für mein Scheitern. Vor der Macht habe ich Angst gehabt. Immer und immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen, ist mir eine Qual gewesen. Die Unfähigkeit, Macht auszuüben, ist die wirkliche Ursache für mein plötzliches Verschwinden gewesen, für meine Verweigerung, ein vorbestimmtes Leben zu führen. Ein Piefke besitzt österreichischen Boden, Grund und Boden, nur weil der Großvater es in seinem Testament so bestimmt hat. Verschenkt habe ich alles an die rechtmäßigen Besitzer: die kleinen Bauern, die das Land von je her bestellt haben. Kurz danach haben sie es Stück für Stück verkauft, sich mit dem neuen BMW oder Mercedes zu Tode gefahren, sich tot gesoffen oder alles beim Tarock verspielt. Verhasst und ausgelacht habe ich das Dorf verlassen. 

Macht und daraus resultierend Heuchelei und Korruption bestimmen das österreichische Leben. Die österreichische Gemütlichkeit, die berühmte österreichische Gemütlichkeit funktioniert nur im Schatten der Macht. Irgendwie ist es auch in Deutschland nicht anders. Deutsche Manager, Aufsichtsratsvorsitzende können des Nachts so gemütlich sein, dass es direkt rührend ist. Aber der Unterschied besteht darin, dass man in Deutschland nicht mit der Gemütlichkeit kokettiert.

Weißberg steht für Gemütlichkeit. Gemütlichkeit nach einem langen, harten Arbeitstag auf den Feldern oder in den Wäldern. Weißberg steht für mich für den ersten Rausch, die erste Frau und für die erste Zigarette danach. Weißberg ist mehr ein Gefühl, das man mit Worten nicht ausdrücken kann. 


Ich stehe am Fenster, rauche heimlich meine Zigarette und denke an Weißberg, an den Sternenhimmel über Weißberg. Ab und zu drehe ich mich zu meiner schlafenden Frau um: eine zufrieden schlafende Frau. Eine Frau, die alles erreicht und mich geschafft hat. Ohne jegliche Anstrengung ihrerseits gehöre ich ihr, bin Teil ihres Inventars geworden, steuerrechtlich absetzbar. Ich will nicht undankbar sein, immerhin verdanke ich ihr meine ökonomische Existenz. 

Ich werfe die Zigarette in die österreichische Dunkelheit und lege mich zu ihr ins Bett. Das Bettlaken ist kalt im Gegensatz zu ihrer warmen Hand, die wie selbstverständlich am Rand meines Kopfkissens liegt. Geborgen werde ich einschlafen. 

Hallein, du dreckigste Stadt Österreichs, in dir werde ich einschlafen. Ich denke noch einmal an Haydn und H. C. Artmann, und ein kleines bisschen an Gustav Mahler und Peter Altenberg. 

Die Wärme meiner neben mir liegenden Frau beruhigt mich. Ihr Urvertrauen, mich zu haben, mich zu besitzen, schenkt mir Schlaf. Den Schlaf eines Mitte-Dreißigjährigen mit Bierbauch, der müde und träge macht, untermalt von einem etwas schüchternen Schnarchen. Tu felix Austria! Heimatland ist betreten. 


2. 

Ich spüre den feuchten Mund meiner Frau in meinem Gesicht; ein neuer Tag hat begonnen.

Jeden Morgen werde ich so geweckt, und jeden Morgen hasse ich sie dafür ein bisschen mehr. Liebkosungen auf nüchternen Magen, einen faden Geschmack im Mund, sind einfach pervers. Meine Frau hält mich, da ich meinen Kopf abwende und ihren nassen Küssen auszuweichen versuche, für einen Morgenmuffel. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben, wenn möglich den ganzen Tag. Sie dagegen braucht Unterhaltung, von Anfang an. 

Sie telefoniert mit der Rezeption, fragt nach, ob man nicht doch im Zimmer das Frühstück einnehmen kann. Eine Frage, die sie am gestrigen Abend auch schon gestellt hat und die hinreichend, nämlich mit einem kommentarlosen Nein, beantwortet wurde. Aber sie braucht Unterhaltung, Aktivität, und findet immer wieder ein neues Opfer. Und sie gibt nicht so schnell auf. Der Rezeptionschef des Wilden Kaisers wird sich bestimmt noch eine Weile an meine Frau erinnern können. In Anbetracht des bevorstehenden Frühstücks, des österreichischen gastronomischen Kunstwerks mit Namen Kontinentalfrühstück, vergönne ich es ihm auch. 

Am Telefon ist meine Frau einfach Weltspitze, fast unschlagbar, gäbe es da nicht noch ihre Mutter, von der sie diese frauentypische Kampfsportart gelernt hat. 


Das Vergnügen, mit ihrer Mutter zu telefonieren, habe ich immer an meinem Geburtstag. Jedes Jahr, so gegen sieben Uhr morgens, in manchen Jahren auch etwas früher, ruft sie mich an, wünscht mir alles Gute zum Geburtstag, fragt kurz, wie es mir geht, und legt dann ohne Erbarmen los. Sie erzählt mir, ohne auf die von ihr zuvor gestellten Fragen eine Antwort abzuwarten, ihre ganze Leidensgeschichte: Blut im Urin, Knoten in der Brust, unkontrollierter Ausfluss etc. Sie kann gut erzählen, die Mutter meiner Frau, sehr bildreich, sehr plastisch. Das Resultat ihrer Anrufe ist meist, dass mir hinterher schlecht ist und ich mich nicht mehr auf die Toilette traue, weil ich befürchte, ich könnte mich bei der Untersuchung meines eigenen Stuhlganges nach Blut oder Ähnlichem erwischen. Da ich ein eher praktisch veranlagter Mensch und vor allem lernfähig bin, habe ich mir genau die Stellen gemerkt, an denen ich mit einem knappen Ja zu antworten habe. In der Zwischenzeit dusche und rasiere ich mich oder mache das Frühstück. Ein einziges Mal ist es mir bisher gelungen, auch noch den Müllkübel wegzubringen - es ist mein schönster Geburtstag gewesen. 

An den Stellen, wo ich mit einem knappen Ja zu antworten habe, geht es ausnahmslos um die Beantwortung der Frage, ob ich denn auch schon diese oder jene Krankheit habe. Mit Nein zu antworten ist sinnlos, da hat man bei ihr überhaupt keine Chance. Also antworte ich immer mit Ja. 

So gegen neun oder halbzehn Uhr morgens reiche ich den Hörer weiter an meine Frau, die aus unerklärlichen Gründen regelmäßig an meinem Geburtstag frei hat. Dann beginnt die schönste Zeit: 

Ich kann endlich in Ruhe, und vor allem allein, ohne ständiges Reden, frühstücken. Gegen Mittag kommt meine Frau mit der Bemerkung Schade, dass Mutter nicht bei uns wohnt aus dem Schlafzimmer. 


Meine Frau telefoniert immer noch mit der Rezeption. Die von ihr geäußerten Sonderwünsche, das Frühstück betreffend, werden stur abgelehnt, entweder Kontinental oder gar nichts. Und schon gar nicht im Zimmer. Ich lasse sie weiter telefonieren und nutze die Gelegenheit, als erster das Bad in Beschlag zu nehmen. 

Das österreichische Hotelbadezimmer kann für einen Nichtösterreichkenner zur tödlichen Falle werden. Die Frotteematten, die vor der Duschkabine und dem Waschbecken liegen und die eigentlich der Sicherheit dienen sollen, sind meist nass und glitschig, da diese von dem Reinigungspersonal als Aufnehmer benutzt werden. Rutscht man nicht aus, so ist man sich wenigstens einer Pilzinfektion sicher. Die zweite Gefahr befindet sich in der Duschkabine selber, die sich von außen leicht, aber von innen ohne fremde Hilfe nicht öffnen lässt. Das wäre alles halb so schlimm, aber in Verbindung mit den beiden harmlos aussehenden Wasserhähnen (blau ist meist warm, rot meist kalt) kann dies zur tödlichen Falle werden. Man dreht die Hähne auf, lauwarmes Wasser kommt aus der verstopften Duschdüse, man dreht heißes Wasser auf, also den blauen Knopf, und schon hat man sich verbrüht. Klemmt dann noch die Schiebetür, ist man nicht mehr zu retten. 

In österreichischen Hotels dusche ich immer kalt und lasse die Duschschiebetür einen Spalt offen. Um einer weiteren Gefahr aus dem Wege zu gehen, rasiere ich mich nur nass. Es befindet sich zwar ein Stromanschluss über dem Waschbecken, der ist aber so schlecht isoliert, dass man beim Einstecken einen kräftigen Stromschlag bekommt. 

Ich verlasse ohne Blessuren gut gelaunt das Bad. 

Meine Frau telefoniert immer noch mit der Rezeption. Mit der Ausrede, eine deutsche Zeitung kaufen zu wollen, flüchte ich vor dem Kontinentalfrühstück des Wilden Kaisers und lasse mich in diesem abgelegenen Café nieder, das meine Frau bestimmt nicht finden wird. 

Ich genieße die frischen Hörnchen und Semmeln, den duftenden Kaffee, die Butter und die Marmelade, einige Scheiben Käse und Schinken. Ab und zu denke ich an Monika und ihr Kontinentalfrühstück. Das Café passt so gar nicht in das halleinsche Stadtbild. Es ist sauber und gepflegt. In Deutschland wäre die Einrichtung im Stil der fünfziger Jahre ein Renner, hier aber bin ich der einzige Gast und genieße die Ruhe. Ich liebe österreichische Cafés, in ihnen könnte ich den ganzen Tag verbringen. In diesen Lokalitäten wird man toleriert, stundenlang könnte man hier bei einer Melange oder einem kleinen Braunen verweilen, ohne dass die Bedienung misstrauisch zu einem herüber schielt, was in Deutschland unmöglich wäre. In Deutschland müsste man, mit der Bemerkung, dass dies kein Wartesaal sei, das Lokal verlassen. Hier aber kann man ungestört seinen Kaffee trinken und seine Gedanken schweifen lassen. 

Auf der anderen Straßenseite sehe ich meine Frau. Sie macht den Eindruck eines gehetzten Tieres. Da ich es nicht kleiner habe, hinterlege ich einen Fünfhundertschillingschein, die Besitzerin wird sich freuen, und verschwinde durch die Hintertür. 

Auf dem Hotelparkplatz bin ich der erste und komme so noch in den Genuss einer Zigarette. 


Zwischen den Stühlen

Dieser Roman wurde mit einem Arbeitsstipendiums des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

Alle Rechte bei Johannes Wierz 

1.

Meine Frau hat sich von mir getrennt, besser gesagt, ich muss unsere gemeinsame Wohnung verlassen.

Anfangs habe ich ihrer Bemerkung, auf der Stelle die Wohnung zu verlassen, keine Bedeutung geschenkt. Wie oft schon hat sie mir gedroht, mir Unverschämtheiten, Beleidigungen an den Kopf geworfen? Diesmal scheint mir der Grund ohnehin belanglos. Was habe ich denn schon getan? 

Eine Erzählung habe ich geschrieben, eine winzige, unbedeutende Erzählung. 

Sicher, meine Frau ist eine der Hauptpersonen. Aber wäre da Stolz nicht besser angebracht als Zorn? Außerdem ist meine Frau für ihr manchmal unüberlegtes Verhalten hinlänglich bekannt, wenn nicht sogar berüchtigt. Temperament nennen es die Verliebten und können davon gar nicht genug bekommen, was naturgemäß ein riesengroßer Fehler ist, denn wie schnell wird aus Liebe Hass.

Ich weiß zwar nicht ob meine Frau mich hasst, auf jeden Fall hat sie es diesmal mit ihrer Drohung, ich solle auf der Stelle die Wohnung verlassen, ernst gemeint. Zwar hat sie das auf der Stelle, eine Stunde nach unserem Disput, wieder zurückgenommen und daraus einen Monat gemacht, aber gerade das hätte mich stutzig machen müssen.

Aber zurück zu meiner winzigen, bedeutungslosen Erzählung. Nicht die Tatsache, dass ich meine Frau als einen barocken Typ skizziert, ihr die unmöglichsten Macken auf den Leib geschrieben habe, ist die Ursache für die plötzliche Kündigung von Tisch und Bett. Nein, ich habe sie am Schluss dieser winzigen und bedeutungslosen Erzählung einfach Sterben lassen, wobei ich mich naturgemäß nicht ausnehme. Ja, auch ich sterbe am Ende der Geschichte, zwar durch die Hand meiner Frau, aber es ist nur ein Unfall, keine böse Absicht habe ich meiner Frau unterstellt. Aber genau das tut sie. Sie wirft mir vor, dass ich sie in aller Öffentlichkeit als Mörderin hinstelle.

Dabei gibt es die Öffentlichkeit ja gar nicht. Niemand hat die Geschichte je gelesen. Sicher, ein paar Bekannten habe ich sie zum Lesen gegeben. Aber jeder weiß doch, wie das ist. Dankend nehmen solche so genannten Bekannten das Manuskript, für das man sich nächtelang krumm gelegt hat, für das man monatelang gelebt hat, an und versprechen, es, Neugier vorheuchelnd, alsbald zu lesen.

Ein interessanter Titel, sagen die so genannten guten Bekannten, blättern das Manuskript durch wie ein Telefonbuch und legen es zur Seite. Auf dem Schreibtisch bleibt es vielleicht, wenn es hoch kommt, zwei Tage, dann wandert es auf die Fensterbank. Auf der Titelseite sind deutlich zwei  große braune Kaffeetassenränder zu erkennen. Mittwochs wenn die Haushälterin kommt und in Gedanken verloren, auf der Fensterbank die Blumen gießt, ist es mit der Titelseite vorbei, vielmehr noch, bis Seite zehn ist nichts mehr zu machen. Die Seiten kleben aneinander. Am Abend entdeckt der Hausherr, vielleicht auch erst ein paar Tage später, auf der Heizung mein gewelltes Manuskript. Diesen Anblick kann er naturgemäß nicht ertragen und mein Manuskript wandert in den Schrank, dabei ist es egal um welche Gattung Schrank es sich dabei handelt. Hauptsache weit weg, bloß nicht den Anblick ertragen. 

Ich, der Verfasser, werde vertröstet. 

»Du, ich glaube, ich muss das noch einmal lesen. Du weißt doch, was momentan bei mir los ist und so zwischendurch, nein, nein, du wirklich, das ist nicht meine Art, du weißt doch, wie ich deine Art zu schreiben, schätze.«

Wenn meine Frau behauptet, ich hätte sie in aller Öffentlichkeit als Mörderin hingestellt, hat sie einfach unrecht, - mal abgesehen davon, dass unser gemeinsames Dahinscheiden aus einem Autounfall herrührt. Das Schlimme ist nur, wenn meine Frau im Unrecht ist, dreht sie erst so richtig auf. Wenn sie dann auch noch weiß, dass sie im Unrecht ist, bleibt sie stur.

»Auf der Stelle verlässt du unsere Wohnung«, hat sie gesagt. Seltsam dabei ist, sie hat es ganz ruhig gesagt. Da ist überhaupt keine Erregung in ihrer Stimme, auch funkelten ihre Augen nicht.

»Auf der Stelle verlässt du meine Wohnung!« 

Es ist ja ihre Wohnung. In all den Jahren unserer Zweisamkeit habe ich das total vergessen.

Vor acht Jahren bin ich ja zu ihr nach Hamburg gezogen. Ich bin ja derjenige gewesen, der alles aufgeben, der alle Verbindungen abgebrochen hat. Wobei ich Fairerweise zugeben muss, dass es mir zu dem damaligen Zeitpunkt nicht schwer gefallen ist, alles aufzugeben. Ich habe damals einfach meinen kleinen alten Koffer gepackt, meiner lausigen Einzimmerbehausung adieu gesagt und bin nach Hamburg gefahren.


Eine Woche später habe ich endlich begriffen, dass sie es ernst meint. Eine Erkenntnis, die ich den freundlichen Handwerkern zu verdanken habe, die in meinem Arbeitszimmer gerade mit dem Ausmessen meines Zimmers beschäftigt sind, als ich von einem ausgiebigen Spaziergang der Außenalster entlang die Wohnungstür aufschließe. Ich lade alle auf ein Bier ein, wo sie mir die Modernisierungspläne meiner Frau erklärten, in denen ich nicht mehr vorkomme. 

Wenn diese freundlichen und trinkfesten Herren mit meinem Arbeitszimmer, das teilweise auch mein Schlafzimmer ist, fertig sind, wird nichts, aber auch gar nichts mehr, in dieser Wohnung an mich erinnern. Meine Frau streicht mich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus ihrem Leben.

In dieser Zeit stehe ich oft im Flur, luge durch den kleinen Spalt der Tür ins Wohnzimmer, wo meine Frau sitzt und Musik hört und kämpfe mit mir, hineinzugehen, mich zu entschuldigen und ihr einen neuen Anfang zu versprechen. 

Aber wie oft haben wir es schon versucht mit dem neuen Anfang? Im Grunde besteht unsere ganze Beziehung aus neuen Anfängen. Aber ist ein Anfang nicht immer neu? Liegt vielleicht in dieser unrichtigen Bezeichnung das Scheitern unserer Beziehung?

Ich trockne im Flur die Teller ab, sehe durch den Spalt, wie meine Frau ihre Füße hochlegt und gehe nicht hinein. 

Wie jeden Abend räume ich das Geschirr in den Schrank, lege das Handtuch über die Heizung und gehe in mein Arbeitszimmer, das mir, nachdem die freundlichen und trinkfesten Handwerker gegangen sind, fremd vorkommt. Wenn ein Zimmer eine Seele hat, dann würde meines mich gerade auslachen, denke ich. Dabei wird sich mein Arbeitszimmer noch nach mir zurücksehnen. 

Nach den Plänen meiner Frau wird man den Teppichboden herausreißen und Parkettboden verlegen. Decke und Wände werden gestrichen, nicht zu vergessen die Tür, die Fenster und die Fußleisten. Mit der Ruhe wird es dann vorbei sein. 

Ja, mein Zimmer wird sich noch nach mir zurücksehnen. Acht Jahre Ruhe und Behaglichkeit, das kann auch ein Zimmer nicht einfach so abstreifen. Aus meinem Zimmer soll das Esszimmer werden. Eine Tatsache, die mich am meisten kränkt. 

Die Vorstellung meine so genannten guten Bekannten werden hier ein und ausgehen, sich den Bauch voll schlagen und sich mit einem Zahnstocher im Mund, nach meinem Verbleib erkundigen, treibt mir die Zornesröte ins Gesicht. 

»Übrigens, ich habe da noch ein Manuskript von Deinem Ex, soll ich es wegschmeißen?«

Drei Wochen habe ich jetzt also noch Zeit meine Habseligkeiten zu packen. Nachts liege ich auf meinem Bett und denke nach. Mir fällt beispielsweise eines Nachts die Geschichte eines Handwerkers ein, der, nachdem man ihn um seinen wohlverdienten Lohn gebracht, in das Mauerwerk vor dem Verputzen noch ein rohes Ei eingebaut hat. Da sich der Gestank erst nach ein paar Wochen so richtig entwickelt, ist es für den Hausherren unmöglich, nachdem die ganze Wohnung verputzt und tapeziert worden ist, herauszufinden woher der Geruch stammt. Vorstellen kann ich es mir schon, aber dabei belasse ich es denn auch. 

Nein, ich will mich von meiner Frau, wenn es denn sein soll und muss, in aller Freundschaft trennen. 

Da meine Frau den ganzen Tag arbeiten geht, habe ich genug Zeit, meine Sachen zu ordnen. Eine ganze Menge ist da in den letzten acht Jahren zusammengekommen. Allein drei große Regale voller Bücher stehen in meinem Arbeitszimmer. 

»Ein Schriftsteller braucht Bücher«, hat meine Frau gesagt. 

Sicher, sie hat es immer gut gemeint, wenn sie Taschen voller Bücher angeschleppt hat. Ihr Auswahlkriterium ist immer ein sehr einfaches gewesen. Sie hat sich einfach an den Bestsellerlisten orientiert. Diese Art von Büchern stehen meist an der Kasse der großen Buchläden, schön nach Platzierungen sortiert. Nur die wenigsten dieser Bücher habe ich gelesen. Was beispielsweise soll ich mit drei Bänden Das magische Auge anfangen?

Eines jedoch ist klar, mit meinem kleinen Koffer werde ich diesmal nicht auskommen. 

»Entschuldige, meine Liebe, aber weißt du, wo mein kleiner Koffer abgeblieben ist?«

Der ist vor vier oder fünf Jahren auf den Müll gelandet. Da wo er hingehört!

Selbstverständlich übernehme ich alle Kosten, die mit Deinem Umzug zusammenhängen.« 

Schweigend verlasse ich das Wohnzimmer, gehe in mein Arbeitszimmer, setze mich an meinen Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Ohne ein einziges Blatt an seinen Ästen steht er da, mein Nussbaum. Das Ärgernis für die ganze Nachbarschaft und meine Freude. Was wird er wohl ohne mich machen? 

Wenn wir dieses Jahr wieder so einen heißen Sommer bekommen, sieht es nicht gut aus für meinen treuen Freund. Die Nachbarn werden sich freuen, wenn er eingeht. Mehrmals habe ich unter seinem kleinen Stamm, direkt an der Wurzel, Streusalz gefunden. Ob ich doch noch mit meiner Frau reden soll?

Nein, auch ich habe meinen Stolz. Wenn sie mich unbedingt loswerden will, dann bitte. Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Den ganzen Haushalt habe ich für uns beide geschmissen. Da wird sie sich noch umschauen.

Dennoch bin ich am nächsten Tag in das Computer- und Kopiergeschäft in meiner Nachbarschaft gegangen und habe um Kartons nachgefragt. Der Besitzer, ein Ägypter, verspricht mir, ab sofort Kartons für mich zu sammeln. Dabei macht er ein trauriges Gesicht. Denn irgendwie, obwohl wir nie viel miteinander geredet haben, sind wir Freunde geworden. Oft, wenn mir am Nachmittag langweilig gewesen ist, bin ich zu ihm hinübergegangen und wir haben ein paar Runden Backgammon gespielt.


Zwei Wochen vor Ablauf des Ultimatums stapeln sich schon eine ganze Menge Kartons in meinem Arbeitszimmer, was nach unserem Disput, wegen dieser lächerlichen winzigen bedeutungslosen Erzählung, endgültig auch mein Schlafzimmer geworden ist. 

Ich bin gerade dabei den ersten Karton mit meinen Habseligkeiten voll zu stopfen, da klopft es an meine Tür.

»Darf ich hereinkommen?«, höre ich die Stimme meiner Frau fragen.

Zusammen mit einer hochgewachsenen Afrikanerin betrat sie mein Arbeitszimmer. Eine wirklich hübsche Person, die sich später als meine Nachfolgerin in punkto Haushaltsführung herausstellen wird. In den nächsten zwei Wochen soll sie mir über die Schultern schauen, damit der Übergang auch nahtlos klappt.

Ich bin wirklich ein Gemütsmensch, aber was zuviel ist, ist zuviel. Erst als meine Frau mir erklärt, dass sie sich nicht scheiden lassen will. Und sie selbstverständlich für meinen Unterhalt aufkommt, beruhige ich mich langsam. Ich habe nichts dagegen, dass sie mich weiter steuerlich absetzte.

»Und was ist, wenn du wieder heiraten möchtest?«

»Glaub mir, ich habe die Schnauze voll von Männern. Und was ich brauche, nehme ich mir.«

Weitere Fragen zu stellen, halte ich für unnötig.

Sie meint es also wirklich ernst. 

Im Grunde kann ich es ihr ja auch nicht verübeln. 

Ich bin nun mal für eine Partnerschaft einfach nicht geschaffen. Den höchsten Grad an Glückseligkeit erreiche ich nur, wenn ich allein bin. Stundenlang kann ich beispielsweise allein spazieren gehen. Zusammen mit meiner Frau mache ich nach zehn Minuten schlapp, vor allem dann, wenn sie sich auch noch bei mir einhakt oder gar den Arm um meine Schultern legt. 

Auch habe ich immer das Gefühl, überhaupt nichts wahrzunehmen, wenn jemand neben mir hergeht. Aber immerhin ist es acht Jahre lang gut gegangen. 

Meine Frau ist ihrem Beruf nachgegangen und in meiner Zeit so manche Sprosse auf der Karriereleiter nach oben gestiegen. Ich habe derweil am Schreibtisch gesessen und versucht, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Lange Spaziergänge habe ich unternommen, unter dem Arm Päckchen mit Manuskripten, die ich in den verschiedensten Postämtern von Hamburg aufgegeben habe, in der Hoffnung alsbald von der großen Literaturwelt wahrgenommen zu werden. Acht Jahre sind jetzt vorbei und es ist immer noch nichts passiert. Wäre mein Arbeitszimmer nicht so voll gestopft mit Sachen, die ich jetzt versuche in die Kartons zu stopfen, ich hätte schwören können, gestern erst in Hamburg angekommen zu sein. 

Erst wenn ein Schlussstrich gezogen wird, merkt man, wie schnell die Zeit vergangen ist. 


Eine Woche dauert es, bis ich mein Arbeitszimmer in die Kartons verstaut habe.

Da stehe ich nun in dem Raum, der mir acht Jahre lang Heimat gewesen ist, und starre auf die leeren Regale. Das Aussortieren habe ich schon nach einem halben Tag aufgegeben. Reine Zeitverschwendung sich zu überlegen, was man mitnimmt und was nicht. Meine Frau wird ohnehin alles wegschmeißen. Ein Karton mehr oder weniger, darauf kommt es jetzt wirklich nicht mehr an.


»Weißt du eigentlich schon, wo du hinziehen willst?«, fragt mich meine Frau, die mich zum Abendessen in ein gutes Speiserestaurant eingeladen hat.

Über diese Frage habe ich wirklich noch nicht nachgedacht. Ich habe sie einfach verdrängt. Wahrscheinlich werde ich zurück an den Rhein ziehen, da habe ich noch ein paar Freunde, besser gesagt einen Freund. 

Acht Jahre Hamburg und keinen einzigen Menschen kennen gelernt, der es wert wäre, da zu bleiben. Das muss mir erst einmal wer nachmachen. Wie schon gesagt, ich bin halt gerne allein. Aber wenn ich ehrlich bin, bin ich schon erstaunt darüber, dass ich in den ganzen acht Jahren niemanden kennen gelernt habe.

Die so genannten guten Bekannten meiner Frau, die mit den Jahren auch zwangsläufig zu meinen so genannten guten Bekannten geworden sind, kann man allesamt vergessen: In der Milch der Oberflächlichkeit schwimmendes Gesindel, Aasgeier meiner Zeit. 

Anfangs habe ich ja noch gedacht, als meine Frau mich als ihren Mann bei ihren so genannten guten Bekannten vorstellt hat, ich könne diese wenigstens zu Studienzwecken nutzen, den einen oder anderen so genannten guten Bekannten sogar in eine meiner kleinen unbedeutenden Erzählungen einbauen. Aber dieses Hamburger Gesindel hat mich sprachlos gemacht. Sobald ich mit ihm zusammengekommen bin, habe ich meine Sprache verloren. Ich bin nur da gesessen, habe auf die geschwätzigen Münder geschaut und bin fassungslos gewesen. Kein Thema ist ihnen fremd gewesen, auf alles haben sie eine Antwort parat. Da ist zwischen den Menügängen analysiert und seziert worden. Alles in einem rasenden Tempo, dass mir meist erst tief in der Nacht klar geworden ist, was für ein Blödsinn aus den fettigen Mündern der so genannten guten Bekannten gesprudelt ist. Wenn ich in meiner Sprachlosigkeit, nach langem Suchen, endlich wieder Wörter gefunden gehabt habe, ist die Versammlung der so genannten guten Bekannten längst aufgelöst gewesen.

»Du hättest ruhig auch mal was sagen können«, hat meine Frau meine Unfähigkeit in aller Regelmäßigkeit kommentiert, eine abwertende Handbewegung gemacht und mich einfach allein zurück gelassen.

Die so genannten guten Bekannten werden auch von meinem Auszug gewusst haben, bevor meine Frau überhaupt die Möglichkeit erwogen hat, mir den Stuhl vor die Tür zu setzen, denke ich beim Betrachten des leeren Arbeitszimmers.

Wieder das Gefühl von Heimat. Immer dann Heimat, wenn ich gehen muss. Das Gefühl zwischen den Stühlen zu sitzen, wird es in einer Woche nicht mehr geben. In einer Woche wird man mir den Stuhl vor die Tür stellen und wenn ich nicht aufpasse, werde ich ganz schön fallen.


Eine Woche Zeit, und ich habe immer noch keine neue Wohnung, kein Ziel, keine Perspektive auf etwas.

Im Grunde ist es ja egal, was ich mache, nur ein Stuhl muss vorhanden sein, ein neuer stabiler Stuhl. Etwas eben, was da steht, schon immer da gestanden hat. Ein Stuhl mit vier Beinen, viermal Bodenkontakt. Mit dem man wippen kann, ohne umzukippen, wo man sich dazwischen setzen kann, ohne auf den kalten Boden zu fallen. Einen Stuhl, meinen Kärntner Stuhl werde ich immer mit mir herumschleppen. Ohne meinen Kärntner Stuhl wäre wahrscheinlich auch gar nicht so viel passiert, hätte ich längst einen Beruf, würde nur auf einem Stuhl sitzen und funktionieren. Der Kärntner Stuhl aber, dem ich das Sitzen zwischen den Stühlen zu verdanken habe, lässt mich nicht zur Ruhe kommen, bestärkt mich in meinem Tun, gibt mir Sicherheit, dass es noch einen weiteren Stuhl gibt, - zwar andersartig -, auf den ich mich setzen, vielleicht aber auch nur abstützen kann, um eben zwischen den Stühlen zu sitzen. Eine Woche Zeit, um einen zweiten Stuhl zu finden.

Ein deutscher Stuhl sollte es schon sein, wo doch schon mein Kärntner Stuhl wackelt, immer gewackelt hat. Hat ja auch schon mein Großvater drauf gesessen, wie Generationen vor ihm. Der Kärntner Stuhl wackelt halt, würde gerne nach rechts fallen, fällt aber nicht, wird nie nach rechts fallen, auch wenn andere es behaupten oder es sogar angeblich immer schon gewusst haben, wie beispielsweise die Hamburger so genannten guten Bekannten.

Eine Woche Zeit, um einen neuen Stuhl zu finden. Gerade genug Zeit, um auf Altbewährtes zurückzugreifen.

Wenn schon der Hamburger Stuhl, und daran ist es ja letztlich gescheitert, so fest auf dem Boden gestanden ist, muss jetzt ein wackeliger her, um wieder in Balance zu kommen.


Ich liege auf dem Bett, starre abwechselnd auf die Umzugskartons, die eigentlich Computer- und Fotokopierpapierkartons sind, und die Decke, die mir lieb geworden war, deren Schattengebilde, hervorgerufen durch Autoscheinwerfer, die für einen kurzen Moment mein Zimmer erhellen, mich zu den ungeheuerlichsten Phantasien angeregt haben. Nordpolforscher, Sternentaucher, Hochseilartist in den Höhen des Unmöglichen.

Neben mir liegt das kleine Büchlein mit den Adressen, aber da steht nicht mehr viel drin. Die meisten Adressen haben ihre Gültigkeit verloren. Da ist geheiratet, umgezogen worden, um sich beruflich zu verbessern. Nein, da ist nicht sehr viel, was sich da in meiner handgeschriebenen Datenbank befindet. Die meisten Adressen durchgestrichen, auch gibt es Fragezeichen hinter den Namen oder neue Telefonnummern, die wiederum auch schon von mir durchgestrichen worden sind. 

So reißen eben Kontakte ab. Vor allem, wo es anscheinend Mode geworden ist, eine Geheimnummer zu beantragen.

»Kein Anschluss unter dieser Nummer!«

»Bitte rufen Sie die Auskunft an!«

Das Adressbüchlein hat nicht viel Auswahl hinsichtlich eines neuen Stuhls.

Eine Frau kann ich in meiner momentanen Situation auf keinen Fall anrufen. Frauen sind zwar in meinem bisherigen Leben oft die letzte Rettung gewesen, leider aber auch Sackgasse bis hin zum Martyrium. 

Es ist schlimm genug, nach acht Jahren gemeinsamer Wohnung, nach immerhin acht Jahren gemeinsamen Lebens, feststellen zu müssen, dass man sich eben getäuscht, sich permanent belogen hat, es würde sich um eine gemeinsame Wohnung handeln. Wo doch alle Welt weiß, vor allem die so genannten guten Bekannten es längst wissen, es immer schon gewusst haben, dass die gemeinsame Wohnung, immer nur die meiner Frau gewesen ist.

Ich bin damals vor acht Jahren zu ihr gezogen, habe ein Zimmer, das sie im Vorfeld hat leer räumen lassen, zur Verfügung, zur freien Nutzung, sozusagen, zugeteilt bekommen.

In dem Moment, als ich das Zimmer, das mir meine Frau zur Verfügung gestellt hat, als mein Zimmer angenommen hatte, hier sogar angefangen habe zu schreiben, - selbst der für meine Frau und mich tödlich ausgegangene Autounfall ist hier entstanden -, ist es vorbei mit dem Hamburger Stuhl.

Einbildung, Selbstüberschätzung, ja Unsinn das Ganze, je von meinem Arbeitszimmer, meinem Raum gesprochen zu haben.

Es ist ein auf Zeit mir zugeteilter Raum gewesen.

»Ich bin ein Baum«, habe ich zu meiner Frau gesagt, zu einem Zeitpunkt, wo alles längst entschieden ist, die Handwerker bestellt, die Tapete und das Parkett ausgesucht worden sind.

»Du und ein Baum«, hat sie gesagt und dabei angefangen, zu lachen. 

Es ist kein Lachen aus Freude. Ein verächtliches Lachen ist das. Ein Lachen, das ich seit acht Jahren kenne und das mir immer noch durch Mark und Bein geht.

Ein monsterhaftes Lachen ist das, das die Gesichtszüge meiner Frau bis zur Unkenntlichkeit entstellt.


2.

Nachdem ich stundenlang auf meinem Bett gelegen, das naturgemäß auch nur eine Leihgabe meiner Frau ist, an die Decke gestarrt und vor meinem geistigen Auge das Adressbüchlein durchblättert habe, ist nur ein Name übrig geblieben.

Maron, heißt der Freund. Zwar haben wir uns in den letzten acht Jahren nicht all zu häufig gesehen, aber wenn wir uns getroffen haben, entweder in Hamburg, Paris, wo er für ein Jahr eine Dozentenstelle übernommen gehabt hat oder Bonn, der Ort in dem er jetzt lebt, sind es immer wieder unvergessene Tage gewesen. Sicher, wir haben uns in den über fünfzehn Jahren unserer Freundschaft oft gestritten, wobei, und darauf lege ich wert, wir uns nie um Positionen gestritten haben. Nie ist es uns in den Sinn gekommen, Macht zu demonstrieren.

Nächtelang diskutiert, Standpunkte erörtert, Irrungen, Wirrungen, Bier oder Wein getrunken, am Schluss immer einen Calvados, gebrüllt, getobt, in den Armen gelegen oder auf dem Boden, volltrunken. Auf jeden Fall sind wir immer als Freunde auseinander gegangen, haben uns mit einem Lächeln voneinander verabschiedet.

Maron ist Musiker, das erklärt vielleicht vieles. In den allerseltensten Fällen sind Musiker, naturgemäß nur die E-Musiker in Schlägereien verwickelt. In der ganzen Weltgeschichte kenne ich keinen Diktator, der Musiker gewesen, mit Ausnahme von Nero, der gleichzeitig ja auch Lyriker gewesen ist. Experimentelle Musik, experimentelle Lyrik in Verbindung mit Größenwahn kann nur zur Katastrophe führen. E-Musiker haben in der Regel ja auch gar keine Zeit, sich um die Außenwelt zu kümmern. Da ist das Theater, die Oper, das Konzerthaus, wo sich viele E-Musiker treffen, wo Intrigen gesponnen, Leidenswege gegangen werden, wo vernichtet wird.

Maron ist der einzige, den ich anrufen werde, anrufen kann.

Tag und Nacht kann ich mit Maron reden, wenn nicht mit ihm, so zumindest mit seinem Anrufbeantworter.

»Hier spricht Maron, aber nicht wirklich«, meldet sich die Anrufbeantwortermaschine.

Maron hat immer noch dieselbe überzeugende Telefonstimme.

Maron hätte lieber ins Finanzgeschäft einsteigen sollen. Den ganzen Tag Zahnärzte kontaktieren, um ihnen ihr Schwarzgeld aus der Tasche zu ziehen.

Würde Maron seine Fähigkeiten richtig einsetzen, spätestens nach einer halben Stunde hätte er von den Zahnärzten Kontovollmachten.

Es ist nicht so, dass ich meine Telefonstimme nicht für erotisch, für überzeugend halte, aber ich telefoniere nun mal ungern. Früher, vor acht Jahren, als ich meine Frau noch nicht gekannt habe, ja da, habe ich noch gern telefoniert. Aber acht Jahre als unfreiwilliger Mithörer der Telefonate meiner Frau mit ihren unsäglichen so genannten guten Bekannten, haben mich verändert.

Unangenehm einfach einen warmen Telefonhörer in den Händen halten zu müssen. Das Parfüm meiner Frau ist längst in die Ohrmuschel eingeätzt, sowie das unsägliche, unsinnige, total unwichtige Geschwätz der so genannten guten Bekannten meiner Frau. Immer fettig der Hörer, warm und glitschig der ganze Apparat. 

Außerdem, mit wem hätte ich schon telefonieren sollen?

Meine Frau hat immer stundenlang telefoniert, dabei ist es ihr immer vollkommen egal gewesen, mit wem, wieso und warum. Hauptsache sie kann reden, reden, reden. 

Selbst von meinem Arbeitszimmer aus, bei geschlossenen Türen, wenn ich die ohne Atem zu holende Stimme meiner Frau auf dem Flur vernehme, glaube ich die Atemgeräusche ihrer Zuhörer zu hören, die viel lieber ein Ja oder ein Ja, aber, in den Hörer geschrieen hätten.

Wenn sie dann nach drei, vier Stunden den Telefonhörer auf die Gabel geschmissen hat, wahrscheinlich nur aus Konditionsmangel, hat sie sich zuvor bei ihren Zuhörern mit den Worten verabschiedet:

»Bis gleich!«

»Ja, dann bis gleich!«

Wie oft habe ich mir das anhören müssen, obwohl die Tür meines Arbeitszimmers geschlossen gewesen ist.

»Bis gleich!«

»Ja, dann bis gleich!«

Sicher bin auch ich manchmal an der Tür gestanden, das Ohr an das Holz gepresst, selbst auf einen Anruf hoffend.

Einzelhaft, Kontaktsperre, kein schalldichter Stahlbetonbau, sondern eine fünf Zimmer sanierte Hamburger Altbauwohnung, ist acht Jahre mein Zuhause gewesen. Kaum jemand hat mich in den ganzen acht Jahren angerufen, ist durchgekommen, hat die Ausdauer sich gegen ein stundenlanges Tut, Tut, Tut, durchzusetzen gehabt und es immer und immer wieder zu versuchen.

Ich möchte nicht darüber nachdenken, wer alles versucht hat, die Anstrengung unternommen hat, durchzukommen.

Acht Jahre isoliert von der Außenwelt, durch das ewige Besetztzeichen habe ich mir eine Zeitlang vorgestellt, dass mir die besten Kontakte, Geschäfte durch die Lappen gegangen sind. Was naturgemäß ein vollkommener Blödsinn gewesen ist.

Fast gleichzeitig, also dann, wenn meine Frau den Hörer auf die Gabel geschmissen hat, habe ich in sekundenschnelle die Tür von meinem Arbeitszimmer aufgerissen und habe so meiner Frau in die Augen schauen können.

Triumphierende Blicke sind mir da auf der Wohnungsdiele entgegen geworfen worden, acht Jahre lang immer derselbe triumphierende Blick.

Nach dem gemeinsamen Essen mit unseren so genannten guten Bekannten, dient das Telefon meiner Frau dazu, sich bei unseren so genannten guten Bekannten, für mein Benehmen zu entschuldigen. Einen nach dem anderen wird von ihr angerufen, damit sie sich für mein Verhalten entschuldigen kann. Dabei habe ich den ganzen Abend überhaupt nichts getan. Die einzige Bemerkung, die ich an solchen Abenden von mir gegeben habe, ist ein: Ich weiß nicht gewesen.

Als die Hamburger so genannten guten Bekannten für mich noch Fremde gewesen sind, also am Anfang der Beziehung zu meiner Frau, habe ich des Öfteren das Wort an mich gerissen, was gar nicht so einfach gewesen ist. Ich habe die Dinge so geschildert, wie ich sie gesehen habe.

In der ganzen Zeit, in all den acht Jahren, habe ich Dinge nie kommen sehen, nie etwas geahnt. Ich habe die Dinge immer nur so beschrieben, wie ich sie in dem Augenblick gesehen habe.

Anfangs ratlos und bestürzt, haben die so genannten guten Bekannten meine Sicht der Dinge zur Kenntnis genommen. Dies ist wahrscheinlich nur der angeborenen Hanseatischen Höflichkeit zuzuschreiben.

Später aber, vielleicht nach einem Jahr, hat man auf meine Sicht der Dinge nur noch mit Ablehnung reagiert. Versteinert die Gesichter jedes einzelnen, wütend darüber, dass ich die Dinge sehe, die sie nur voraussehen können. 

Es kann natürlich sein, dass es für einen wie mich, der eben nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht, sondern sich zwischen zwei Stühlen befindet, sozusagen in der Luft hängt, ein Zustand, der unheimlich auf die Oberarme geht, da man sich mit der flachen Hand jeweils auf einem Stuhl abstützt, wobei die Beine, parallel zum Boden, ausgestreckt sind, unmöglich ist, die Dinge eben nur zu sehen, wie man sie empfindet.

Die Hamburger so genannten guten Bekannten wippen lieber mit ihren Stühlen oder lehnen sich zurück, spülen sich mit teurem Cognac die Mundhöhlen aus, lassen letzte Käsereste, die Speiseröhre hinunter gleiten und lauschen ihren immer in derselben Tonlage befindlichen Stimmen.

Nicht eine Minute kann ich dieselbe Tonlage halten, wenn ich über die Sicht der Dinge rede. Allein die Tatsache, dass ich eine eigene Meinung und somit Stellung bezogen habe, hat meine Zuhörer irritiert und ausreichend, dass sie sich ablehnend mir gegenüber verhalten haben.

»Ja, sicher hast du Recht, aber... «

»Bedenke die Kehrseite der Medaille!«

»Alles hat zwei Seiten!«

Das war ihre Art über die Dinge zu sprechen.

Gott sei Dank bin ich jetzt von alledem erlöst, muss mir keine Theorien mehr anhören, wie beispielsweise Kriege entstehen oder warum so viele Menschen in der Dritten und Vierten Welt zugrunde gehen.

»Ein Menschenleben ist in diesen Regionen nicht viel wert. Die ganze Sache muss man philosophisch angehen.«

»Und was ist mit dem Balkan?«

»Wesentlich komplizierter, aber natürlich historisch erklärbar.«

»Wie kann man einen Völkermord historisch erklären?«

»Nun historisch vielleicht nicht, aber... «

»Wie kann man einen VÖLKERMORD erklären?«

Schweigen setzt ein und ich spüre die bösen Blicke meiner Frau. Ich weiß genau, in ein oder zwei Stunden wird sie wieder stundenlang das Telefon blockieren, um sich bei ihren so genannten guten Bekannten für mein Verhalten, für meine Fragen, zu entschuldigen.

Einmal hat allein die Frage, ob es nicht nur eine Welt gäbe, das gemeinsame 

Essen mit den so genannten guten Bekannten schon bei der Suppe zum Platzen gebracht.

Gott sei Dank ist das jetzt vorbei.

Mit Maron dem Musiker werde ich demnächst essen, kochen werden wir gemeinsam und uns dabei unterhalten. Beim Salat putzen, beim Geflügel ausnehmen, werden wir Positionen beziehen. Ratlos werden wir sein und es auch bleiben und uns dennoch zuprosten.

Die Hamburger so genannten guten Bekannten werden auch weiterhin das blutige Fleisch sezieren, es in kleine Stücke schneiden und dabei gleichzeitig die Weltgeschichte, die Weltentwicklung sezieren, sie interpretieren, so als ob es sich hierbei um ein Theaterstück handelt, was man soeben im Hamburger Schauspielhaus oder im Thalia Theater gesehen hat.


»Warum liest du uns nicht einfach was vor?«

An dem Abend, als die gut genährten so genannten guten Bekannten sich in unserem Speisezimmer satt in den großen Sesseln zurückgelehnt haben, hat meine Frau mir diese Frage gestellt.


Heute, jetzt, wo ich auf dem Bett liege und mich entschieden habe nach Bonn, zu meinem Freund Maron zu ziehen, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich nicht auch das Ende aus meiner kleinen unbedeutenden Erzählung vorgelesen habe.

Das Ende von meiner Frau und mir, dieser blödsinnige Autounfall, der zweifelsohne auf das Konto meiner Frau gegangen ist.

Ist vielleicht dieser Abend ausschlaggebend gewesen, dass meine Frau, die ich immerhin mal gern gehabt habe, es jetzt aber, in Anbetracht der gepackten Kartons nicht zugeben will, mich so plötzlich, so unerwartet und konsequent vor die Tür setzt?

Meine Frau trennt sich ja nicht von mir, sie schmeißt mich einfach hinaus, streicht mich, lässt mich aus ihrem Leben streichen. Wenn erst einmal die Handwerker in meinem Arbeitszimmer gewesen sind, wird nichts mehr von mir übrig bleiben.

Vielleicht lasse ich die alten Fahrräder im Heizungskeller. Jahre ist es her, dass ich sie habe reparieren wollen. Immer wieder verschoben, wie  so viele andere Dinge auch. Alle Dinge vor mir her geschoben, ohne dass es hinter mir leerer geworden wäre, ganz im Gegenteil.

In meinem Rücken steht eine schlecht aufgeschichtete Wand, die nicht mehr viel benötigt, um zu kippen. Wenn es erst bröckelt, wird sich die Lawine in Bewegung setzen. Dann wird es kein Halten mehr geben. Wenn sich die schlecht aufgeschichtete Wand in Bewegung setzt und auf meine vor mir her geschobenen Dinge trifft, werde ich dazwischen sein und es wird nicht viel übrig bleiben von mir.


In dem Moment, als ich die Vorwahl von Bonn gewählt habe, klopft es an meine Tür.

Ohne eine Antwort abzuwarten, betritt meine Frau mein Arbeitszimmer.

»Du hast also das Telefon! Ich habe es schon überall gesucht!«

»Wenn du es nicht hast, kann ich es nur haben, oder wohnt hier schon eine dritte Person? «

Nach dir wird es hier außer mir keine Person mehr geben, das verspreche ich dir!«

Du hast mich also schon zur Person erklärt?«

Mach dich doch nicht lächerlich, ich will nur das Telefon!«

Ohne Telefon, keine neue Wohnung!«

»Andere kaufen sich eine Zeitung oder schalten einen Makler ein. Wen um alles in der Welt willst du um diese Zeit noch anrufen?«

»Maron rufe ich an, wen denn sonst«, sage ich, lege aber, in dem Moment, als ich das sage, den Hörer zurück auf die Gabel.

»Maron«, lacht meine Frau, ich hätte es mir denken können. Du bist ein ewiger Kreislauf!«

»Ich bin ein Baum, nicht mehr und nicht weniger! Ein Baum, den man nicht so einfach verpflanzen kann! Der neue Standort muss gut überlegt sein!«

»Willst du mir drohen? Sollte das jetzt gerade eine Drohung sein?«

Tatarmandl

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

Alle Rechte bei Johannes Wierz 




Das Leben bleibt auf der Strecke und darüber saust der Zug, der dir die Blumen bringt.

1.


»Ist das Gerechtigkeit? Ihr Schweine! Ihre Schweine!«

Ich klappe den Laptop zu und verlasse den Gerichtssaal.

»Zwei Jahre nur wegen Schwarzfahren, die spinnen doch«, sagt eine ältere Dame und eine

größere Rentnergruppe pflichtet ihr bei.

»Das ist Siegerjustiz! Willkür!«

Über das große Treppenhaus verl1.

»Ist das Gerechtigkeit? Ihr Schweine! Ihre Schweine!«

Ich klappe den Laptop zu und verlasse den Gerichtssaal.

»Zwei Jahre nur wegen Schwarzfahren, die spinnen doch«, sagt eine ältere Dame und eine größere Rentnergruppe pflichtet ihr bei. 

»Das ist Siegerjustiz! Willkür!«

Über das große Treppenhaus verlasse ich die Kathedrale der Justiz. 

»Und? Was wirst du schreiben?«, fragt Fritzi, die Tochter meiner Nachbarin, die bei mir ein Praktikum macht, damit das Kindergeld nicht gestrichen wird. Fritzi hat mit 1,2 das Abitur bestanden.

»In Berlin«, wie sie sagt, »in Berlin ist es eine eins. In Bayern aber höchstens eine drei.«

»Scheiß auf die Bayern«, sage ich beim Hinausgehen.

»Aber du kommst doch daher«, fragend schaut mich Fritzi mit großen Augen an. Während sie weitergeht, blendet mich die Sonne, die durch das große Fenster des Justizgebäudes scheint.

»Ich will auf die Filmhochschule nach München und Mama sagt, dass dein Bruder...«

»Ja«, unterbreche ich sie, »ich habe schon verstanden. Aber ich habe seit Jahren keinen Kontakt zu diesem Geiergesicht.«

Was so nicht stimmt. Aber manchmal bedarf es einfach einer Notlüge.

Keine zwei Wochen ist es her, da hat ein großer orangefarbener Umschlag in meinem Briefkasten gesteckt. Anhand der Farbe habe ich sofort gewusst, dass dieser, einem Päckchen ähnliche Brief, nichts Gutes bedeuten würde.  

Von Hamburg über Bonn bin ich vor Jahren in Berlin gelandet. Bis vor zwei Wochen habe ich tatsächlich geglaubt, alle Spuren verwischt zu haben. 

»Verstehe ich nicht, wie man zu seinem eigenen Bruder keinen Kontakt haben kann«, Fritzi macht ein mitleidiges Gesicht, so als hätte sie am Straßenrand einen fast verhungerten Igel gefunden. Dabei kennt sie noch nicht einmal ihren leiblichen Vater, sondern nur Kerle, die halbjährlich bei ihrer Mutter ein und wieder ausziehen. Ich bin wahrscheinlich, der erste konstante Mann in ihrem Leben. Darum hängt sie so an mir, wie ein Kaugummi an der Sohle.

»Mein Bruder ist zurzeit nicht in München«, sage ich und überspringe einen dampfenden Hundehaufen. 

»Ich dachte, du hättest keinen Kontakt«, Fritzi lässt einfach nicht locker.

»In irgendeiner Illustrierten stand was«, lüge ich schon zum zweiten Mal. Das Gerichtsgebäude hat keinen guten Einfluss auf mich, scheint mir.

Warum dieses wirklich liebe Mädchen zum Film will, ist mir vollkommen schleierhaft. Warum will sie nicht Tierärztin oder Meeresforscherin werden? 

Vielleicht ist ja der leibliche Vater ein Schauspieler oder Regisseur gewesen. 

»Hier in Berlin wimmelt es doch von Kreativen und Filmleuten«, sage ich und bin stolz darauf, dass auch mein Unterbewusstsein beides voneinander trennen kann.

»Hier laufen doch nur selbstverliebte Arschlöcher herum«, erwidert Fritzi und stampft fest mit einem Stiefel auf, dass die Hundescheiße bis auf die Straße spritzt. 

Fritzi will weg. Ich kann sie ja verstehen. Aber warum ausgerechnet nach München, und dann auch noch zu meinem Bruder. Das erste, was mein Bruder mit ihr machen wird, ist das, was er mit allen das erste Mal macht. Er vergewaltigt sie. Er vergewaltigt sie mit seinen Geschichten, seinen Anekdoten über das Filmgeschäft. Er schmeißt nur so um sich mit seinen Geschichtchen und Namen. Natürlich sind es die Bundesfilmpreisträger, die Oscargewinner und die Lolaabräumer, die seinen erstunkenen und erlogenen Geschichten Glanz verleihen sollen. Nein, mein Bruder kann keine Geschichten erzählen, nein das kann er nicht. Das wissen auch die Frauen, seine Opfer und geben sich bereitwillig hin, bloß um keine Geschichten mehr hören zu müssen. 

»Ich lade dich auf einen Kaffee ein«, höre ich mich sagen und wünsche mir, dass es mir gelingt, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen.

»Aber nur, wenn ich aussuchen darf wo!« 

Manchmal ist Fritzi wirklich noch ein Kind.

Wir überqueren die Straße wie die Hasen und müssen lachen. Warum will dieses hübsche und nette Mädchen ausgerechnet zum Film?

Zwei Tage hat der orangefarbene Umschlag auf meinem Küchentisch gelegen, der auch gleichzeitig als mein Schreibtisch, meine Zeitungsablage, mein Archiv und meine Müllvorsortierung dient.

Ein in Österreich abgestempelter Brief mit dem Absender meines Bruders beziehungsweise der Filmfirma seiner Frau aus München, muss doch jeden intelligenten Menschen misstrauisch machen. 

Zehn Jahre, ach was, mehr als zwanzig Jahre habe ich von meinem Bruder nichts mehr gehört. Und dann dieser Umschlag. Dick und prall hat er auf meinem Tisch zwischen leeren Fischdosen, Tellern, Kaffeetassen, Joghurtbechern und anderem Unrat gelegen.

Mein Bruder schreibt mir einen Brief, da kann nichts Gutes drin stehen. Mein Bruder hat mir noch nie einen Brief geschrieben. Das Leben neigt sich dem Ende zu und die Bilanz ist, dass mein Bruder es nicht geschafft hat, sich mir schriftlich mitzuteilen. 

Meinem Zahnarzt ist es letztendlich zu verdanken, dass ich überhaupt weiß, was mein Bruder so treibt. Im Wartezimmer liegen die bunten Blätter eingepackt in trister Pappe eines Lesezirkels. Zwar hat es mein Bruder bisher nicht auf die Titelseiten eines dieser bunten Blätter geschafft, aber unter Vermischtes oder der Party der Woche ist er immer anzutreffen. Manchmal ist er gleichzeitig auf mehreren Veranstaltungen, die angeblich am gleichen Tag, aber auf verschiedenen Kontinenten stattgefunden haben, zu sehen. Immer ein Glas und eine Zigarette in der Hand. Natürlich dürfen der weiße Anzug und der Panamahut nicht fehlen, sind sie doch letztendlich sein Markenzeichen. Beim Betrachten der Bilder meines Bruders, die ihn immer heiter zeigen, obwohl er als Kind ein ernster, fast bigotter Mensch gewesen ist, überkommt mich ein schrecklicher Verdacht. Er hat sich verkauft. Nicht an die Film- oder Fernsehindustrie, nein an Photoshop oder ein anderes Computerprogramm. Will man auf einem Bild etwas retuschieren oder Farbe ins Spiel bringen, drückt man einfach eine Tastenkombination und mein Bruder erscheint, samt Zigarette und Cocktailglas.

Durch meinen Zahnarzt bin ich im Bilde: Mein Bruder ist immer noch verheiratet, kocht im Promilokal gegen den Hunger der Welt, fährt die Streif ohne Stöcke herunter und spendet den Erlös der Gaudi für einen Verein für Hirngeschädigte. Letzte Weihnachten hat er in einem Bordell Baudelaire gelesen. Die Einnahmen sind an einen Verein zur Verhütung von Gebärmutterkrebs gegangen. Na wunderbar. Mein Bruder, der mit mindestens tausend Frauen ungeschützt Verkehr gehabt hat. 

Fritzi hat ausgerechnet den Hungerkünstler ausgesucht, um mit mir einen Kaffee zu trinken.

Ausgerechnet zum Hungerkünstler, der einem umtriebigen Wiener gehört, muss mich Fritzi entführen. 

Mein Gott, wie umtriebig alle sind. Mit nichts, außer ein paar Rezepten, ist der Kellner eines Hütteldorfer Beisls nach Berlin gekommen und hat seine Millionen gemacht. Der Wiener Dialekt und die österreichische Sprache sind es, die alle blind gemacht haben, erinnert doch die Sprache, die Melodie der Sprache, an den letzten Skiurlaub oder den ersten Sex in einer Scheune.

Im Hungerkünstler tragen sie alle Uniform und geben den Österreicher. Den unterwürfigen, demütigen Österreicher. Dabei ist es der Österreicher, der längst die Oberhand hat. Ein paar wenige von ihnen haben ausgereicht, die einst so mächtige Bayerische Landesbank nicht nur ins Schwanken zu bringen, sondern zu vernichten. 

Zur gleichen Zeit, als ein bayerischer Finanzminister in einem Bierzelt seine Wahrheit ans Wahlvolk herausgeschrieen hat, dass die Sozis nicht mit Geld umgehen können, haben sich ganze Armadas an Luxusjachten an der Dalmatinischen Küste in Luft aufgelöst. Dafür hat jeder achtzehnjährige Kärntner von seiner Landesregierung einen Tausender zur Begrüßung bekommen, - bezahlt aus den Töpfen der Bayerischen Landesbank.

Hungerkünstler, der Österreicher kann wenigstens mit der deutschen Sprache umgehen. Spielerisch bedient er sich der Ironie. Während auf Berliner Kleinkunstbühnen der Prolet kabarettistische Erfolge feiert, ist es in Wien ein Kaiser mit Hofmarschall und Gefolge, der für Furore sorgt.

Lustlos rühre ich in einer Melange, die in Wirklichkeit ein Milchkaffee ist, herum und starre auf die farbigen Kellner in ihren K. und K. Phantasieuniformen. Für einen kurzen Moment denke ich darüber nach, ob Österreich Kolonien gehabt hat.

»Weißt du, in München hätte ich einfach mehr Möglichkeiten«, sagt Fritzi und holt mich zurück in die Wirklichkeit. »Vielleicht kann ich ja bei deinem Bruder wohnen. Siebzehn Zimmer soll seine Stadtvilla haben.«

»Noch einmal zum Mitschreiben. Ich habe keinen Kontakt zu meinem Bruder, seit Jahren nicht, ach was sage ich, seit Jahrzehnten nicht!« 

Ich schlage so laut mit der flachen Hand auf den Tisch, dass augenblicklich alle Gäste des Hungerkünstlers verstummen. Denn naturgemäß gibt es im Hungerkünstler keine Musik, wegen der Authentizität.

»Und der Brief? Der riesige Umschlag, der fast eine Woche in deinem Briefkasten gesteckt hat?« Fritzi macht nicht den Eindruck, aufgeben zu wollen.

Was bereue ich es, ihn doch aufgemacht zu haben.

Schon beim Öffnen des Umschlags habe ich den Piepton gehört. Dieses elektronisches Geräusch, der Auslöser einer Zeitbombe, die letztendlich immer getickt hat.

»Denk an den Artikel«, sage ich in Funktion des Mentors zu meiner Volontärin.

»Habe ich längst fertig. War doch klar, dass bei dem Richter die Sache so ausgeht. Wusstest du eigentlich, dass die Tochter des Staatsanwalts drogensüchtig ist und die Frau des Richters mit einer Frau ihr Glück versucht.«

Nein, das habe ich nicht gewusst. Aber es ist mir im Grunde auch egal. Wenn ich Tag für Tag in der Kathedrale der Gerechtigkeit die glatten Stufen emporsteigen muss, ist das Verzweiflung genug. So weit habe ich es also gebracht. Die Fünfzig gerade erreicht, sitze ich in den Reihen der Volontäre und Studenten, was den anderen Zeitungsredaktionen gar nicht recht ist. Raube ich doch allein durch meine physische Anwesenheit einer kostenlos arbeitenden Generation die letzte Illusion. 

»Also, was ist jetzt mit deinem Bruder?«, bohrt Fritzi weiter. Sie wird es mal weit bringen.

Vielleicht sollte ich meinen Bruder doch anrufen. Aber dann müsste ich ihm ja auch gratulieren, weil er aus dem so genannten Drecksnest wie er unser Heimatdorf immer bezeichnet, eine international anerkannte Künstlerkolonie gemacht hat.

Mein Bruder, der in der Lage ist selbst aus Kuhscheiße, Gold zu machen.

Ja, als ich den orange leuchtenden Umschlag, den es so nur in Österreich zu kaufen gibt, geöffnet habe, ist ein Rauschen in meine Ohren gestiegen. Ein Rauschen und ein Toben haben in meinem Kopf geherrscht, dass mir regelrecht schwindelig geworden ist. Hochglanzprospekte, kleine wie große sind auf den Küchenboden gepurzelt und mit ihnen die Menschen, die das kleine Dorf in Kärnten einmal ausgemacht haben. 

Jetzt im Nachhinein kommt es mir vor, als ob ich beim Öffnen des Umschlags ein leises Zischen vernommen habe, wie wenn man eine Kaffeetüte öffnet, die vakuum- verschlossen ist.

Beim Herausfallen der Hochglanzprospekte habe ich die Gesichter gesehen, habe Musik gehört, das Lied vom Schönen Wald, ein Lachen und ein Weinen. Und dann hat ein Rauschen und Toben von mir Besitz ergriffen. 

Als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich auf dem Küchenboden gelegen und mir die Augen gerieben. Da wo einst der stattliche Stettner Hof gestanden, signalisiert eine kindlich gemalte Sonne auf einem ausgeblichenen Bretterzaun den Sonnenhof. Das große Wallener Anwesen schmückt ein Regenbogen. Beim Harather ist es ein Schmetterling und beim Lachner die Picasso Möwe. Das ganze Dorf im Besitz von Außerirdischen. 

Auf allen Vieren bin ich zum Küchenfenster gekrabbelt. Luft, Luft, Luft.

Ein Presslufthammer, der vor dem Haus die Straße aufreißt, hat mich zurück in die Gegenwart geholt und mich in die Verfassung versetzt, den Begleitbrief zu lesen. 

Im Briefkopf schon das Konterfei meines Bruders. Einem Foto, das bei einem seiner letzten Erfolge entstanden sein muss. Eine internationale Produktion, die auch schon wieder über fünfzehn Jahre her ist. Hat er danach überhaupt noch einen Film gedreht? Und was ist mit dieser russischen Balletttänzerin, die er mit Kokain versorgt haben soll?

Nein, ich mische mich nicht in ein in das Leben meines 

Bruders. Es ist mir egal wie er lebt. Aber warum lässt er mich nicht in Ruhe? 


Ich bestelle im Hungerkünstler einen Schnaps. Seit meiner Ankunft in Berlin, die ja auch schon wieder mehr als fünfzehn Jahre zurück liegt, habe ich keinen Schnaps getrunken. Im Grunde habe ich immer einen großen Bogen um harte Drogen gemacht. Während mein Bruder sein ganzes Erbe in harte Drogen wie Tequila und Kokain umgesetzt hat, bin ich brav ins Wirtshaus geschlichen und habe Bier getrunken und vielleicht mal etwas Gras geraucht.

Nein, mit der Phantasie habe ich keine Probleme, ganz im Gegenteil. Die sprudelt aus mir heraus, immer noch, trotz oder wegen meines hohen Alters.

»Den Drachen in mir, den gibt es immer noch, er schlängelt sich durch Klagenfurt und kommt nicht zur Ruhe«, so mein Bruder in einer der Hochglanzbroschüren. 

Nichts erinnert mehr an mein Dorf. Nein, der Hochglanz strahlt Optimismus aus.

Hochglanz, die Patina der Banken und Versicherungen. Der Rahmen meines Bruders.

»Mein lieber Bruder«, so beginnt der zweite Brief , den ich erst einmal weggelegt habe.

Mein lieber Bruder, mein lieber Bruder, was soll das denn heißen?

»Nein, auf so etwas habe ich überhaupt keine Böcke.«

»Was ist?«, fragt Fritzi. 

Verdammt, ich habe mal wieder laut gedacht.

»Warum ich? Warum Film? Warum mein Bruder? Warum München?«, ich bin laut geworden.

Das Besteck wird beiseite gelegt und das Mündchen abgeputzt. Die Gäste des Hungerkünstlers sind zu einem sensationslüsternen Publikum mutiert.

»Weil dein Bruder Bundesfilmpreisträger ist«, zischt Fritzi und fügt leise hinzu, dass seine Frau oder Freundin Filmproduzentin sei.

»Meinetwegen kann er mit der Bundeskanzlerin verheiratet sein. So eine Null nimmt doch niemand ernst!« Warum soll ich leise sein? In dieser Lokalität kennt mich ohnehin niemand.

»Dann gib mir wenigstens seine Handynummer«, Fritzis Augen verwandeln sich zu gefährlichen Schlitzen.

»Handy, dass ich nicht lache. Mein Bruder hat nicht einmal einen Computer. Für ihn ist das Teufelszeug. So zumindest Gala oder Bunte!« 

Bis in die Küche wird man mich nicht nur gehört, sondern auch verstanden haben. Jetzt wird für die Galerie gespielt. Vielleicht bringt ja die schmatzende Masse ein Mädchen zur Vernunft, das am Anfang seines Lebens steht.

»Natürlich hat dein Bruder ein Handy. Jeder Mensch, ach was, jedes Lebewesen hat ein Handy.« 

Niemand kann sich so schön auf die Lippen beißen wie Fritzi.

»Entschuldigen Sie bitte. Könnte ich vielleicht ein Autogramm von ihrem Bruder haben?«, eine ältere Dame, deren Hut mit einem ganzen Büschel an Fasanenfedern, sie als Nichtberlinerin ausweist, hat sich einfach an unseren Tisch gesetzt.

»Wie bitte?«, frage ich entgeistert zurück. Denn ich sehe meinem Bruder auch nicht im Entferntesten ähnlich. Alle in unserer Familie haben blaue Augen. Mit Ausnahme meines Bruders, der mit braunen Augen und wie ein Affe behaart auf 

die Welt gekommen ist.

»Den hat uns einer ins Nest gelegt«, soll anfangs der Großvater beim Anblick des Säuglings gesagt haben. Auch soll er bereit gewesen sein, so mein betrunkener Vater, bei einem der unsäglichen Familienfeste, die immer in einem Besäufnis geendet sind, den Neugeborenen in einem Kartoffelsack in der Gurk zu entsorgen. So wie er es immer mit den neugeborenen Katzen getan hat. Erst als ich Jahre später auf die Welt gekommen bin, hat sich der Großvater meines Bruders angenommen. Mein Anblick soll ihn zuerst stumm und dann unheimlich wütend gemacht haben. Böse Zungen im Dorf haben eine zeitlang behauptet, dass er den Tierarzt angewiesen hat, das Sperma meines Vaters auf seine Tauglichkeit zu untersuchen.

»Sie haben doch bestimmt ein Autogramm Ihres Bruders dabei«, die ältere Dame in ihrem folkloristischen Jagdkostüm lässt nicht locker.

»Sie kennen weder mich und schon gar nicht meinen Bruder!« 

Natürlich entgeht mir nicht, wie Fritzi versucht, ihre Freude zu unterdrücken.

Immerhin bin ich auf dem besten Weg sie von ihrer Schnapsidee zum Film zu wollen, abzubringen. 

»Aber mein Herr«, sagt das in die Jahre gekommene Flintenweib, »natürlich kenne ich Sie. Sie sind Maler. Ihr Herr Bruder hat doch extra für Sie ein Lied geschrieben.«

»Mein Bruder schreibt keine Lieder. Er komponiert wenn überhaupt Cocktails. Die er dann allesamt nach seinen Abenteuern benennt«, erwidere ich und freue mich, dass Fritzi ganz fasziniert von meinem Tun ist.

»Gestatten Tarantula«, ein Herr mit Gamsbart an der Hutkrempe hat sich zu uns an den Tisch gesellt. »Unsinn«, berichtigt er sich selber, »Spinne, Dr. Spinne, Wirtschaftsprüfer, staatlich Vereidigter sowieso!«

Fast schon bereue ich es, meinen Mund so weit aufgerissen zu haben, nur um ein Mädchen wieder auf den rechten Weg zu bringen. 

»Natürlich sind sie der Bruder, genau die gleiche Stimme«, die rüstige Dame scheint sich sicher.

»Aber ja, Sie müssen wissen, wir fahren mindestens zwei Mal im Jahr nach Kärnten. Meine Frau hat dort eine Jagd.« 

Dr. Spinne zieht den Hut. 

»Eigentlich waren wir ja schon im Gehen begriffen, aber dann meinte meine Frau, dass Sie sich sicherlich freuen würden, wenn wir Ihnen kurz Grüße für Ihren Bruder ausrichten.«

»Sie wollen also allen Ernstes behaupten, dass Sie meinen Bruder kennen?« Langsam entglitt mir die Sache.

»Aber natürlich«, erwidert die passionierte Jägerin, »wer kennt Ihren Bruder nicht? Über all die langen Jahre, man kann sagen, über unsere gesamten Ehe, die nicht immer glücklich gewesen ist, das können Sie mir glauben, begleitet uns Ihr Bruder. Man kann auch sagen, dass Ihr Herr Bruder ein Teil unserer Familie geworden ist.« Für einen Moment muss das rüstige Flintenweib Luft holen, dabei verschiebt sich ihr Gebiss ein wenig.

»Was meine Frau zum Ausdruck bringen möchte ist, dass wir Ihrem Herrn Bruder unerhört dankbar sind. Er hat uns über so manche dunkle Stunde hinweggeholfen. Fünfzig Ehejahre sind kein Zuckerschlecken«, ängstlich schaut der Gamsbartträger zur Seite.

»Ist das Ihre Freundin?  Ganz wie der Bruder, der hat ja auch den Hang zu diesen jungen Dingern. Aber warum nicht? In Künstlerkreisen ist das erlaubt. Ein Künstler braucht ja eine Muse, einen Brunnen, aus dem er jeden Tag schöpfen kann«, der Ton der alten Dame bekommt etwas schnippisches.

Niemand kennt meinen Bruder fünfzig Jahre. Mit den Enttäuschten, den Sitzengelassenen, den Geprellten, den Leichen, könnte ich eine Partei gründen. Ich kenne niemanden, der so verschwenderisch mit seinem Genmaterial um sich schießt, wie mein Bruder. Eine Eigenart, die er von meinem Großvater geerbt hat, der auch kein Kind von Traurigkeit gewesen sein soll. Von Brest über Trondheim, Riga, Stalingrad, Kreta, Monte Cassino, Wien, Klagenfurt und sein Tal, überall hat er seine genetischen Spuren hinterlassen. 

»Sie sagen ja gar nichts?«, die alte Jägerin ist nur die Speerspitze des Publikums, das sogar die Kellner im Hungerkünstler maßregelt, leise das Geschirr abzuräumen. 

Nein, die Sache ist mir entglitten. Ich weiß es, Fritzi weiß es, und das nehme ich ihr übel. Siegessicher sitzt sie mir gegenüber. Für den Eingeweihten, den Kenner, strahlt ihr Gesicht reinstes Vergnügen aus, für die anderen, die Gäste im Hungerkünstler, gibt sie die gelangweilte junge Gör..., ach was Geliebte. 

Natürlich schmeichelt mir das, eine Geliebte in dem Alter. Unsinn, es schmeichelt nicht, macht mich zum Narren. Künstler hin oder her, vor allem im Hungerkünstler. Nein, im Hungerkünstler möchte ich kein Künstler sein. Da habe ich ohnehin keine Chance. Vom Einkäufer, über den Kellner, den Koch, alle sind sie Künstler. Nur eines sind sie nicht: Hungerkünstler! 

Erst jetzt, wo mich das ältere Ehepaar mit dem Hang zum Töten, angesprochen hat, wird mir wieder diese Art Fälschung bewusst. Genauso, wie drüben in der Kathedrale der Gerechtigkeit Recht gesprochen wird. Im Grunde alles nur Kulisse. Eine gigantische Freitreppe, die nur Selbstzweck ist, einschüchtern soll, weil die Gestalten in ihren glatten Talaren ohnehin die Angsthasen der Nation sind. Sind es nicht immer die Angsthasen, die die Welt regieren, mit ihrem pathologischen Größenwahn, der mit einem pathologischen Verfolgungswahn einhergeht und dadurch mehr als krankhafte Züge trägt. 

»Wir müssen«, sage ich und winke den Kellner an unseren Tisch, der diese übertriebene Geste als Höchststrafe empfindet. Sieben Euro für einen Kaffee. Der Hungerkünstler macht seinem Namen alle Ehre.

»Aber was ist denn jetzt mit unserem Autogramm. Sie haben es versprochen.«

Fasanenhütchen und Gamsbart nicken synchron.

»Wir müssen«, wiederhole ich und stehe auf, »mein Bruder wartet.«

Jetzt, ohne sich umzudrehen, einfach gerade durch den Raum 

»Dann grüßen Sie den Udo Jürgens ganz nett von uns«, ruft mir die passionierte Jägerin hinterher, was unter den Gästen ein erstauntes Raunen hervorruft.

Ich und der Bruder von Udo Jürgens? Ja, wie haben wir es denn? Auch wenn ich mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mich gebracht habe, so alt sehe ich wirklich nicht aus. Der Bruder von Udo Jürgens, was für eine Unverschämtheit. Wenn überhaupt der Sohn, wenn nicht gar der Enkel. Aber der Bruder. Dass sie meinen Bruder nicht gemeint hat, ist mir ja von Anfang an klar gewesen. Zu unterschiedlich ist unser Aussehen. Während mein Bruder eben der dunkle Typ ist und gerne im Fernsehen als Italiener oder Türke besetzt wird, so bin ich eher der helle Typ, der in der Fußgängerzone von Stockholm oder Tallin überhaupt nicht auffallen würde. Dennoch bin ich oft für meinen Bruder gehalten worden, besonders dort, wo wir seit Jahrzehnten nicht mehr gemeinsam aufgetreten sind. Gerade in unserem Heimatort gibt es viele, die glauben, dass meine Eltern nur einen Sohn gehabt haben. Auch ist es nicht selten vorgekommen, dass ich wegen meines Bruders zusammengeschlagen worden bin. Die Burschen aus dem Nachbardorf, wo mein Bruder wieder einmal ein Mädchenherz gebrochen hat, haben mich einfach verwechselt und mir ein gebrochenes Nasenbein hinterlassen. Während mein Bruder also heute für seine griechische Nase bewundert wird, werde ich höchstens gefragt, ob ich früher geboxt hätte.

Nein, ich habe nicht geboxt, ich bin bloß zusammengeschlagen worden.

»Nein, wir fahren nicht zu meinem Bruder nach München!« 

Einer muss doch dieses Kind erziehen.

»Aber ich dachte...«, Fritzi ist den Tränen nahe. 

Nein heißt nein, Fritzi fehlt die Konstante in ihrem Leben. Es wird Zeit, dass sie das endlich lernt.


2.

Seit mehr als einer Stunde befinden wir uns auf der Autobahn. Von wegen Berlin ist nur ein Dorf. Ich habe den Beifahrersitz nach hinten gedreht und liege mehr oder weniger im Auto. Ich starre aus dem Fenster und zähle die Lampen der Straßenbeleuchtung.


Warum lässt sich Hochglanzpapier so schlecht anzünden? Zum Glück führe ich einen soliden Haushalt. Und mit Reinigungsbenzin gehen nicht nur alle Flecken weg. Nein, Reinigungsbenzin richtig angewandt ist eine sehr patente Lösung. 

Hat mein Bruder etwas anderes erwartet? Mir nach all den Jahren des eisernen Schweigens, des berechtigten Schweigens, zu schreiben, hätte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ich bin felsenfest davon ausgegangen, von meinem Bruder nichts mehr zu hören. Selbst auf der Testamentseröffnung ist er seinerzeit nicht persönlich erschienen, sondern hat einen Nobelanwalt aus der Sophienstraße in München vorgeschickt. Auch ans Telefon ist er damals nicht persönlich gegangen und hat sich von seiner Frau verleugnen lassen. 

Und jetzt das! Hochglanzprospekte, die einfach nicht brennen wollen!

Was für eine Frechheit, mich für sein Projekt gewinnen zu wollen. Er, der immer von einem Drecksnest gesprochen hat, wenn von Weißberg die Rede gewesen ist, will mit einem Mal ein Künstlerdorf aufbauen? Wo ist denn da der Haken? Was will uns mein Bruder denn da verkaufen? Was hat er da unten überhaupt zu schaffen? Alle direkten Verwandten sind tot. 

Sicher es gibt noch Tanten und zahlreiche Cousinen, die mein Bruder entjungfert hat. Aber es ist ja kaum anzunehmen, dass gerade meine Cousinen, die alle eher von kräftiger Statur sind, sein Heimweh beflügelt haben. Also stellt sich die Frage, was macht er da, was hat er da zu suchen? Zudem er immer behauptet hat, den Anteil seines Erbes für einen Film veräußert zu haben.

Mir kann es egal sein. Ich habe Reinigungsbenzin, überall finde ich die kleinen Fläschchen und komme so auf fast einen Liter. 

Naturgemäß ist mein Bruder auf der Rückseite der Hochglanzprospekte immer im Profil abgebildet, damit auch ein jeder seine wohlgeformte klassizistische griechische Nase bewundern kann. 

Nein, ich will das alles gar nicht wissen. Zudem ein Anruf bei der Tante, ausreichen würde, um die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken. Die Schwester meiner Mutter ist doch diejenige, die alles regelt, das Elternhaus in Ordnung hält und den großväterlichen Besitz, soweit noch vorhanden, verwaltet. 

Mir kann es egal sein. Ich habe vor fast zehn Jahren die Finger gehoben. Ein nüchterner Verwaltungsakt, vorgenommen an einem uralten Computer des Gerichtsvollziehers, dessen Einrichtung nicht gerade nach Wohlstand ausgesehen hat. Ja, ich bin vogelfrei, etwas, was meine Hamburger Frau ja immer schon vorausgesehen hat. 

»Ich will kein Kind, sondern einen Mann, einen richtigen Mann«, hat seinerzeit meine Frau geflucht und sich nicht mehr bei mir gemeldet. Zwei Wochen später habe ich erfahren, dass sie an Masern erkrankt ist. Nein, da gibt es keine Zusammenhänge. Irgendeiner ihrer so genannten guten Bekannten wird ihr den Virus ins Haus geschickt haben.

Europäisches Künstlerdorf, kleiner hat es mein Bruder nicht. Vielleicht will er das alte Holzscheißhaus meines Großvaters als Weltkulturerbe verkaufen. Zuzutrauen wäre es ihm. Jahrzehntelang hat mein Bruder immer von einem Drecksnest gesprochen, wenn er Weißberg gemeint hat und jetzt will er mit meiner Hilfe ein Europäisches Künstlerdorf aus dem Nichts entstehen lassen. Ein Konzept soll ich schreiben, ein Drehbuch für einen Werbefilm über meine Heimat. Ja, Deine Heimat hat mein Bruder geschrieben und nicht von unserer Heimat gesprochen. Für ihn ist das alles nur ein Projekt, ein Job, den er macht, um seinen extravaganten Lebensstil zu finanzieren. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je etwas ohne Hintergedanken gemacht hat. Durch und durch eine auf das Geld fixierte Person, nicht mehr, aber auch nicht weniger. 

Sollte ich vielleicht den Bürgermeister von Weißberg anrufen und ihn über die Charaktereigenschaften meines Bruders informieren? Unsinn, der Ignaz, den alle nur Nazi gerufen haben, ist ja erst mit meinem Bruder in einer Klasse und später bei mir in der Klasse gewesen. Wenn er nur einen Funken, wohlgemerkt nur einen Funken Verstand besitzt, wird er sich auf den Pakt mit dem Teufel nicht einlassen. Sicher, der Nazi ist in der Schule nicht der Beste gewesen und hat, so weit ich weiß, mit der Grundschule auch seine schulische Laufbahn beendet. Aber was heißt das schon? Nein, der Nazi ist schon in Ordnung gewesen. Leid hat er mir getan, weil er auf dem väterlichen Hof wie ein Leibeigener behandelt worden ist. Schon als Zehnjähriger hat er Hände wie ein Erwachsener 

gehabt, rau und voller Schwielen. Manchmal hat er ganze Nächte Holzhacken müssen, nur weil der despotische Vater, es so befohlen hat. Während der Erntezeit ist der Nazi überhaupt nicht in der Schule gewesen. Da hat er bis zum Umfallen schuften müssen. Zudem verfügt der Kirschnerhof über solche Steilhänge, das selbst die Haflinger nicht in der Lage gewesen sind, den Pflug oder das Schneidemesser zu ziehen. Der Kirschner, der immer nur vom Rotzbua gesprochen hat, wenn er seinen Sohn den Nazi gemeint hat, ist ihm mit der Peitsche oder dem Ochsenziemer entgegengetreten und hat ihn vor die Wahl gestellt. Fast immer hat er sich seinem Schicksal ergeben und sich vor den Pflug oder die Schneidemaschine einspannen lassen. Der Nazi ist das einzige Kind in der Schule gewesen, das im Sportunterricht mit langen Ärmeln hat antreten dürfen, damit wir anderen Kinder die Striemen und blaue Flecken nicht sehen sollen. Dabei ist es im ganzen Ort, im ganzen Tal bekannt gewesen, das der Kirschnerbauer, Frau und Kinder schlägt, nein, regelrecht verprügelt.

Den Kirschner hat man dann in seinem Scheißhaus tot aufgefunden und nicht so recht gewusst, ob er erstickt oder am Herzstillstand gestorben ist. Normalerweise wäre die Geschichte mit dem Tod des Kirschners auf dem Scheißhaus auch gar nicht so publik geworden. In Weißberg und Umgebung sind die Menschen recht häufig auf dem Scheißhaus gefunden worden. Im Winter sind sie erfroren aufgefunden, im Sommer voller Fliegen angetroffen worden. Nur der Kirschner hat falsch herum im Scheißhaus gesteckt, worauf nicht nur der Gendarmerieposten in der Stadt geholt, sondern auch die beiden benachbarten Freiwilligen Feuerwehren. Der Kirschner hat sich so im Loch des Scheißhauses verkeilt, dass er nur mit schwerem Gerät unter zur Hilfenahme des Bundesheers in die Gerichtsmedizin abtransportiert hat werden können. Der Tieflader einer Pioniereinheit hat ihn mitsamt dem Scheißhaus in die Landeshauptstadt fahren müssen. Böse Zungen behaupten, dass am Rande der Straße die Menschen applaudiert haben sollen. 

Später hat in der Zeitung gestanden, dass dem Kirschner beim Brunzen das Gebiss heraus gefallen sei und auf der Suche nach selben, er in der Öffnung des Abortes hängen geblieben sei. Durch die Gase der Sickergrube sei er gleich in Ohnmacht gefallen und hat somit überhaupt nicht leiden müssen. Dass sein Rücken zahlreiche Verletzungen und Striemen aufgewiesen hat, ist damit erklärt worden, dass der Kirschner regelmäßiger Gast bei einer Frau gewesen sein soll, die auf einer abgelegenen Alm ihre Dienste angeboten hat. Die Lederleni, so ihr Künstlername, soll für viel Geld so manchen Würdenträger und so manche Berühmtheit, grün und blau geschlagen haben. Leider, so die Zeitungen, hätte man die Lederleni nicht mehr einvernehmen können, da sie ganz überraschend hier ihre Zelte abgebrochen und zurück nach Jugoslawien gereist sei, um ihre kranken Eltern zu pflegen.

Frage: Warum gibt es in Österreich so wenig frischen Fisch?

Antwort: Weil er sich weigert in eine österreichische Zeitung eingepackt zu werden.


Warum brennt diese Hochglanzscheiße auf meinem Küchentisch nicht?

Es saugt und saugt gierig das Reinigungsbenzin auf, aber das ist schon alles. Ein paar kleine blaue lächerliche 

Flämmchen, damit kann ich das Dauergrinsen meines Bruders nicht beenden. Gut, seine klassische griechische Nase verläuft ein wenig, entwickelt sich erst zu einer klassischen Pinocchionase bevor sie zum Elefantenrüssel mutiert. Kläglich das Ganze. 

Im Bad müsste ich noch Haarlack haben. Brennt Haarlack nicht immer? Ich suche in meiner Wohnung alles ab, auf dem ein Feuer mit einem X abgebildet ist und gieße die Flüssigkeiten und den frisch geriebenen Grillanzünder über die mit Benzin getränkten Hochglanzprospekte. Warum sind jetzt die Streichhölzer nass, brechen ab, bei jedem Reiben?

Irgendwo muss ich noch ein Feuerzeug haben.


Nein, dem Nazi gönne ich den Aufstieg. Bürgermeister, das ist doch was. Auch wenn ich weiß, dass sich sonst niemand für diesen aufreibenden Job gemeldet hat. Das Internet ist eine große Petze, wie früher die Jellinek aus dem 2. Bezirk, die es einfach nicht ertragen hat, dass ich mit meiner großen Liebe aus den Fängen des Großvaters nach Wien geflohen bin. 

Warum brennt es nicht? Warum will diese Hochglanzscheiße einfach nicht brennen?


Fast zehn Jahre habe ich in friedlicher Eintracht gewohnt, seinerzeit in Bonn mit den letzten Spitzenkräften nach Berlin geschwemmt worden. Den wirklichen Grund habe ich vergessen. 

   Gehirnwäsche, das Markenzeichen der Berliner Republik. 

In Kreuzberg gelandet, wo sich erwachsene Menschen die Augen gerieben haben, weil plötzlich und unerwartet die eigene Mutter mit Hundertzwei Jahren gestorben ist.

Ja, das sind Schicksale. 

Die Berliner Presse, hat mich sofort mit Kusshand empfangen. Die Berliner Presse!

Eine Anhäufung an Dilettanten und Speichelleckern, die froh gewesen sind, zumindest einen Menschen mit einer gewissen Allgemeinbildung gefunden zu haben, den sie mit Zeilengeld  abfertigen können. 

Seit zwei Jahrzehnten prangert in Kreuzberg ein großes Graffiti mit der Aufschrift: Bonner go home. 

Wenn ich mich dunkel erinnere, habe ich seinerzeit die Miete nicht mehr zahlen können. Unsinn, ich habe dort ja nie Miete zahlen müssen, weil ich dort den Hausverwalter, den Hausmeister und den Spitzel gegeben habe. Bis zu dem Tag, als mein so genannter bester Freund das Haus verkauft hat, weil er es durch mich, zwar von mir nicht gewollt, fast mieterfrei für einen Höchstpreis hat verkaufen können. Eine ukrainische Prostituierte, die sich als tschechisches Jahrhundertgenie in der bildenden Kunst ausgegeben hat und angeblich über eine stattliche Sammlung an deutschen und russischen Expressionisten verfügt haben soll, hat ihm das ganze Geld nach und nach abgeknöpft. Selbst sein Pferd hat mein so genannter bester Freund verkaufen müssen.

Im Grunde verdanke ich ihm meinen Umzug nach Berlin. 

Zum Glück ist es Sommer gewesen, als ich seinerzeit in Bonn obdachlos geworden bin. Der Moment der vollkommenen Schutzlosigkeit ist wohl das allerschlimmste gewesen. Plötzlich hat ein Tag wirklich vierundzwanzig Stunden. Vierundzwanzig Stunden, an denen man aufpassen muss. Ich erinnere, mich als wäre es gestern. Mit einem Mal habe ich das Gefühl gehabt, besser zu hören und zu sehen. Auch die Fähigkeit Dinge vorauszusehen, sind plötzlich Bestandteil meines Lebens gewesen. Naturgemäß habe ich jeden Kontakt zu den anderen auf der Straße lebenden Menschen und Kreaturen gemieden. Bin in Museen gegangen, die keinen Eintritt verlangt haben. Habe mich in Buchhandlungen und öffentlichen Bibliotheken herumgedrückt und bin seltsamerweise immer wieder auf dieselben Menschen gestoßen, die so wie ich reflexartig verschämt zu Boden geschaut haben.

Dann ist es kälter geworden, nicht langsam, dass sich ein Körper daran hätte gewöhnen können. Nein, von einem Tag auf den anderen sind die Temperaturen um mindestens fünfzehn Grad gesunken. Im Kaufhof, in der Elektroabteilung, haben mir neunundvierzig geklonte Nachrichtensprecher mitgeteilt, dass so etwas, seit der Aufzeichnung des Wetters noch nie vorgekommen sei. Ich gehe auf der gleichen Etage auf Toilette und wasche mich mit lauwarmem Wasser. 

Für einen Außenstehenden bedeutet so etwas das Ende. Schnell wird da von der Kugel gesprochen, die man sich gibt; den Tabletten, damit es schnell geht; dem Strick, um es allen ein letztes Mal zu zeigen; der Vor den Zugspringer sagt nichts, der steigt die Böschung hoch, ekelt sich über den Fäkaliengeruch, der vom Bahndamm ausgeht und findet es nach ein paar tiefen Lungenzügen verdammt ehrlich, weil nicht nur das Leben, sondern auch die Welt scheiße ist. Dem Zug entgegengehen, dabei Kopfhörer auf, the doors oder Kurt Cobain, ein kleiner Stolperer und schon liegt man auf der Fresse. Die Nase blutet, aber das bekommt man nicht mehr mit. Nur das Blut, das über die Nebenhöhlen in den Rachenraum rinnt, schmeckt eisern. Ja, beschissen ist das  Leben und eisern das Ungetüm, das sich nähert. Die Gleise vibrieren, das ist der Beat, the doors, Kurt Cobain. Leonard Cohen ist nur etwas für die Badewanne. Wenn man die Lichter näher kommen sieht, ist es wie mit der Schlange und dem Hasen. Nein, dann gibt es kein Zurück mehr. Es sei denn, man scheidet mit einer oder durch eine Rechts Links Schwäche aus dem Leben. Da geht man und geht man die Gleise entlang und hört zum wiederholten mal the doors, oder Kurt Cobain, denkt, verdammt, das muss ein Zeichen sein: kein Zug weit und breit, nirgendwo diese kleinen Lichter, die immer größer und größer werden. Das ist doch ein Wink des Schicksals. Verdammt, die Welt hört auf mich, hat mich kleine Wurst erhört, mich gesehen. Ach was die Welt, das Universum ist auf mein Schicksal aufmerksam geworden. Und plötzlich glaubt man, selbst zu strahlen und tatsächlich, die Gleise, die Dornenbüsche am Rand des Bahndamms erhellen sich. Aus Nacht wird Tag, das Universum hat mir Macht gegeben. Natürlich braucht man in dem Moment keine the doors, oder Kurt Cobain mehr, sondern reißt die Stöpsel aus den Ohren, um ein geistiges Meer vor Augen zu teilen. Aber da ist es der Schnellzug aus München, der mit fast zweistündiger Verspätung, nicht nur die Träume platzen lässt.


Wir fahren durch die Nacht und haben Berlin immer noch nicht verlassen. Vielleicht findet Fritzi nicht heraus. Immerhin ist sie hier geboren. Ich bin es nicht, der ihr die Nabelschnur kappt, so dick und lang wie ein Bungeeseil. Wenn wir die Stadtautobahn verlassen, wird das Seil zurückschnellen. 


Scheiße kalt ist es von einem Tag auf den anderen geworden. Körper und Geist haben von einem Moment auf den anderen reagiert. Was nichts anderes geheißen hat, dass ich mir wirklich eine Bleibe zu suchen habe. Auch das, was schon in der ersten Nacht passiert ist, kann ich mir nur mit dem funktionierenden Leitsystem meines Urinstinkts erklären. 

Ich weiß zum Beispiel überhaupt nicht, warum ich weit nach Mitternacht auf einem Parkplatz gelandet bin. Auch alles weitere Tun hat mir relativ wenig zu schaffen gemacht. Wie von fremder Hand bin ich ziellos über den großen Parkplatz gelaufen, habe nicht gewusst wieso und warum. Ein paar leere Flaschen habe ich eingesammelt, das sicher. Aber dann? Wie bin ich auf das Auto gestoßen, wo ich noch  nicht einmal einen Führerschein besitze? Ja, das rote Auto hat da gestanden, ist offen gewesen, nachdem ich mindestens vierzig andere Autotüren vergebens versucht habe, auf zu machen. Das rote Auto ist mir den Winter über Heimstatt und ein Zuhause gewesen.

Am 23. April ist der rote Wagen weg gewesen, abgeholt mit all meinen Sachen, in der Hauptsache dreckige Wäsche. Dennoch, dieser rote Wagen hat mir das Leben gerettet.  


Immer noch befinden wir uns auf der Stadtautobahn und drehen unsere Runde. So groß kann Berlin überhaupt nicht sein. Vielleicht dreht Fritzi ja eine Ehrenrunde, mit der Absicht...

Unsinn, sie will ja weg.

»Weißt du eigentlich, dass du immer noch nach Rauch stinkst«, das ist das erste Mal, dass Fritzi seit unserer Abreise mit mir spricht. Dankbarkeit lässt sich daraus nicht heraushören. Selbst beim besten Willen nicht.

»Ich habe momentan nichts anderes zum Anziehen«, sage ich und starre weiter durch die Windschutzscheibe, in der ich meinen Kopf wie einen Geist hüpfen sehe.

Ja, das rote Auto, denke ich. Daran habe ich auch gedacht, als die Hochglanzbroschüren von meinem Bruder auf dem Küchentisch nicht gebrannt haben.


»Das ganze verdammte Drecksnest einfach anzünden«, davon hat mein Bruder oft gesprochen und es bei dem Bushäuschen außerhalb des Ortes belassen. Es hat direkt neben dem Spritzenhaus aus Holz gestanden, das direkt an den Fischteich angegrenzt ist, in dem die Forellen von einem Teichbecken in ein anderes gesprungen und auf dessen Oberfläche immer leere Flaschen geschwommen sind. Der Fischteichbesitzer ist in dritter Generation Alkoholiker gewesen. Wie die Demonstranten in vielen europäischen Hauptstädten hat mein Bruder, der auch einen Armeeparker getragen hat, die Weinflasche, die randvoll mit Benzin gewesen ist, am Lappen angezündet, der aus der Öffnung herausgelugt hat. Lichterloh ist das Bushäuschen in Flammen aufgegangen und mit ihm ein Plakat der Drei Amados, die alle drei ziemlich Scheiße ausgesehen haben. 

»Rotfront« , hat mein Bruder noch gesagt und die geballte Faust in den blutorange roten Himmel gestreckt.  

Als mein Bruder sein nagelneues Rennrad und ich das alte Klapprad der Mutter bestiegen haben, sind die ersten Funken übergesprungen. 

»Es brennt, es brennt«, habe ich meinen Bruder angeschrieen, »das ganze Dorf wird abbrennen!«

»Ach was«, hat er mich angeraunzt und hinzugefügt, »und wenn. Um das Drecksnest ist es nicht schade. Schlimmer kommt’s nimmer.«

Während mein Bruder geradelt ist, habe ich gestrampelt, um mein Leben bin ich in die Pedalen getreten. Die ganze Nacht sind wir gefahren, bis wir an der Kreuzung, an der zwei Bundesstraßen aufeinander treffen, gehalten haben.  

»Hörst du die Sirene?«, hat mein Bruder mich gefragt. »Also!«


Ja, das rote Auto hat mich über den Winter gebracht. Seine Ansprüche sind relativ gering gewesen. Jeden Tag ein paar Liter, um die Batterie aufzuladen und um ein paar Runden um den Block zu fahren, damit der Frost aus den Sitzen verschwinden kann.


In meiner Küche in Berlin riecht es nach Benzin. Der Holzboden weist schon Flecken auf. Hoffentlich bekomme ich sie wieder heraus, denn mein Vermieter ist ein penibler Einheitsgewinnler aus dem Westen, genauer gesagt aus Bonn. Ein hochrangiger Beamter, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und rechtzeitig, eine Immobilie nach der anderen aufgekauft hat. 

»Ich mag Sie«, hat er mir erst vor einer Woche auf der Treppe gesagt, »deswegen zahlen Sie ja auch nur die Hälfte von den anderen Spinnern im Haus. Falls Sie mal einen dieser Autoanzünder dingfest oder zumindest identifizieren können, lassen Sie es mich wissen. Ein Auto oder eine Jahresmiete ist mit Sicherheit drin.« 

Zum Glück gibt es in meinem Kiez jetzt Häuser, in denen man die eigenen Autos mit  ins Bett nehmen kann. 

Während oben auf meinem Küchentisch die Hochglanzprospekte meines Bruders liegen, knie ich längst unter dem Tisch und versuche dem tropfenden Benzin Herr zu werden. Da ein Fleck, da ein Spritzer, das Fischgrätenparkett weist Spuren auf, die mir der Ministerialdirigent niemals verzeihen wird.

»Sie kommen aus Bonn, Sie haben die Wohnung«, hat er seinerzeit freudestrahlend gesagt, nachdem er mindestens zehn Minuten meinen Personalausweis beäugt, gegen das Licht gehalten und geistig darauf herumgekaut hat. 

Und jetzt das. Wie ein Verrückter habe ich auf diese Wohnung aufgepasst. Anfangs kein Loch gebohrt, noch nicht einmal einen Nagel in die Wand geschlagen. Die Schuhe ausgezogen, versucht nicht zu kochen, kein heißes Wasser zu benutzt. Alles Maßnahmen, die nicht einzuhalten gewesen sind. Denn im Kiez gibt es Regeln. Natürlich kann man sich aus allem heraushalten. Die Frage ist nur, ob die anderen das auch tun. Nein, in der Regel tun sie es nicht.

Es klingelt.

»Party!«

Dann stürmen sie auch schon den Eingang. Befehle werden gerufen:

»Wo ist die Küche?«

»Geht der Kühlschrank?«

»Wo ist das Bier?«

»Verdammt, hinter der Doppeltür war kein Balkon!«

»Das Klo ist verstopft.«

»Das war ein Bidet.«

Nein, all das habe ich überstanden. Meine Wohnung hat immer noch den jungfräulichen Charme eines Erstbezugs. Wäre da nicht der triefende Küchentisch, auf dem die Hochglanzprospekte meines Bruders liegen.

Ich liege gern unter dem Tisch und versuche dem Benzin und den Flecken Herr zu werden.

Ich liebe diese Wohnung. Sie ist mir Heimstatt, Trotzburg, Bibliothek, Archiv, einfach alles. Diese Wohnung repräsentiert mein künstlerisches Leben. Ich habe es geschafft, dass meine Bücher, meine Filme, meine Manuskripte, meine Drehbücher, Romane, Gedichte, Theaterstücke, meine Sammlung Avantgarde - Musik der 20er Jahre, Tonträger wie Videos, Briefe, Postkarten, einfach alles, einen Platz gefunden haben. 

Mein Vermieter ist der erste und im Grunde der einzige gewesen, der diese Ansammlung an wirklichen Werten respektvoll kommentiert hat. 

»Allein die Bilder sind ein Vermögen wert«, hat der Ministerialdirigent zu mir gesagt. Mag sein, mag sein. Ich glaube, dass die umfangreiche Briefmarkensammlung meines Vaters ein Vermögen wert ist. 

»Verkauf die Briefmarkensammlung und du bist Millionär«, hat mein Bruder zu mir gesagt. 

»Die Briefmarkensammlung ist deine Rettung.«

Und die Münzen habe ich mich gefragt, die ganzen Bücher, die es nicht mehr zu kaufen gibt. »Unsinn, Sie besitzen einen Schatz!«

Natürlich kann mein Vermieter lustig sein. 

Ich lege den Küchenfußboden mit Zeitungen aus. Denn zu allem Pech tropft auch noch einer der beiden vollen Benzinkanister, die ich an der Nachttanke in unserem Kiez gekauft habe. Berlin, die Weltstadt mit Herz schläft nie. 

Sie ist immer in Bewegung. Nur der Kassierer in der Nachttanke hat sich am Hinterkopf gekratzt, als ich ihm die Nummer der Zapfsäule gesagt habe. Weiß er doch um die Todesursache in meiner Familie. Mit Ausnahme der Großmutter, die friedlich in ihrem eigenen Bett eingeschlafen ist, sind sie alle durch das Auto ums Leben gekommen. Ist es da nicht zu verstehen, dass ich kein Auto, geschweige denn einen Führerschein habe. 

Gegen das Benzin von der Nachttanke hat selbst das ewig grinsende Gesicht meines Bruders keine Chance. Es verläuft gnadenlos und erinnert mich an der Tischkante an Salvador Dali. Auch das neu erschaffene Künstlerdorf, das mit EU Geldern geförderte Drecksnest meines Bruders, verteilt sich auf der Tischoberfläche. So wie seinerzeit mein Bruder, die brennende Flasche auf das Bushäuschen neben dem Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr geworfen hat, so schnippe ich im hohen Bogen ein brennendes Streichholz Richtung Küchentisch. In einem mittelmäßigen Kinostreifen wäre das brennende Streichholz in Zeitlupe Richtung Küchentisch geflogen. Es hätte sich in der Luft mehrmals gedreht, ohne dass dabei die Flamme ausgegangen wäre. Film ist nicht Wirklichkeit. In der Wirklichkeit herrschen physikalische Gesetze. 

Alles passiert fast gleichzeitig. Während ich ungläubig auf eine riesige Feuerwalze blicke, die auf mich zukommt, schmeißt mich schon eine Welle gekonnt aus der Küche. Fenster zerbersten, Gläser klirren, und ich liege unter Holz. Ist das schon das Ende? Irgendetwas drückt auf meine Rippen. Ist es das Kruzifix, dass der Bestatter innen angebracht hat, damit anstatt der Würmer, wenigstens der Tote, den INRI betrachten kann. 

Sirenen, von überall höre ich Sirenen, ich kann also nicht tot sein, obwohl mein Mund voller Staub und Lehm ist. 


Mein Bruder und ich sind stundenlang durch die Dunkelheit geradelt, Hauptsache weit weg vom Tatort. 

»Das ganze Drecksnest kann abbrennen, die Idioten merken eh nichts«, hat mein Bruder gesagt und sich wie John Wayne eine Zigarette angezündet. Ein eh nichts, ist seinerzeit einer der Lieblingsfloskeln meines Bruders gewesen. Dann haben wir die Sirene gehört und am stockfinsteren Himmel hat sich ein blauer Kreisel gezeigt. Mein Bruder ist der erste gewesen, der Rennrad hat Rennrad sein lassen und ist mit einem gewagten Kopfsprung in den Graben gesprungen. Ich hingegen, auf dem Klapprad der Mutter sitzend, habe langsam abgebremst und habe gesehen, wie ein weißer Mercedes und der VW Bus der Rettung an uns vorbeigefahren sind.

Später hat sich herausgestellt, dass die Lattringerin einen Herzinfarkt erlitten hat. Die Lattringerin, die mit fast achtzig Jahren als Hebamme immer noch Kinder auf die Welt gebracht hat.

Fred Astaire, Robert Wagner, Steve McQueen, Paul Newman in Flammendes Inferno, einer meiner ersten Kinofilme. Aber warum muss ich jetzt dafür büßen? Es kann sein, das wir uns den Film verbotenerweise zweimal oder dreimal hintereinander angesehen haben. Aber dafür jetzt die späte Rache? 

Alle im Haus werden herunter getragen. Ein Event der städtischen Feuerwehr. Alle Autos haben sie aufgeboten, nur um mir zu zeigen, dass meine Phantasie nicht ausreicht. Ich werde zusammen mit meinem Hausbesitzer herunter getragen. Unten im Flur leisten sich die Hilfskräfte ein Wettrennen. 

»Es tut mir leid«, sagt mein Vermieter, bevor sie ihn in den Wagen schieben.

Ich verstehe gar nichts, schaue nach oben. Da, wo einst meine Wohnung gewesen ist, lodern die Flammen. Nur der Himmel sieht schön aus. Blassrosa, dann werde ich in den Krankenwagen geschoben. 


»Mein Bruder ist ein feiges Arschloch«, sage ich, während Fritzi, den Berliner Ring verlässt.

»Mein Gott stinkst du nach Rauch«, erwidert sie und lässt mit einem Knopfdruck die Seitenscheibe in der Tür verschwinden.

Na klar stinke ich nach Rauch. Drei Gründerzeithäuser in meinem Kiez sind abgebrannt.  In den Nachrichten hat nur der Dachstuhl gebrannt. Aber, wenn man davor steht, würde man sagen, alles ist verloren. Natürlich stehen die Mauern noch, sie bröckeln. Im Grunde ist alles verloren.

Es regnet Papier- und Kunststoffflocken. Ein Stadtteil scheint verloren.


Erst als ich meinem Bruder aus dem Graben heraus geholfen habe, erst da, ist meinem Bruder bewusst geworden, was ich eigentlich mache. 

»Trottel«, hat er zu mir gesagt.

Dabei sind ja am Anfang nur ein weißer Mercedes mit deutschem Kennzeichen und der VW-Bus des Roten Kreuz an uns vorbeigefahren. Dass die Lattringer im Sterben gelegen ist, hat ja niemand wissen können.

Natürlich sind wir zurück geradelt. Der Täter kehrt immer an den Tatort zurück. Eine Ewigkeit hat das gedauert, weil wir 

jedes Mal, wenn ein Lichtkegel in der Dunkelheit aufgetaucht ist, vom Fahrrad aus in den Graben gesprungen sind.

Von überall her sind die Löschzüge der Freiwilligen Feuerwehren gekommen. 

Da mein Bruder und ich von der Schattseite aus nach Weißberg gekommen sind, hat es so ausgesehen, als hätte die alte Wehrkirche gebrannt.

»Die Kirche brennt«, habe ich zu meinem Bruder gesagt und hinzugefügt, dass das der Untergang unser beider Existenz bedeuten würde.

»Du glaubst ja auch noch an den Weihnachtsmann«, hat er lachend gesagt und mich einen Idioten geschimpft, weil ich auch zu denen gehöre, die glauben, dass der Mann der Haushälterin unseres Herrn Pfarrers draußen im Salzburg‘schen den Bau der Tauernautobahn vorantreibt.

»Es gibt doch überhaupt keinen Mann, du Idiot«, hat mein Bruder gesagt und sich eine Zigarette angezündet, »der liebe Herr Pfarrer ist der Mann, der der Haushälterin alle zwei Jahre ein Kind macht!«

Mit zitternden Händen habe ich mir auch eine Zigarette angezündet, um anschließend erleichtert festzustellen, dass das Gotteshaus aus dem 13. Jahrhundert vom Funkenflug verschont geblieben ist. Bis zum Kaufhaus haben wir uns heranschleichen können. Ab da ist die ganze Straße von Feuerwehrautos blockiert gewesen. So ist meinem Bruder und mir nichts anderes übrig geblieben, als über die Friedhofsmauer zu klettern, um dort von einem der Schießscharte aus, das Geschehen auf der anderen Seite zu beobachten. Vom hölzernen Bushäuschen ist nicht mehr als ein Haufen dampfender nasser Holzkohle übrig gewesen. Nur das 

anliegende Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr hat immer noch lichterloh gebrannt. 

Nichts, aber auch gar nichts, hat man retten können, so oder ähnlich hat es zwei Tage später in der Zeitung gestanden. Dabei ist es egal gewesen, ob man die Kleine Zeitung oder den Kurier aufgeschlagen hat. Ein Verlust unendlichen Ausmaßes, hat der Feuerwehrhauptmann gesagt und aufgeführt, dass neben der Fahne aus dem neunzehnten Jahrhundert, auch das gesamte Archiv, das bis in das 13. Jahrhundert zurückgegangen ist, vernichtet worden ist. Was die Türken seinerzeit nicht geschafft haben, ist durch einen feigen Anschlag über Nacht zerstört worden.


Alles ist weg, alles verloren. Niemand wird darüber berichten. Dass drei Häuser aus der Gründerzeit abgebrannt sind, hat naturgemäß in allen Zeitungen gestanden, weil es letztendlich nur eine dpa Meldung gewesen ist. Lückenfüller, die nicht viel kosten. Aber, dass ich alles, wirklich alles verloren habe, darüber ist nichts, aber auch gar nichts in der Zeitung gestanden. Dass die deutsche Literatur, das deutsche Theater und nicht zu vergessen der deutsche Film über Nacht einen schweren Verlust erlitten haben, davon hat nichts, aber auch gar nichts in der Zeitung gestanden. Wen interessiert es schon, dass ich nun vor dem künstlerischen Nichts stehe? Alles ist verbrannt. Jedes noch so kleine Gedicht, jeder Brief, jedes Manuskript, alles ist weg. 

»Sie haben doch bestimmt Sicherungskopien ausgelagert!«

Nein, habe ich nicht. Ich habe auch keine Kopie von meinem Ausweis angefertigt. Wieso auch? Jetzt werde ich schon misstrauisch beäugt, wenn ich nur meinen Namen sage.

Das kann ja jeder behaupten, steht auf ihrer Stirn geschrieben. Alles habe ich verloren, nur weil ich das ständige Grinsen meines Bruders nicht habe ertragen können, der aus meinem Heimatdorf, das er immer als Drecksnest bezeichnet hat, eine europäische Künstlerbegegnungsstätte hat machen wollen. Ja, und er hat ja noch die Frechheit besessen, mich um Hilfe zu bitten. Einen Film soll ich drehen. Ein Drehbuch soll ich schreiben über das Dorf mit der blinkenden Straßenlaterne. 

Selbst die Klamotten, die ich trage, hat mir Fritzis Mutter gegeben. Irgendeiner ihrer vielen Liebhaber hat zum Glück meine Größe gehabt.

Jetzt, kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag stehe ich nicht einmal mehr vor einem Scherbenhaufen. Von meinem künstlerischen Leben ist nur Asche geblieben, die entweder in die Berliner Kanalisation geschwemmt oder in allen Himmelsrichtungen verstreut ist.

Die Fotoalben von drei Generationen, über hundert Stück an der Zahl, sind Opfer der Flammen geworden. 

»Beherbergst du das österreichische Staatsarchiv?«

Wie oft habe ich mir diese blöde Frage anhören müssen. Jetzt ist alles weg. 

»Wo ein Ende ist, da ist auch ein Anfang!« 

Welcher Trottel hat das nicht immer gesagt?

Warum fällt mir bei soviel Elend, jetzt, wo ich mit Fritzi auf der Stadtautobahn mindestens dreimal Berlin umrundet habe, meine Exfrau in Hamburg ein? Sind es die Allgemeinplätze, die sie wieder zum Leben erweckt haben? Marion, warum habe ich plötzlich ihr Bild vor Augen? Was will sie mir sagen?


»Wenn du mich verrätst, bringe ich dich um«, hat mein Bruder auf dem Friedhof gesagt, der von einer meterdicken Wehrmauer aus dem 13. Jahrhundert umrandet ist. Beide hängen wir an dem Schießschacht und beobachten, wie die Feuerwehr nichts tut. Ja, sie tut nichts. Im Grunde stehen da zehn Löschzüge aus den Nachbargemeinden und schauen zu, wie das alte Spritzenhaus zu Weißberg abbrennt. Auch um die beiden Löschfahrzeuge, die aus alten Wehrmachtsbeständen stammen, scheint es den Feuerwehrleuten nicht schade. Da wird sich abgeklatscht und sich freudig in den Armen gelegen. 

Der Kirchenwirt, der längst mit seinem Kochlehrling im Bett gelegen ist, hat sich von der Jugend getrennt und draußen ein dreißig Liter Fass Bier angeschlagen. Alle scheinen guter Dinge. Warum haben wir eigentlich Angst?

»Der Schein trügt«, hat mein Bruder gesagt, »der Schein trügt immer. Sie werden uns lynchen, wie einen gemeinen Pferdedieb einfach aufhängen. Unten gegenüber der Schmiede und der Trafikantin. Du weißt, der Baum, der fast nie Blätter trägt.«

Natürlich habe ich den Galgenbaum gekannt. Meine Großmutter und selbst die Hundertjährige sind nur mit einem Kreuzzeichen an und unter dem Baum vorbeigegangen.  

Meine Großmutter und die Hundertjährige da hat es doch ein Bild gegeben. Auf dem Schreibtisch habe ich es stehen gehabt, eingerahmt in einem dunklen schwarzen Holzrahmen. 

Die Großmutter und die Hundertjährige, in Hamburg haben sie noch auf dem Schreibtisch gestanden. Und in Bonn? Verschwommen die Bilder. Ähnlich wie mein Spiegelbild in der Windschutzscheibe. Es hat angefangen zu regnen. Warum hat es nicht geregnet, als meine Küche explodiert ist und ich samt Tür weit hinaus in den Flur geflogen bin? Hätte ich auf der anderen Seite der Küche gestanden, wäre ich mit samt dem Küchentisch unten auf der Straße gelandet. Hätte es geregnet, wären die Dachstühle der benachbarten Häuser sicher vom Funkenflug verschont geblieben. 

Nein, in Bonn hat das Bild mit der Großmutter und der Hundertjährigen nicht auf dem Schreibtisch gestanden. Nein, in der Wohnung in Bonn hat am Anfang überhaupt nichts gestanden. Auch nach Jahren, als ich die letzte Kiste gesichtet und geleert habe, ist das Bild nicht wieder aufgetaucht. 

»Ja, ja, ja«, schreie ich laut, als wollte ich einen Orgasmus vortäuschen, was Fritzi nur mit einem Kopfschütteln kommentiert.

Ja natürlich. Wie habe ich das all die Jahre vergessen können.

»Fritzi, wir fahren nach Hamburg«, sage ich mit so einer Bestimmtheit, dass Fritzi in die Eisen steigt und rechts heranfährt.

»Aber das ist die entgegengesetzte Richtung!«

Bestattung

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

Alle Rechte bei Johannes Wierz 


Die Straße hinunter, immer dasselbe Bild, die Straße hinunter, vorbei an der Armensiedlung, links der Hof mit den Zwillingen und der bildhübschen Cousine aus der Stadt, die hier ihre Ferien verbringt, die Straße hinunter, es ist heiß, der Teer mit dem die Straße im Frühling notdürftig geflickt worden ist, hat sich aufgelöst und bleibt an den Schuhen kleben, rechts der Fischweiher, der dem Einarmigen gehört, er sitzt vor seiner Hütte und grüßt mit erhobener Flasche, der Hund bellt, die Straße hinunter, immer dasselbe Bild, die Straße hinunter, am Wegkreuz vorbei, das an das elfjährige Mädchen und an dessen Unfall vor drei Jahren erinnert, Gott nahm sie viel zu früh von uns, steht da, nicht Gott, sondern ein Betrunkener mit seinem Auto ist es gewesen, links der verfallene Hof der Steiners, die aufgeben mussten, nur die beiden Emailleschilder, das von der Brandschutzversicherung und das der Bank, lassen vermuten, dass das Haus neue Besitzer hat, gleich die scharfe Rechtskurve und dann das Haus, ich brauche nur die Straße hinunter, das Bild verschwimmt.


Ich werde wach.

Der Zug hat auf offener Strecke gehalten.

Es muss sich jemand auf die Gleise gestellt haben. Von weitem ein Signalhorn, das sich langsam nähert. Die Strecke ist auf einmal hell erleuchtet. Ein paar Fahrgäste sind ausgestiegen und gehen in Richtung Lok.

Auf manchen Strecken haben die Züge immer eine Verspätung, konstatiert mein Gegenüber. Schlimm nur für die Lokführer. An die Lokführer denkt so ein Selbstmörder nicht. Alle Selbstmörder sind asozial. So ein Lokführer kann doch frühestens im nächst größeren Bahnhof ausgewechselt werden.

Ein gleichmäßiges Röcheln, dann ist mein Gegenüber wieder eingeschlafen.


Als die Nachricht vom Tod meines Onkels mich erreichte, dachte ich sofort an Selbstmord, obwohl mein Onkel, soweit ich ihn gekannt hatte, überhaupt nicht dem Typ eines Selbstmörders entsprach. Dennoch, eine andere Todesart konnte ich mir nicht vorstellen, ganz konkrete Bilder hatte ich. Ich sah meinen Onkel zwischen dem Gebälk hängen, leicht pendelnd, mit dem dazugehörigen knarrenden Geräusch des angespannten Seils.

Mein Onkel ist aus dem Fenster gesprungen, aus dem Mansardenfenster, so sein einziger Freund, ein gewisser Hutter, der mir einen langen Brief, nachdem die Familie und ganz besonders mein Vater, obwohl der eigene Bruder, sich geweigert hatten, ihm, meinem Onkel, die letzte Ehre zu erweisen, geschrieben hatte.

Der Name Hutter war mir kein Begriff. Auch Vater hörte diesen Namen zum ersten Mal.

Hutter schrieb mir, dass ich mich um nichts zu kümmern bräuchte, und er alles in die Wege leiten würde. Selbst eine Fahrkarte 1.Klasse und ein Scheck waren dem Brief beigelegt. Es schien, dass er über mich Bescheid wusste.

So saß ich im stehenden Zug und versuchte, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. 

Weit nach Mitternacht, nachdem sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, schlief ich ein.


Der kleine See, schwarz und kalt, es ist August und an der Tafel steht mit Kreide die Wassertemperatur, achtzehn Grad, ich bin in dem Alter, wo die Haut noch kein Sonnenöl benötigt, der Rücken dunkelbraun, die Haare weißblond, auf Zehenspitzen gehen wir über den heißen Asphalt, manchmal versinken die Füße im weichen Teer, es ist eine lange Straße mit einer leichten Rechtskrümmung, als wir die parkenden Autos nicht mehr sehen, zünden wir uns Zigaretten an, nach fünf Minuten haben wir das Gasthaus erreicht, die Badesachen sind trocken, ein paar schnelle, flüchtige Küsse ehe die Bedienung kommt, Bier und Zigaretten ja, aber keine Küsse, die Jungen müssen sich ein T-Shirt überstreifen, auch das ist Vorschrift, die Mädchen dürfen in ihren Badeanzügen Platz nehmen, wir bestellen Bier, unter dem Tisch halte ich Gerdis Hand, ich mag Gerdi, zumindest heute, jetzt, sie weiß, dass ich Marietta sehr lieb habe, sie wusste es schon vor mir, als sie mir den Zungenkuss beibrachte, sagte sie es mir, hinterher, Gerdi nimmt alles nicht so eng, wie sie sagt, sie will leben, sie will genießen, Gerdi ist zwei Jahre älter als ich, draußen auf der Terrasse riecht es nach Sonnenöl und Würstchen, auf  dem Tisch, ein Körbchen mit gesäuertem Brot, auf dessen harten Kanten wir herumkauen, das weiche Innere beträufeln wir mit Maggie, nur einer von uns bestellt Wiener Würstchen, obwohl es keine Wiener Würstchen sind, Ansgar hat neben den Toiletten die großen Blechdosen entdeckt, die Würstchen kommen aus Oldenburg und sind vom Schwein, für den Heimweg kaufen wir uns Pfefferminzbonbons, auf dem Rückweg lassen wir uns Zeit, die Zigaretten müssen aufgeraucht werden, einmal hat Ansgar eine fast volle Packung hinter dem Parkplatz begraben, dann hat es drei Tage lang ununterbrochen geregnet, seitdem habe ich immer eine eigene Packung dabei, am Abende haben wir die Sonne im Rücken, bis zum Parkplatz sind auch die Haare trocken, die bei mir nach allen Seiten abstehen, Australischer Grasbaum, sagt der Postbusfahrer, wir lachen, keiner von uns hat je einen Australischen Grasbaum gesehen.


Jemand rüttelt mich zum wiederholten Mal. Ich weigere mich aufzuwachen.

Eine Taschenlampe wird mir ins Gesicht gehalten.

Pass - und Zollkontrolle!

Deutscher Boden ist erreicht. Schneidige Burschen mit Walrossschnauzern mit ebenso schneidigen Fragen und Befehlen.

Es kann sich nicht um einen Traum handeln. Ich bin in Deutschland.

Einer der Beamten, der ohne Mütze und Pistole, sächselt.

Ich bin in Deutschland. Meine Koffer muss ich öffnen.

Naturgemäß deshalb nur, wie mein Gegenüber konstatiert, da ich bei der ersten Aufforderung den Pass zu zeigen, nicht reagiert habe.

Mein Gegenüber scheint es zu amüsieren, dass ausgerechnet meine Koffer auf das genauste durchsucht werden.

Das hätte es früher nicht gegeben, eine Kofferdurchsuchung in der 1.Klasse, so mein Gegenüber. Er bietet mir einen Obstler an, den ich dankend entgegennehme.

Nichts für ungut.

Die Grenzer verabschieden sich schneidig.

Mit der Hoffnung auf Schlaf nehme ich einen weiteren Obstler von meinem Gegenüber an.


Das Dach des alten Postbusses ist aufgerollt, allein dafür lohnt sich das Mitfahren, Gerdi sitzt einen Platz vor mir, sie weiß, Marietta wird an der Haltestelle auf mich warten, neben mir Klaus, der seinen Kopf in den Fahrtwind hält, hinter uns Gabi und Ansgar, er ist der älteste in der Gruppe, dennoch tut er alles für uns, wenn wir wollen, bläst er sogar das große Schlauchboot auf, mit dem Mund, alle drei Kammern, fast immer bezahlt er die Zigaretten und die Halben, wir haben kein schlechtes Gewissen, warum auch, seine Eltern haben Geld wie Heu, dafür ist er etwas zurückgeblieben, alles kann man in einem Leben nicht haben, sagt mein Vater, dreimal die Woche muss Ansgar den neuen silbergrauen Mercedes waschen, dafür war er aber schon in Paris und Madrid, nur vor Blindschleichen hat er Angst, seine Mutter hatte schon zwei Liebhaber, alle im Ort wissen davon, nur Ansgar und sein Vater nicht, Ansgar liebt seine Mutter über alles, eine Freundin hatte er noch nie, ich werde nie heiraten und wenn, dann Marietta, die an der Haltestelle auf mich warten wird, im einzigen Tunnel der Strecke küsst mich Gerdi, die sich unbemerkt über den Sitz gebeugt hat, direkt auf den Mund, es geht den Berg hinauf, Serpentinen fahren ist fast so schön wie Achterbahn, sagt Gerdi, dabei ist sie in ihrem Leben überhaupt noch nicht Achterbahn gefahren, auf halber Strecke, an der Jausenstation hält der Bus, wir steigen aus und helfen dem Fahrer das Faltdach anzubringen, hier oben auf der Jausenstation ist es schon merklich kühler, bis zur Weiterfahrt haben wir noch etwas Zeit, der Fahrer erzählt von früher, vom Großglockner, von Heiligenblut, auf der Herrentoilette zieht Gerdi ihr Bikinioberteil aus, weil es zwickt, wie sie sagt, sie hat große stehende Brüste, ich werde rot, als sie mich küsst, ihr Busen glüht, als ob sich die Sonne des Tages darin gespeichert hätte, der Busfahrer hupt, wir müssen weiter, Gerdi drückt sich beim Einsteigen von hinten fest an mich, ein schönes Gefühl, alles ist schön, es ist der erste Sommer, an dem ich nichts auszusetzen habe, auch mit mir bin ich zufrieden, nicht mehr so schmächtig wie ein Jahr zuvor, auch halten sich die Pickel in Grenzen, zum Glück bin ich verschont geblieben, mit meiner Schlagfertigkeit erreiche ich alles, ich habe ein Gespür dafür, wie weit ich gehen kann, der Instinkt des Schwachen, des Schwächlings, so immer der Vater, den ich ignoriere, um ich scharren sich plötzlich die Menschen, ich kann Geschichten erzählen, ich, und nicht mein Vater, so geht es weiter den Berg hinauf, der Fahrer muss in den ersten Gang zurückschalten, ich schaue aus dem Fenster und freue mich auf die Haltestelle, auf den Empfang, auf die Küsse und auf das Hupen des Postbusses, wenn ich Marietta in den Arm nehme, der Busfahrer mag mich, er nennt mich einen Glückspilz, ich der kleine Schmächtige bin mit dem hübschesten Mädchen, dass man sich vorstellen kann, zusammen, Marietta ist hübscher als Gerdi, denke ich und schließe die Augen, noch ein paar wenige Kurven und ich kann aussteigen, Gerdi und die anderen fahren zum Glück eine Station weiter, nur Ansgar könnte mit mir aussteigen, aber der möchte den anderen noch beim Moserwirt einen ausgeben, vielleicht kommen wir ja nach, denke ich, wir schmusen, ich streichle ihr über den kleinen festen Busen, sie kratzt dafür meinen Rücken auf, es ist der Sommer der Neugierde, alles will sie wissen, erforschen, Zuhause liegen verwaist meine Englisch - und Lateinbücher, Latein und Englisch muss ich schaffen, dabei sind zwei Fremdsprachen einfach zuviel für mich, ich werfe alles durcheinander, Ende August ist Nachprüfung, ich will nicht daran denken, das Leben liegt auf der Straße, sagt auch Marietta, sicherlich wartet sie schon an der Haltestelle, Marietta mag keine blassen Jungen, vor allem die mit Brille und kurzem Haar sind ihr zuwider, der Bus quält sich den Berg hinauf und stößt immer größer werdende schwarze Rußwolken aus, wenn die Passstraße erreicht ist, sind es nur mehr drei Stationen.


Ein Rucken geht durch den Zug.

Ich werde erneut wach. Durch das Fenster sehe ich gelbe Elektroautos an mir vorbeifahren.

München, sagt mein Gegenüber, Sackbahnhof.

Er bittet mich, mit ihm den Platz zu tauschen.

Ich ziehe das Fenster hinunter. Draußen herrscht rege Betriebsamkeit. Die verlorene Zeit muss aufgeholt werden.

Mein Aufstehen nutzt mein Gegenüber für einen Platzwechsel, obwohl ich auf seine Bitte, mit ihm den Platz zu tauschen, noch keine Antwort gegeben habe. Ich bin immer noch in einer anderen Welt und kann mich nicht wehren, will es auch überhaupt nicht.

Mein Gegenüber, der es sich jetzt auf meinem Platz bequem gemacht hat, versucht eine Unterhaltung mit mir anzufangen. Er erzählt irgendetwas. Dadurch aber, dass ich momentan in einer anderen Welt bin, kann er mir nichts anhaben. Seine Stimme, sein Geschwätz perlt ab, wie das Wasser auf den Ölmänteln der Arbeiter, die draußen auf dem Bahnsteig gerade dabei sind, die Post zu verladen.

Ich schließe das Fenster, mein Gegenüber, der sich sichtlich wohl auf meinem Platz fühlt, reicht mir seine Karte, hält sie mir dann, da ich nicht sofort reagiere, brutal unter die Nase, so nah, dass ich die Druckerschwärze riechen kann. Ohne einen Blick darauf zu werfen, stecke ich sie ein.

Es macht einen Ruck und ich lande auf seinem alten Platz. Der Zug verlässt langsam München.

Waren Sie schon einmal in München, mein Gegenüber gibt nicht auf.

Da ich nicht antworte, kommt er noch einmal auf den unfreiwilligen Halt zu sprechen.

Es wäre nicht sein erster Selbstmörder, so mein Gegenüber, nein, nein, ganz im Gegenteil.

Vor allem warnt er mich vor dem Intercity mit dem Namen Van Gogh.

Der Van Gogh, so mein Gegenüber, hat immer Verspätung. Es ist der Zug der Künstler, wohlgemerkt der, der erfolglosen Künstler, der Unverstandenen, die immer wieder eine Verspätung verursachen.

Mein Gegenüber grunzt noch etwas, dann ist er wieder eingeschlafen.

Es dauert lange, bis ich erneut in den Schlaf zurückfinde.


Marietta wartet nicht an der Haltestelle, ohne die Station auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, habe ich bei den Brüdern Stättner, denen auch die Tankstelle gehört, eine Wurstsemmel gekauft, Marietta ist sonst immer pünktlich, sicher hat die Mutter sie nicht weggelassen, sie wird schon noch kommen, ich genieße die Wurstsemmel und blinzle in die immer noch starke Abendsonne, die Stättnerischen Wurstsemmel sind in der ganzen Gegend die allerbesten, die Stättners waren einmal fünf Brüder, drei davon stehen auf dem großen Obelisk gegenüber der Postbushaltestelle, und während ich meine Wurstsemmel esse und auf Marietta warte, suche ich auf dem Obelisk nach den Stättners, alle drei waren in der selben Einheit, alle drei in Stalingrad, der halbe Ort, so heißt es, sei in Stalingrad gefallen, alle drei Stättners am selben Tag, was ich nicht glaube, aber dem Steinmetz eine Menge Arbeit erspart hat, ich sehe in Richtung Fischweiher, nichts ist zu sehen, wenn Marietta bei der Großmutter gewesen ist, kommt sie von der anderen Seite, ein paar Camper aus den Niederlanden fahren vorbei, seitdem der Einarmige vom Fischweiher überall herumerzählt, die Holländer würden ihre schmutzige Wäsche im Bach waschen, was dann letztendlich die Ursache für das große Fischsterben Anfang Juni gewesen sein soll, sind sie hier nicht mehr beliebt, obwohl, eigentlich waren sie hier nie richtig willkommen, zu wenig Geld lassen sie hier im Ort, sie trinken einen Kaffee und holen dann mit aller Selbstverständlichkeit fünfzig Liter Wasser für ihre Tanks von der Toilette, der Ort aber ist auf jede Übernachtung angewiesen, wer gar mit Kindern kommt und Vollpension bucht, ist überall gleich beliebt, alle leben hier von den Touristen, selbst die Polizei, sie fährt Doppelschichten auf den Straßen, auch sind die Radarfallen wieder in Betrieb, auf dem Dorfplatz hat man Anfang Juni zum ersten Mal Halteverbotsschilder aufgestellt, sie aber so postiert, dass ein Fremder sie nur schwerlich entdecken kann, im Sommer sind die Polizisten immer gutgelaunt und geben gern mal ein Bier aus, die Deutschen sieht man hier am liebsten, die Deutschen lassen das meiste Geld hier, man fährt wieder in Urlaub, mit der ganzen Familie, sogar zweimal, im Sommer und im Winter, man kann es sich jetzt wieder leisten, im Schutz der überdachten Haltestelle rauche ich eine Zigarette, so lange werde ich noch warten, wenn sie nicht kommt, werde ich zum Krainer gehen, auf eine Partie Billard, ich verstehe es nicht, Marietta ist sonst so ein pünktlicher Mensch, einmal habe ich sie beobachtet, wie sie eine halbe Stunde zu früh am verabredeten Treffpunkt auf mich gewartet hat, ich bin nur dagesessen und habe sie beobachtet, ganz ruhig hat sie auf mich gewartet, eine halbe Stunde später als verabredet bin ich bei ihr aufgetaucht, nicht einmal böse ist sie mir gewesen, meine Marietta, eine Wurstsemmel, drei Zigaretten, eine halbe Stunde habe ich jetzt auf sie gewartet, ich werde zum Krainer gehen, auf eine Partie Billard, vielleicht ist ihr Bruder da, obwohl erst früh am Abend ist der Gastraum schon gut gefüllt, ich gehe in den Nebenraum, Max, Mariettas Bruder spielt mit einem Touristen, einem Berliner, um Geld, ab und zu schaue ich aus dem Fenster, vielleicht kommt sie ja doch noch, der Berliner wirft den Queue auf den Tisch und verlässt fluchend den Raum, Max und ich lachen, wie viel frage ich nur, Tausend, antwortet Max grinsend und lädt mich auf ein Bier ein, Max ist Forstarbeiter, lebt aber über seine Verhältnisse, er ist der beste Billardspieler in der ganzen Gegend, in der Hochsaison macht er mit dem Billardspiel das zehnfachen von seinem Gehalt, Max ist schwul, aber das darf im Ort niemand wissen, bei der Madonna habe ich es ihm schwören müssen, durch ihn habe ich Marietta kennen gelernt, ich gehöre zu seiner Schwester, er hat es akzeptiert, obwohl er anfangs in mich verliebt gewesen ist, dafür schweige ich wie ein Grab, sicher muss Marietta der Mutter helfen, sagt Max und bestellt eine neue Runde, die Bushaltestelle unverändert, keine Nachricht, auch am Kriegerdenkmal nicht, unserem gemeinsamen geheimen Briefkasten, nachdem wir im Wanderkino zusammen einen Agentenfilm gesehen haben, zum Moserwirt könnte ich gehen, vielleicht ist sie ja da, bei den anderen, dort steht auch eine Wurlitzer und ein Flipperautomat, beim Moserwirt trinke ich einen Kaffee und esse eine ganze Packung Kaugummi, damit die Eltern nichts merken.


Was ist Schmerz?

Wann wird Schmerz laut?

Ich kenne keine Schmerzenslaute, fresse alles in mich hinein. Immer hinein damit, immer nur hinein mit dem ganzen Unrat!

Begegnungen finden statt, gewollte aber auch zufällige. Begegnungen werfen einen aus der Bahn oder beschleunigen einen, naturgemäß zu schnell für die nächste Runde. Rundenrekord, dafür aber ist die Strecke immer dieselbe.

Der Rundenrekord erweist sich leider allzu oft als reine Täuschung. Man denkt Rundenrekord, dabei ist man längst herauskatapultiert, längst auf einer anderen Strecke, auf einer unbekannten Nebenstrecke. Und erst, wenn man in der Kurve, von der man glaubte, es sei die bekannte, herausfliegt, begreift man, dass es sich um eine völlig neue und unbekannte Strecke handelt.

Mein Onkel ist gestorben. Ein Toter hat es geschafft, mich auf eine andere Strecke zu bringen. Was Lebenden als unmöglich erschien, hat mein toter Onkel geschafft.

Zwei Tage habe ich jetzt nicht schlafen können. Leicht verzerrt kann ich mein Gesicht in der Scheibe erkennen, mal hell, mal dunkel. Nur wenn ein hellerleuchteter Zug entgegenkommt, kann ich mein Gesicht in der Scheibe gut erkennen.

Wieder steht mein Gegenüber vor mir und möchte mit mir die Plätze tauschen.

Frankfurt, Sackbahnhof, Sie verstehen.

Nichts verstehe ich, möchte nur endlich zu Ruhe kommen. Naturgemäß tausche ich den Platz mit meinem Gegenüber. Er bringt es sonst fertig einfach so, breitbeinig und grinsend und vor allem unentwegt redend, die ganze Fahrt über, vor mir stehen zu bleiben.

Es ist eine alte bekannte Strecke: München - Frankfurt. Zwei allzu bekannte Haltepunkte. Über fünf Jahre immer dieselbe Strecke, dieselben Hoffnungen, dieselben Träume.


Die Straße hinunter, immer dasselbe Bild, die Straße hinunter, vorbei an der Armensiedlung, die Straße hinunter, am Wegkreuz vorbei, links der verfallene Hof der Steiners, gleich die scharfe Rechtskurve und dann das Haus, ich brauche nur die Straße hinunter, ein weißes Cabriolet steht am Wegesrand, ein Mercedes mit roten Ledersitzen und deutschem Kennzeichen, das Radio läuft leise, Hugo Strasser, Tanzmusik, sicher ein Liebespaar, ein schöner Sommerabend für die Liebe, irgendwann habe ich auch so einen Wagen, mit Marietta werde ich hier halten und mit ihr in den Wald gehen, vorsichtig werden wir uns auf das weiche Moos legen, eine ganze Weile werden wir uns anschauen und streicheln, ich werde ihr die Bluse öffnen und sie wird mir das T-Shirt über den Kopf ziehen, ihre kleinen wunderschönen Brüste werden ich liebkosen und sie wird eine Gänsehaut bekommen, dann werden wir eins sein, viele Sommertage werden wir haben, unzählige, Marietta wird stolz neben mir sitzen, wenn wir durch die Landschaft fahren, am Fischweiher hupen, den Einarmigen ärgern, an diesem Sommerabend genug getrunken, mutig für einen Streich, genau die richtige Stimmung, wieder eine neue Geschichte, die ich dann Marietta erzählen kann, Marietta hört mir gern zu, kann gar nicht genug bekommen von meinen Erzählungen, ob sie stimmen oder nicht, ist ihr vollkommen egal, für sie ohne Bedeutung, sie mag meine Stimme, hört mir gern zu, Marietta liegt dann seitlich im Gras und schaut mich unentwegt an, während ich meiner Phantasie freien Lauf lasse, ich pirsche mich an das weiße Cabriolet heran, lautlos versteht sich, beim Räuber - und Gendarmspiel immer einer der besten gewesen, der Schlüssel steckt, einfach einsteigen, bis zur nächsten Kurve und dann in den Wald fahren, zu Fuß zurück und leise anschleichen, Reaktionen abwarten, das blöde Gesicht des Besitzers sehen, wenn er entdeckt, dass sein Wagen weg ist, vom Plan, den Wagen im Wald verschwinden zu lassen, komme ich ab, das letzte Auto, ich bin sieben Jahre alt gewesen, habe ich in den Bach gesetzt, was eine Feuerwehrübung und eine Tracht Prügel zur Folge gehabt hat, nein, diesmal mache ich etwas anderes, ich werde hupen, die Hupe feststellen, das reicht, vielleicht kommt ja jeden Moment Marietta, das Haus, geradeaus liegend, in Sichtweite, unten in der Küche brennt Licht, vielleicht wäscht sie gerade ihre Haare, sie hat wunderbare lange Haare, die Marietta, wenn sie frisch gewaschen sind, duften sie, das man es nicht beschreiben kann, in der Hosentasche suche ich nach Streichhölzern, breche eines ab und stecke es in die Mitte des Lenkrades, die Hupe ist festgesteckt und verbreitet einen ohrenbetäubenden Lärm, der Hund am Fischweiher bellt, Flaschen klirren, der Einarmige wird mal wieder besoffen sein, ich springe in den Straßengraben, Zeit vergeht, mein Herz klopft schnell vor Aufregung, ein Mann taucht aus dem Wald auf, dabei den Reißverschluss an der Hose schließend, mit rotem Kopf und Schweiß auf der Stirn, ich unterdrücke mein Lachen, er schaut auf die Straße in beide Richtungen, bevor er das Streichholz entfernt, mit einem lässigen Sprung ist er im Wagen, wischt sich mit dem Taschentuch über die Stirn, fährt sich, mit einem Blick in den Rückspiegel, durch das Haar, im Handschuhfach sucht er nach Zigaretten, fündig geworden, zündet er sich eine an, genüsslich macht er den ersten Zug, fast so wie in der Kinoreklame, dann, urplötzlich, fängt er an zu lachen, ein lautes, unangenehmes Lachen, Zahngold wird sichtbar, er dreht den Zündschlüssel um und fährt los, sein Lachen aber ist lauter als der Motor, sein Lachen ist unerträglich.


Dieses Lachen lässt mich keinen Schlaf mehr finden, bewirkt Schweißausbrüche. ich ertrage kein Lachen mehr. Jedes Lachen ist unerträglich, verdächtig. Alpträume verfolgen mich bis tief in den Tag hinein. Ich meide auf einmal Menschen, die andauernd einen Witz auf den Lippen haben. Lachen ist zum Alptraum geworden. Fröhliche Menschen verursachen einen Brechreiz. Ich bin ein Gefangener dieser Bilder. Dieses Lachen hat mich an die Kette gelegt.


Gerade in dem Moment, als ich den Straßengraben wieder verlassen will, taucht Marietta aus dem Wald auf,  der Mund blutig, geschwollen, die Wangen rot mit dem weißen Abdruck einer Männerhand, ihre Bluse zerrissen und voller Dreck, ihre Hände in den Schoß gepresst, sie weint lautlos, warum stehe ich nicht auf und gehe auf sie zu, ich schäme mich, will das Blut nicht sehen, verquollene Augen, drehe mich ab, der Vater hat recht, ich bin ein Feigling, ein Schwächling, zu nichts zu gebrauchen, Traumtänzer, Taugenichts, sie taumelt nach Hause, die Straße hinunter, eine gerade Strecke, das Haus immer in Sichtweite, vielleicht ist sie nur gefallen, über einen Baumstumpf gestolpert, alles nur ein dummer Zufall, wäre da nicht dieses Lachen, dieses unerträgliche Lachen.


Ich werde wach.

Mein Gegenüber grinst mich an.

Sie hätten sich sehen sollen, wirklich zu komisch.

Ich stehe auf und verlasse das Abteil.

Die Toilettentür klappert. Ein beißender Geruch auf dem Gang. Mich friert. Einfach lächerlich, jetzt hier draußen auf dem Gang zu stehen und eine Zigarette zu rauchen. Ich spüre die Blicke meines Gegenübers im Rücken. Gehe ein paar Abteile weiter. Überall sind die Vorhänge zugezogen. Der beißende Geruch wird stärker. Aber jetzt wieder in das Abteil zurückgehen, nein, diesen Triumph gönne ich ihm nicht.

Seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und vor Aufregung kaum geschlafen. In der Nacht immer wieder dieselben Träume, aufgeschreckt, verschwitzt, die Decke angestarrt. Vielleicht noch eine Stunde, und ich habe mein Ziel erreicht. Lese die Schilder an den Bahnhöfen, die wir durchfahren, langsam zurückkommende, bekannte Namen.

Die Zigarettenpackung ist noch fast voll. Eine Stunde auf dem Gang ist damit auszuhalten.

Blut auf der Toilette. Ich schließe die Tür.

Mir graut davor, in einer Stunde auszusteigen. Papierkrieg wird mich erwarten und vielleicht sogar die Identifizierung des Onkels im Leichenschauhaus.

Wie sieht ein Mensch aus, der aus dem Mansardenfenster gesprungen ist?

Und dann dieser Hutter, der mir geschrieben hat. Seit Tagen kreisen meine Gedanken um diesen Hutter. Was ist das für ein Mensch, der sich als Freund meines Onkels ausgibt, mir ein Ticket und einen Barscheck schickt?

Der Onkel hatte mich die ganze Zeit unseres Zusammenseins immer wie ein

Erwachsener behandelt. Wahrscheinlich aber in mir doch nur das Kind gesehen, den Sohn seines verhassten Bruders. Sein Haus kannte ich nur von außen. Mich hatte er immer im besten Hotel der Stadt untergebracht. Über fünf Jahre in regelmäßigen Abständen hat er mir an den Wochenenden das Hotel bezahlt.

Menschenscheu, hat der Vater über meinen Onkel gesagt, der mich bei unseren gemeinsamen Essen immer vor dem Humanismus gewarnt hatte. Immer wieder hatte er vom Humanismus gesprochen und mich gewarnt.

Wieder Schweißausbrüche wie vor fünfzehn Jahren, Mittelstufenschüler, Angst vor der großen Stadt, vor neuen Bekanntschaften, vor allem Neuen.

Mit einem Bild von Marietta auf dem Zugflur gestanden, von Australien geträumt, Fluchtpläne gemacht, im Gepäck den Grafen von Monte Christo.

So wie damals gehe ich den langen Gang entlang, wechsle die Klassen, bis ich am Zugende angelangt bin. Die Tür lässt sich einen Spalt öffnen, kalte frische Nachtluft dringt herein. Ich schaue auf die Gleise, zähle die Hochspannungsmasten, die an mir vorbeischießen.


Ein guter Schütze, eine ruhige Hand, ich schieße den Mädchen, die nach jedem Schuss vor Vergnügen kreischen Plastik - und Papierrosen, für Marietta schieße ich einen Teddybären aus Plüsch, wozu ich nur ganze fünf Schuss benötige, Marietta ist stolz auf mich, nur auf den Fotoapparat mit Selbstauslöser schieße ich nicht, irgend etwas hindert mich, die Begeisterung schlägt um, nein, ich schieße nicht auf diesen Fotoapparat mit Selbstauslöser, auch wenn jetzt Marietta mir den Teddybären zurückgeben will, sie möchte das Bild von mir, Marietta hat sich verändert, seitdem sie keine Röcke mehr trägt, ich hätte es ihr sagen sollen, alles, aber ich bin ein Feigling, da hat sie schon ganz recht, sie ist mit den anderen gegangen, hat mich einfach stehen lassen, mit dem Teddybären aus Plüsch, dem jetzt schon ein Auge fehlt, gehe ich nach Hause, ich schieße nicht auf Fotoapparate, irgendwann am Fischweiher, werfe ich den Bären hinein, Hunde bellen, der besoffene Einarmige flucht, kehre auf halber Strecke wieder um, das verlorene Knopfauge zu suchen, der Tanz ist zu Ende, die meisten Stände geschlossen, nur der Vogelstimmenimitator verkauft noch seine Plättchen an ein paar Betrunkene, die sie beim ersten Ausprobieren sofort wieder verlieren, auf unserem Platz, hinter der Musikkapelle, verwaist Mariettas Lebkuchenherz, der kleine Spiegel obenauf  zerbrochen, suche zwischen den Sägespänen und dem hohen Gras nach dem verloren gegangenen Knopfauge, ein hoffnungsloses Unterfangen.


Der Zug vermindert seine Fahrt.

Ich verliere ein wenig an Halt, gehe mit in Fahrtrichtung, meinem Ziel entgegen.


Filmriss

Dieser Roman wurde mit einem Arbeitsstipendiums des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

Alle Rechte bei Johannes Wierz 


1.


Ich ertappe mich dabei, wie ich im Badezimmer stehe und die Luft anhalte. Selbst das Licht habe ich ausgemacht, um mich besser auf die Geräusche konzentrieren zu können. Da ist aber nur mein Herzschlag, der immer schneller wird, je länger ich die Luft anhalte. Nicht einmal eine halbe Minute halte ich aus, dann japse ich nach Luft, verfalle in meinen chronischen Raucherhusten und mache das Licht wieder an, weil ich in der Dunkelheit das Gefühl habe, der Boden unter mir würde wanken.

Hinter den Kacheln der dünnen Badezimmerwand befinden sich auch Kacheln. Sie werden dieselbe Farbe wie die meinen haben. Da wird er stehen und vielleicht so wie ich auf die Geräusche aus der benachbarten Wohnung lauschen. Ich halte mein rechtes Ohr ganz dicht an die Steckdose, die hoch über dem Waschbecken angebracht und durch eine Klappe, die von einer strammen Feder gehalten wird, gesichert ist. Beim Zurückweichen muß ich schnell sein, sonst schnellt die Klappe einfach zurück und klemmt mein Ohr ein. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich schmerzfrei an der Steckdose habe lauschen können. Kleinere Narben sind zurückgeblieben, aber das nehme ich in Kauf.

Ich drehe den Wasserhahn auf, lausche den Geräuschen. Lasse es lange laufen, ehe ich in Sekundenschnelle wieder abdrehe. Mein unsichtbares Gegenüber scheint genauso flink wie ich zu sein. Nicht einmal die kleinste Verzögerung, geschweige denn ein Echo ist zu hören.

Eine Zeitlang habe ich geglaubt, die Nachbarwohnung stehe leer. Zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten habe ich meine Wohnung verlassen, aber nie jemanden im Flur angetroffen. 

Eines Tages aber, habe ich dann doch im Badezimmer die ersten Geräusche gehört. Erst ein schüchternes Toilettendeckel Aufklappen, dann das Öffnen einer Hosenschnalle. Das tiefe Ein- und Ausatmen eines Menschen, der es besonders schwer hat. Und zum Finale das bombastische Rauschen der Wasserspülung. 

Ab dem Tag ist es mit der Schüchternheit meines Gegenübers vorbei gewesen. Radiogeräusche, das Öffnen und Schließen von Türen, Stühlerücken, Staubsaugergeräusche, Gläserklirren. 

Schonungslos und zu allen Tages- und Nachtzeiten habe ich plötzlich am Leben meines Nachbarn teilgenommen.

Ich weiß nicht, wann mein unsichtbarer Nachbar mich wahrgenommen hat. Aber dass er es getan hat, beweist die Tatsache, dass er seit geraumer Zeit versucht sich mir anzupassen. Erst sehr ungeschickt, hat er es bis heute zu einer fast perfekten Übereinstimmung geschafft. Gehe ich durch die Wohnung, geht auch er durch die Wohnung, schalte ich das Radio ein, höre ich durch die Wand denselben Sender in seiner Wohnung. Benutze ich das Klo, ist auch er schon zur Stelle, tauche ich in die Badewanne ein, was meist mit einem wohltuenden Seufzer verbunden ist, tut er mir nach - wobei ich nicht einmal weiß, ob dieser obligatorische Seufzer von mir oder vielleicht von meinem unsichtbaren Nachbarn ist.

Wenn ich in den Spiegel schaue, mir überlege, ob ich mich rasieren soll oder nicht, eine Frage, die in letzter Zeit über Tage im Raum stehen bleiben kann, sehe ich oft meinen Gegenüber. Plötzlich wird mein unsichtbarer Nachbar, der in perfekter, aber auch in penetranter Art und Weise ein Meister seines Faches in punkto Synchronisation geworden ist, im Spiegel sichtbar. Ein unangenehmes Gesicht mit leeren Augen. Ein fremdes Gesicht mit der Botschaft auf der Stirn, mich muss man nicht kennen lernen.

Anfangs habe ich gedacht, ich würde in leere Augen, folglich in eine leere Welt schauen. Aber so ist das nicht. Hinter dem Schleier der Ausdruckslosigkeit befindet sich eine Welt, eine in sich funktionierende eigene Weltkugel, die mir nur verschlossen ist. Ich bilde mir durch das konstante, manchmal über Stunden in den Spiegel starren, ein, irgend etwas doch über den anderen hinter den Kacheln, der Wand, da wo dieselben Kacheln kleben, wie bei mir, etwas zu erfahren. Man muss nur lange genug in diese, der Außenwelt verschlossenen leeren Augen schauen. Zwei große Gummischläuche, die sich dehnen, wenn man in sie eindringt und die sich, je tiefer man vordringt, als kompliziertes Wegenetz entpuppen. Ich beuge mich weit über das Waschbecken, versuche so dem Spiegel und somit den Augen meines unsichtbaren Nachbarn so nah wie möglich zu sein.

Wie schnell doch ein Ausblick und dadurch ein Einblick beschlägt.

In Sekundenschnelle ist mein Gegenüber verschwunden. Ein leichter hauchdünner Nebel, hervorgerufen durch meinen flachen Atem, der beweist, dass ich lebe, zerstört das Bild, lässt tiefere Einblicke nicht zu. Es ist an der Zeit, dass ich das Bad, die Wohnung, das Haus verlassen muss. Die Zunge trocken, wie Schamottestein aus einem Brennofen, ist ein untrügliches Zeichen, dass ich schon viel zu lange nicht mehr draußen gewesen bin.

So bin ich dann mit dem Brief, der den Stempel des Amtsgerichts trägt und ungeöffnet in der Innentasche meiner Jacke zwischen Futter und Futter steckt, in das Café gegangen.

Das Öffnen des Briefes würde überhaupt nichts ändern. Sicherlich kann ich binnen zehn Tagen Widerspruch einlegen, aber das ändert die Tatsachen nicht. Der Tatbestand ist nun mal eindeutig. Ich bin in die Realität zurückgeholt worden. Der Brief ist nicht ausschlaggebend gewesen. Den Brief mit dem Stempel des Amtsgerichts habe ich erwartet, so wie ich alle Katastrophen in meinem Leben habe kommen sehen. Die kleinen Warnungen habe ich stets ignoriert. Der Brief jetzt ist nur eine Konsequenz meines Lebensstils, meines fehlenden Lebensstils. Ich besitze nichts, noch nicht einmal eine Anstellung. Ohne Lebensanstellung auch keine Lebenseinstellung, die man herzeigen könnte.

Schatten, Schattenriss, damit bin ich stets zufrieden gewesen, habe mich beispielsweise im Kino immer so gesetzt, dass mein Schatten auf der Leinwand zu sehen gewesen ist. Ohne zu fragen, habe ich mich jedem Film aufgedrängt, mich in jede abgeschlossene Geschichte gezwängt.

»Rübe runter! Rübe weg!«, haben sie im Kino lauthals gerufen, was mich keineswegs irritiert hat, im Gegenteil, das Gefühl wahrgenommen zu werden, ist stets ein sehr schönes gewesen. Was hat man nicht alles auf mich geworfen? Bier- und Coladosen, einmal sogar ein paar nagelneue braune Herrenschuhe. Was für ein Triumph, wie bei einem Schauspieler oder Sänger, den das Publikum immer wieder mit ihren da capo, da capo Rufen auf die Bühne zurückholt und ihn mit Rosen überschüttet.

Auch der Brief, der den Stempel des Amtsgerichts trägt und ungeöffnet in meiner Jacke zwischen Futter und Futter steckt, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich wahrgenommen werde. Ich bin registriert, habe eine Aktennummer.

Natürlich ist es für den Briefträger ein innerer Triumph gewesen, mir solch einen Brief zu überreichen, wo ich doch der einzige im Haus bin, der ihm kein Weihnachts- , geschweige denn Neujahrsgeld gegeben hat. Mir solch einen Einschreibebrief mit Rückschein zu überreichen, darauf hat der Briefträger lange warten müssen.

Sein hämisches »bitte unterschreiben sie«, ist mir noch im Ohr.

»Eine Einschreibesendung vom Amtsgericht«, hat er so laut gebrüllt, dass alle Hausbewohner es haben hören können.

Mein Nachbar über mir, der mit den grünen Kniebundhosen, ist natürlich sofort die Treppe heruntergestolpert und hat fadenscheinig nach seiner Post gefragt. Ein Mann, der stets vorgibt, schlecht zu Fuß zu sein, besitzt plötzlich die Leichtigkeit einer Gazelle in seinen Bewegungen. Ohnehin weiß der Nachbar über mir Bescheid. Schon zweimal hat er meine Bankkorrespondenz geöffnet, die er zuvor geschickt mit seinen Fingern aus meinem Briefkasten gefischt und sie dann, nachdem er die Kontoauszüge ausgiebig studiert hat, ohne Umschlag in meinen Kasten zurückgeworfen.

»Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht«, sagt mein Nachbar von oben in seinen lächerlichen grünen Kniebundhosen und wird auch noch vom Postboten durch ein Nicken und ein Grinsen unterstützt, das mich dazu veranlasst, einfach die Tür hinter mir zu schließen, was zur Folge hat, dass mein Nachbar von oben den Postboten über meine finanziellen Verhältnisse aufklärt, natürlich so laut, dass alle Hausbewohner es hören können.

Diese Wohnung ist von vornherein ein großer Fehler gewesen. Ich bin kein Wohnungsmensch, geschweige denn ein Hausgemeinschaftsmensch. Allein das Grüßen auf der Treppe bereitet mir Unbehagen. Im Hotel könnte ich ewig leben. Im Hotel habe ich mich immer wohl gefühlt. Vielleicht nur deshalb, weil ich die Hotelrechnung nie habe selber zahlen müssen.

Oft, wenn ich die Wohnung für ein paar Stunden verlassen habe, träume ich davon, dass bei meiner Wiederkehr das ganze Haus in Flammen steht und ich, Dank der Versicherung, wieder ins Hotel ziehen kann. Aber leider ist das bisher nicht eingetreten, obwohl ich des Öfteren die Herdplatte oder die Kaffeemaschine angelassen habe.

Der Nachbar von oben, der mit den grünen Kniebundhosen, wird, da ich keine Stimmen mehr im Treppenhaus gehört habe, den Postboten in seine Wohnung gelockt haben, um ihm Kopien meiner Kontoauszüge zu zeigen.

Mir ist schwindelig geworden, Nebel vor meinen Augen, der dem beschlagenen Badezimmerspiegel gleicht. Ich bin durch den Flur geschwankt, habe mich immer wieder an den Wänden abstützen müssen, bis ich die rettende Terrassentür erreicht habe.

Ein schöner Freitagnachmittag. Mit Bestimmtheit der letzte sonnige Tag in diesem Jahr, denkt der andere und macht es sich auf der Terrasse, die zu seiner Wohnung gehört, bequem. Da, wo die Bodenplatten abgesackt sind, steht das Wasser. Auf den dunklen Pfützen schwimmen gelbe Oleanderblätter. In den letzten Tagen hat es schon die ersten Regenstürme gegeben. Der Herbst kündigt sich an. Gut, dass es letzte Nacht geregnet hat, denkt der andere, endlich hat es ein Ende mit der mühseligen Gießkannenschlepperei, mit der tagtäglichen Wohnungsgebundenheit, nur damit die Blumen und Sträucher ihr Wasser bekommen.

Jetzt liegen die meisten Blüten und Blätter auf dem Rasen.

Wären es meine Blumen und Sträucher, denkt der andere, würde ich ja nichts sagen, mich nicht beklagen und schon gar nicht über den bevorstehenden Herbst freuen.

Das zweistöckige Haus, in dem er wohnt, und der angrenzende große Garten gehören seiner Schwester. Er ist nur Mieter. Da er aber den hohen Mietzins nicht aufbringen kann, ihn wohl auch nie aufbringen wird können, hat er vor Jahren einen Vertrag unterschrieben, der ihn fast mietfrei wohnen lässt, auf der anderen Seite ihn aber dazu verpflichtet, sich um das Haus und den Garten zu kümmern.

Für die Mieter ist er der Hausmeister und Gärtner. Man hält ihn für mittellos, dass er so eng mit der Besitzerin des Hauses verwandt ist, weiß hier niemand. Es ist von Seiten der Schwester sogar ein Bestandteil des Vertrages gewesen, über die verwandtschaftlichen Besitzverhältnisse zu schweigen.

Nur der große Nussbaum im hinteren Teil des Gartens gehört ihm, ist sein ganzer Stolz.

Dieses Jahr wird er sicherlich zwei Zentner Nüsse abwerfen, die kann ich dann auf dem Wochenmarkt verkaufen, wenn da nicht die Nachbarn wären, denkt der andere und zündet sich eine Zigarette an. Immer wenn er ärgerlich ist, hat er das Bedürfnis zu rauchen.

Erst heute Morgen in aller Herrgottsfrühe hat er durch das Schlafzimmerfenster beobachten können, wie der Nachbar von oben, die durch den Sturm heruntergefallenen Nüsse aufgesammelt hat.

Jeder im Haus weiß, dass es sein Baum und folglich auch seine Nüsse sind. Aber genau dieser Tatsache verdankt er es, dass sich die Mieter im Haus einen Sport daraus machen, ihn zu bestehlen. Im letzten Jahr habe sogar einige Mieter des Nachts unter Zuhilfenahme von Taschenlampen die Nüsse aufgelesen.

Gesindel, alles Gesindel, denkt der andere und schaut durch die Ritzen des Zauns, der neben dem Nussbaum sein ganzer Stolz ist, auf die Straße. Der Zaun ist eine Eigenkonstruktion aus alten Jalousien, die einen Blick nach draußen möglich, einen Einblick aber unmöglich machen.

Gleich werden sie kommen, wie jeden Freitag, denkt er, vollbepackt mit Lebensmitteln und Alkohol, gut gerüstet für das Wochenende. Die übervollen Plastiktüten, die Bierkästen, der Wein und der Schnaps sind doch nur ein  Zeichen ihrer Angst, nicht über das Wochenende zu kommen. Gleich werden sie kommen, vorfahren, wie jeden Freitag, in meine Einfahrt werden sie sich stellen, obwohl sie genau wissen, dass es verboten ist. Nacheinander werden sie die Einfahrt blockieren und ihre Tüten und Kästen in ihre Wohnungen schleifen. Montagmorgen werden die Mülleimer überfüllt sein. Er kann dann wieder alles herunterdrücken, muss in die stinkenden Tonnen steigen, damit es bis Mittwoch, wenn die Müllabfuhr kommt, ausreicht. Rückwärts werden die Mieter einparken, den Auspuff direkt an den Zaun setzen und noch einmal Gas geben.

Die Zigarette ist bis zum Filter geraucht, wird mit einer gekonnten Daumendrehung ausgedrückt, bevor er aufsteht und in die Wohnung geht, um seine Polaroidkamera zu holen. Er spielt schon lange mit dem Gedanken seine Nachbarn anzuzeigen. Die Fotos sollen ihm als Beweismittel vor Gericht dienen.

Seiner Schwester ist diese Art von Vorfällen vollkommen egal. Sie wohnt außerhalb der Stadt und kümmert sich wenig um das Haus. Nur im Sommer kommt sie in regelmäßigen Abständen, um Blumen, die er über das ganze Jahr pflegt, zu schneiden.

Die Polaroidkamera hat er von seiner Schwester zu Weihnachten bekommen, damit er bei eventuellen Schäden, beispielsweise bei einem Wasserrohrbruch, Fotos machen kann, als Beweismittel für die Versicherung. Seine Schwester schenkt ihm nur Dinge, die auch nützlich für das Haus und somit steuerlich absetzbar sind. Zum Geburtstag eine Bohrmaschine, zum Namenstag ein Spannungsprüfer und zu Weihnachten besagte Polaroidkamera.

Die Polaroidfotos von den falsch geparkten Autos der Nachbarn in seiner Einfahrt kommen in einen extra gekennzeichneten Karton mit der Aufschrift Freitag.

Auch von den überfüllten Mülltonnen mit dem nicht getrennten Unrat hat er im Laufe der Zeit Fotos gemacht, die im Karton mit der Aufschrift Montag aufbewahrt sind.

Der andere ist ein ordnungsliebender Mensch. Eine Veranlagung, die man auf den Vater zurückführen kann. Der Vater, Beamter in einer Bundesbehörde, ist bis zu seiner Pensionierung für die Archivierung zuständig gewesen. Zwar sind auch damals schon alle Daten elektronisch auf großen Magnetbändern gespeichert worden, aber, wohl um auf Nummer sicher zu gehen, hat man die Suchkartei, den so genannten Suchkeller, nicht aufgegeben.

Die Suchkartei besteht aus zwei großen Kellergewölben, die während des letzten Krieges als Luftschutzräume genutzt worden sind. In der Abteilung I sind die Akten nach Kennziffern sortiert, in der Abteilung II nach Namen. 

Früher haben in den Semesterferien Studenten im so genannten Suchkeller ausgeholfen. Aber in den letzten Jahren vor seinem Ruhestand sind auch diese nicht mehr gekommen. Überhaupt hat der Vater den Eindruck, dass die Bundesbehörde seinen Keller, dem er vorsteht, vergessen hat. Immer mehr verbringt der Vater allein seine Zeit in der Suchkartei. Selbst in den Mittagspausen bleibt er immer häufiger unten. Zuhause spürt nicht nur die Frau, sondern auch die beiden Kinder die Veränderung. Der Vater spricht nicht mehr, sondern beginnt damit Kartons zu sammeln und zu beschriften. Erst schenkt niemand in der Familie dem Bedeutung. Was ist schon dabei, seine Kontoauszüge und Versicherungsunterlagen geordnet in beschrifteten Kartons zu lagern? 

Die Mutter befällt ein befremdliches Gefühl erst, als der Vater auch für sie Kartons anlegt. Einen mit der Aufschrift Haushaltsgeräte und ihre Bedienungsanleitungen, ein anderer mit dem Titel Küchenrezepte. Auch die Kinder bekommen ihre eigenen Pappschachteln. Hervorzuheben sind unter anderem die Kartons mit der Aufschrift Lob und Freude und Enttäuschungen.

Für den Vater besteht kein Zweifel, dass er gebraucht wird. Ist er doch der einzige in der ganzen Bundesbehörde, der beide Abteilungen der Suchkartei ohne Mühen miteinander verbinden kann. Mit seiner Fähigkeit, Zahlenkombinationen sofort mit dem jeweiligen richtigen Namen in Verbindung zu setzen und fast blind die jeweilige Akte aus einem der unzähligen Regale ziehen zu können, hätte der Vater im Varieté auftreten können. So wenigstens lobt ihn sein Vorgesetzter bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand.




Gully oder die Pfütze des Zufalls

Alle Rechte bei Johannes Wierz 







1.


Ein endlos scheinendes Meer, an einem beliebigen Punkt, schwarzgrau das Wasser, Wellen steigen, übertreffen in ihrer Größe Hochhäuser. Die Natur hat ihr Spielzeug gefunden. Die Natur spielt mit sich selber. An den Rändern der Schaumkronen scheint die Farbe des Wassers ins türkis zu gehen. Ein schöner Kontrast zu den weißen Schaumkrönchen obenauf. Zum Land hin bekommt das Wasser einen blasseren Ton. Blau setzt sich durch, bis das Wasser leise den Sandstrand hoch läuft.

Ein Ohnmächtiger im Outfit eines Schiffbrüchigen könnte jetzt im feinen Sand liegen. Die nackten Beine, die aus der ausgefransten Hose lugen, werden vom Wasser umspült. Ein Stück Treibholz neben dem Kopf macht sich immer gut.

Bevor die Flut kommt, wird der ohnmächtige Schiffbrüchige von einem armen Fischermädchen gefunden. Naturgemäß hat er sein Gedächtnis verloren und wird von dem Mädchen gesund gepflegt. Am Schluss aber weiß er wieder wer er ist und heiratet die arme Fischertochter.

Solche Geschichten enden immer da, wo die Probleme erst beginnen.

In der Realität ist alles anders. Ein Besoffener verlässt die Kneipe, stürzt unglücklich, fällt in eine Pfütze mit Regenbogenrand, denkt vielleicht noch, schmeckt aber komisch, und ertrinkt.

Die Kinder weinen. Eine Frau atmet auf. Ein halbes Zimmer mehr und der Gestank wäre endlich aus der Bude.

Wenn man trinkt, sollte man einen großen Bogen um Pfützen machen. Vor richtigen Säuferkneipen gibt es keine Pfützen. Da kann es noch so geregnet haben. In den Straßen können sich die ersten Grachten gebildet haben. Die Rampe vor dem Eingang ist knochentrocken. Nicht umsonst heißt die schmierige Hütte: Schwemme. Glatteis im Winter, vor der Schwemme nicht, da ist ganzjährig alles trocken.

»Scheiße«, so beginne ich den Dialog mit der Welt, denn ich bin in eine Pfütze getreten. Meine hellen Wildlederschuhe saugen alles auf. Die Küchenrolle, der Tampon, sie haben keine Chance. Meine hellen Wildlederschuhe sind Siegertypen. Entweder war Moses Alkoholiker oder er trug helle Wildlederschuhe. Vielleicht braucht man auch beides, um ein Meer zu teilen.

Ich stehe jedenfalls mit voll gesogenen Schuhen vor einer Tür, in deren Kopfhöhe ein kleines Türchen angebracht ist.

Wer mit vierzig Jahren noch keine Mark auf die Seite gebracht hat, vom Euro oder Dollar ganz zu schweigen, ist ein Idiot oder Schriftsteller.

Mit dreißig Jahren dachte ich schon, ich wäre beides.

Seit drei Jahren lebte ich in diesem Loch und hatte das Gefühl von der Außenwelt nicht mehr wahrgenommen zu werden.

Mit neunzehn Jahren hätte ich alles darum gegeben, hier wohnen zu dürfen. Mit neunzehn Jahren bezeichnete man mich als hoffnungsvolles Talent, selbst das Prädikat Jahrhunderttalent wurde mir bescheinigt.

Ab dem dreißigsten Lebensjahr kam es mir vor, als würde der Abreißkalender auf meinem Klo von selbst dünner werden. Und zwar nicht Tag für Tag, sondern Sekunde um Sekunde.

Das morgendliche Geschäft, nach Genuss der ersten Zigarette, noch nicht ganz erledigt, ich wollte mich gerade erheben, da sah ich, dass schon wieder ein Monat vergangen war.

Wie ein Preisausschreibenjunkie brachte ich damals meine dicken Manuskripte zur Post, unterstützte so ein Staatsunternehmen und sorgte später durch meine ungeheuren Portokosten für einen gesunden Start in eine Aktiengesellschaft. Hätte ich damals statt Briefmarken in Aktien investiert, wer weiß, wo ich heute mein geschwollenes Haupt betten würde.

Ich war so weit heruntergekommen mit dreiunddreißig Jahren, dass ich keinerlei Drogen mehr bedurfte, um meine Birne weich zu bekommen. Ein Monat laues schwammiges Weißbrot aus den Containern der einschlägigen Großhandelsketten und man kommt auf einen ganz besonderen Trip. Vielleicht lag es auch an den Schimmelpilzen, aber diese Erforschung in Bezug auf das Weichmachen von Hirnen überlasse ich gern arbeitslosen Naturwissenschaftlern, die ja zuhauf ratlos durch die Gegend laufen sollen.

Mit vierunddreißig Jahren verkauft längst ein arbeitsloser, ein aus der Universität nie hinausgekommener, akademischer Verlierer das Geoabo an der Tür und verdrängt so den Exknasti mit seiner Praline.

Mit dreiunddreißig Jahren war die Prosa nur Hunger, nur Durst, war alle Enthaltung so viel geworden, dass ich der felsenfesten Überzeugung war, dass im Grunde die Verlage ausschließlich von den unaufgeforderten eingesandten Manuskriptbergen lebten. Ich bildete mir ein, dass Tausende von Menschen jeden Tag zur Post gingen, um ihre literarischen Ergüsse zu verschicken. Bestes Papier hervorragend geeignet zum Recyceln. In jedem, der unzähligen Copyshops, in denen ich seinerzeit auftauchte, mehr als hundert Seiten gleich fünf Mal kopierte, sah ich ein verkanntes Schriftstellergenie. Unterernährt wie ich, mit weicher Birne, hervorgerufen zum Teil auch durch die Tonerabsonderung der Kopierer und der Klebstoffzusammensetzung der Briefmarken.

Bei jedem Postüberfall, bei dem ausschließlich Briefmarken und große Umschläge geklaut worden waren, schreckte ich auf. Wieder hatte einer dieser unzähligen anonymen Schriftsteller, die sich wie Bakterien über das ganze Land vermehrten, keinen anderen Ausweg mehr gewusst.

Es war doch nur eine Frage der Zeit, dass ich soweit war.

Unterernährt wie ich mit dreiunddreißig Jahren war, fand ich selbst in der Gastronomie oder in Krankenhäusern als dritter Spüler keine Anstellung mehr. Unvermittelbar war das Ergebnis, was mein schwammiges, in Fieberschweiß schwimmendes Gehirn dazu veranlasste, mein Loch nicht mehr zu verlassen. Einzige Ausnahme, die täglichen Streifzüge zu den Containern der einschlägigen Großhandelsketten.

Schnell stellte es sich für mich heraus, dass es nächtens überhaupt keinen Sinn machte, nach etwas Essbarem zu suchen. Die Konkurrenz war einfach zu groß. Neben Katzen, streunenden Hunden, dem Wachpersonal, das immer brutaler wurde, kamen auch noch Typen hinzu, denen es ähnlich ging wie mir, aber im Gegenteil zu mir, vor Gewalt nicht zurückschreckten.

«Musst du ausgerechnet jetzt schreiben?«, fragt meine Frau Heidi, in ihrer seltsamen so eigenen Sprache, die ich so liebe. 

Eigentlich gibt es nichts, was ich an ihr nicht liebe. Ja, ich bin ein glücklicher Mensch. Ein zu beneidender ekelhaft glücklicher Mensch.

Aber hier an diesem Ort werde ich von niemand beneidet. Im Gegenteil, man lächelt mir anerkennend zu und schaut unverblümt auf den geilsten Busen der Welt. Heidis Brüste kennen keine BHs. Sie sind groß und prall. Selbst die dünnste Membran hätte keine Chance von ihnen festgehalten zu werden. Vor zehn Jahren gehörte Heidi noch zur Olympiaauswahl der Synchronschwimmerinnen. Ihre Figur, die braune Haut mit dem blonden Flaum rauben mir immer noch den Atem.

Mein Blick fällt nach rechts und ich schaue wie hypnotisiert auf ihre Brustwarzen, die sich mehr als deutlich unter ihrem hautengen Glitzerkleid eines italo-amerikanischen Designers hervorheben.

»Die Leute schauen schon«, zischt sie, »gerade heute musst du doch nicht den Schriftsteller heraushängen lassen.«

Wenn nicht heute, wann dann, fährt es mir durch den Kopf. Heute ist doch mein Tag. Gleich werden sie meinen Namen aufrufen und ein Bild von mir zeigen. Der Kamerakran wird sich mir auf bedrohliche Weise nähern, damit mich die ganze Welt sehen kann, sozusagen als Beweisstück, dass es mich wirklich gibt.

«Niemand schreibt mehr mit der Hand«, flüstert Santor, der links von mir sitzt.

Santor ist Ungar, wie er behauptet, aber ich glaube ihm kein Wort. Santor ist eine Mischung aus allem. Eine Kreuzung zwischen Straßenköter und Strandhund. In Santor stecken die Gene der ganzen Welt. Vielleicht ist es ja doch möglich, dass mehrere Männer eine Frau befruchten können. Mit Santor könnte ich das auf jedem Genetikerkongress beweisen. Santor ist das Ergebnis eines übergroßen Spermacocktails, den sich seine Mutter reingepfiffen haben muss.

Jeder Mensch hat seine Legende. Also bleibt es dabei. Santor ist Ungar und mein Manager. Alle juristischen und finanziellen Dinge erledigt er. So hat sich seit meiner Geburt im Grunde nichts verändert. Ich besitze nach wie vor keine müde Mark, geschweige denn Euros oder Dollars.

Mit dreiunddreißig Jahren war ich von Schimmel und Mikroben umgeben. in meinem Badezimmer hatten sich dieselben Kulturen angesiedelt wie fünfzig Meter tiefer in der Kanalisation. Mein Bett, das ohnehin immer feucht war, roch wie ein Partykeller aus den siebziger Jahren, der mehrmals von Hochwasser oder zumindest von geplatzten, falsch angestochenen Bierfässern heimgesucht worden war.

Außer Büchern, Manuskripten, Ordner mit Ablehnungsschreiben und defekten Schreibmaschinen besaß ich nichts. Keine Frage, meine Wohnung stank.

Selbst die bekiffteste oder besoffenste Thekenschlampe hätte sich nicht mehr in meine vier Wände verirrt.

Sechsundneunzig Parteien hatte mein Wohnsilo und in einem der heruntergekommenen Wohnklos wurde immer gevögelt. Das Bad mit der Kölner Lüftung, - anfangs mein Zufluchtsort vor den dünnen Wänden -, brachte nichts. Alles musste ich schonungslos mit anhören. Unzählige Abende mit der Bolero-Musik von Ravel in den unterschiedlichsten Versionen. Aber das Gestöhne fing meist erst an, wenn der Tonarm sich diskret auf die Gabel zurückgezogen hatte. Das Aufreißen einer Kondompackung, selbst das Überziehen, meine Ohren waren gezwungen live dabei zu sein.

Ich war der felsenfesten Überzeugung, dass selbst meine Einzeller im Bad sich in diesen Augenblicken wünschten, Säugetiere zu sein.

Es gab Notstände, wo ich kurz davor war, in die Steckdose zu wichsen, um meinem Martyrium ein Ende zu setzen.

Gerade jetzt, wo es spannend wird, reißt mir Santor meinen Block aus den Händen. Heidi öffnet mit zarter Gewalt meine rechte Hand und fischt meinen Füller heraus, den sie in ihrem zauberhaften Dekolleté verschwinden lässt.

»Wehe du lächelst jetzt nicht«, zischt Santor.

Für alle unsichtbar hat sich Heidis Hand unter meiner Smokingjacke ihren Weg zu meinen Rippen gebahnt.

Der Kamerakran nähert sich mir auf bedrohliche Weise. Heidi massiert meine Rippenknochen. Santor macht das Victoryzeichen und zeigt mit der anderen Hand auf mich.

Ich lächle. Ja, ich lächle wie blöde und kann es nicht fassen.

»The winner is....«

Zum ersten Mal höre ich von einer ausgebildeten Stanislawski Schülerin meinen Namen auf amerikanisch. Das klingt so seltsam, dass ich mich überhaupt nicht angesprochen fühle, also auch gar keine Anstalten mache, aufzustehen, nach vorne zu gehen und den Preis entgegen zu nehmen.

»Shit«, zischt Santor.

»Liebling, du musst aufstehen und nach vorne.«

Die Welt starrt mich an, dass ich das dringende Bedürfnis habe mit einem Kosmonauten den Platz in der MIR oder anderen Schrotteilen, die im All herumfliegen, zu tauschen.

Wie ferngesteuert erhebe ich mich und schaue nur in glückliche Gesichter. Kollegen reichen mir die Hand und wollen mir auf meinen verschwitzten Smokingrücken klopfen, dem ich aber geschickt ausweiche.

Federnden Schrittes geht es die Stufen zwischen den Sitzreihen herunter. Um mich herum nur glückliche Gesichter.

Die Bühne erklimme ich wie ein Zehnkämpfer nach dem Gewinn der Goldmedaille.

Überall grelles Licht, so hell, dass ich mich nicht wundern würde, wenn mir Petrus plötzlich entgegentritt, um mir den großen Schlüssel zu überreichen.

Vielleicht in Erwartung dieses großen Mannes mit Bart habe ich zu spät die schimmernde Pfütze vor dem Rednerpult gesehen. Ich trete voll hinein und lege mich dann der Länge nach hin, nachdem mir die Schauspielerin, die den versiegelten Umschlag geöffnet hat, mir unverhofft auf die Schulter klopft. Beißender Geruch, denke ich. Meine Nase taucht zur Gänze in die schimmernde Pfütze ein und schon verliere ich das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir komme, trage ich Weiß, halte in meinen verkabelten Händen ein vergoldetes Männchen ohne Geschlechtsteile. Unentwegt piept es.

»Mach doch einer dieses gottverdammte Handy aus«, stöhne ich.

Meine Lippen schmecken säuerlich bitter. In der Nase immer noch diesen beißenden Gestank.

»Was ist passiert?«, frage ich ohne meine Augen zu öffnen.

»Die Zeitungen sind voll von dir. Es gibt keine Fernsehstation in der Welt, die nicht über dich berichtet hat«, höre ich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache sagen.

»Du bist in die Geschichte eingegangen. Du bist der erste, der die Trophäe bewusstlos in Empfang genommen hat!«

»Bullshit«, flucht im Hintergrund Santor.

»Du bist ein Held!«

»Leider, kein Studio wird uns mehr anrufen!« 

»Der deutsche Botschafter hat Blumen geschickt und wünscht gute Besserung. Auch war der Anwalt der Schauspielerin da. Bevor wir erwägen zu klagen, bietet er uns einen Vergleich über zwanzig Millionen an.«

Mir ist das alles zu viel. Ich höre auf das gleichmäßige Piepen. Wenn das kein Handy ist, kann es sich nur um meine Eingeweide handeln, die sich elektronisch zu Wort melden.

So lange es piept, lebe ich noch. Ein beruhigendes Gefühl.

»Du bist in einer Pfütze ausgerutscht«, flüstert mir Heidi zu und drückt mir ihre heiße Wange ans Gesicht.

»Die Preisträgerin, die für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden ist, leidet an Blasenschwäche, so ihr Anwalt.«

Geahnt habe ich es schon längst, von Anfang an, als mir der beißende Geruch in die Nase gestiegen ist und ich die kleinen Fettaugen gesehen habe, die obenauf schwammen. Jetzt, durch die Gewissheit, weiß mein Körper sich nicht anders zu wehren, als sich vom Mageninhalt zu befreien.

Ich breche, nein, ich kotze, was das Zeug hält. Ich würge, ich verkrampfe, ich weine, würge, würge, um auch den letzten Tropfen dieser alternden fast scheintoten Schaupielerfregatte aus meinem Körper zu bekommen.

Nie Kokain genommen und doch sind jetzt meine Nasenwände verätzt, für immer verloren, denke ich und falle in einen tiefen Schlaf.

Ich kenne meine Träume. Realistisch von Anfang bis Ende. Anstatt in ein Koma zu fallen, werde ich so wieder heimgesucht.

Da liege ich also auf dem Boden und schaue auf einen halbgeschlossenen Frauenschuh.

Ein Geruch von gefärbten Italoleder, einer süßlichen Salbe und schwitzenden Füßen, hervorgerufen durch einen hartnäckigen Pilz, bahnt sich seinen Weg in meine Nebenhöhlen.

Was gäbe ich darum, noch Polypen zu haben, in der Hoffnung, die Dinger könnten den Geruch vielleicht stoppen, zumindest aber filtern.

Der Anblick des blauroten Aderdeltas gemischt mit weißem Schorf nicht ertragend, schaue ich nach oben ins ungewisse Dunkle. Ich orientiere mich an den Krampfadern, die so dick sind wie Aufzugsstahlseile.

Ein beißender Geruch, eine Mischung aus Verwesung, Alkohol, verbranntem Plastik und hochgiftigen Medikamenten dringt in meine Nase.

Viel zu spät bemerke ich das Rinnsal. Und als ich es bemerke, ist daraus längst ein Wasserfall geworden. Unverblümt gehen in meine Richtung Gase ab.

Aus innerer Not heraus weiß ich mir nicht anders zu helfen und zünde das Feuerzeug, um Licht in die Dunkelheit zu bringen.

Über mir eine gewaltige Explosion.

Ich gehe in Deckung, werde aber von riesigen Fleischstücken getroffen. Eine harte Leber streift zum Glück nur meinen Kopf. Eine Perücke landet neben mir. Gebogene starre Augenwimpern bohren sich wie Akupunkturnadeln in meinen Rücken. Da folgt ein Gebiss, das an meinem Hintern abprallt und zur Seite kullert. Das Auge, das genau vor meinem Gesicht zum Liegen gekommen ist, starrt mich an. Ich drehe mich auf den Rücken und schon kommen sie geflogen, diese dicken Dinger, die ich wie ein Baseballspieler fange. Implantate der dritten Generation.

Ein langer warmer Kuss holt mich rechtzeitig zurück ins Leben.

Mit beiden Händen halte ich Heidis wunderbaren Synchronschwimmerbusen. Ich spüre, wie ihr Herz schlägt. Das ist die Wirklichkeit.

Verschämt lasse ich los.

»Hast du wieder einen Alpentraum gehabt?«, fragt mich Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache.

»Alptraum, mein Schatz. Es heißt Alptraum.«

Erst jetzt registriere ich, dass wir uns in unserem Strandhaus in der Nähe von Santa Barbara befinden.

Mein Krankenbett hat man direkt an das große Panoramafenster gerollt, von wo aus ich einen wunderbaren Blick auf das Meer habe

Mit dreiunddreißig Jahren war ich anderes gewohnt. Da flogen nach einem verpatzten Fußballspiel der Nationalmannschaft Fernseher aus dem Fenster oder vor Beginn der Sommerferien kleine Hunde oder Katzen aus dem zwölften Stock des gegenüberliegenden Wohnsilos. Ein paar vertrocknete, ausgehungerte Rentner versuchten denselben Weg, wurden aber meist im zehnten Stock auf die Balkone geweht.

So einfach ist das nicht, aus dem Leben zu scheiden.

Die Löffel kann man ins Pfandhaus tragen, solange sie nicht aus Blech oder Plastik sind. Aber sich wirklich den letzten Rest aus einem schwammigen Hirn zu pusten, dazu gehört schon mehr.

Der Hausmeister, der mir bei meinem Einzug die gebrauchte Klobrille montiert hatte, erzählte irgendwann, nachdem fünften oder zehnten Bierchen, als die Flasche Bauernstolz auch nichts mehr hergab, dass einer aus dem vierzehnten Stock, den Strick um den Hals vom Balkon gesprungen ist und eine Etage tiefer, seine letzten Zuckungen hatte. Es aber immerhin noch geschafft hatte mit seinem unkontrollierten Urinstrahl, den Holzkohlegrill der Familie Grabowsky auszulöschen.

Für mich keine Frage, wessen Nachfolger ich in Bezug auf die Klobrille war.

Eine Woche nach meinem Einzug erlebte ich die erste Zwangsräumung. Ich lag im Bett, schlief oder träumte irgendetwas Aufmunterndes, da knackte es laut von allen Seiten, so als ob Knochen gebrochen würden. Es war aber nur Holz, was ich beruhigend feststellen konnte, als ich schlaftaumelnd zu meinem Türgucki schlich und in Fischaugenperspektive beobachten konnte, wie Typen in braunen Overalls in der gegenüberliegenden Wohnung, die komplette Einrichtung aus dem Fenster warfen. Nur die Stereoanlage, der Fernseher und das immense Leergut hielten sie zurück.

Ich nahm eine meiner beiden Matratzen und lehnte sie gegen die Tür, um den Lärm zu mildern. Dann schlurfte ich zurück ins warme Bett.

Eine Woche nach meinem Einzug wollte ich von der Realität nichts wissen.

Natürlich las ich damals die Zeitungen, bekam auch mit, wie die Arbeitslosenzahlen immer mehr in die Höhe schossen, obwohl gleichzeitig immer mehr Familienväter sich und ihre Frauen und Kinder gewaltsam auslöschten.

Noch aber war mein Bett warm, von Feuchtigkeit keine Spur und meine Schreibmaschine funktionierte.

»Sie müssen sich in der Akademie vertan haben. Du bist der erste, der auf Anhieb gewonnen hat. So viele Feinde haben wir auch nicht, dass sie uns so etwas antun würden«, klagt Santor.

»Ich will nur meine Ruhe habe«, stöhne ich wehleidig.

»Die nächsten Jahre werden wir von der Substanz leben müssen. Darauf gilt es sich einzustellen.«

»Du vergisst die zwanzig Millionen Dollar Schmerzensgeld.«

»Vielleicht ist mit einem guten Anwaltsbüro das Doppelte herauszuholen?«

Heidi, die ohnehin meine Gedanken lesen kann, zieht aus ihrem zauberhaften Dekolleté meinen Stift, worauf Santor auch nicht anders kann, als mir den Block zurückzugeben.

Durch die Fernbedienung an der Seite verstelle ich das Kopfende meines Krankenbettes bis ich aufrecht sitze.

Vor mir die Brandung des Meeres.

Ein endlos scheinendes Meer, aber das hatten wir ja schon.


2.


Mit achtundzwanzig Jahren war ich endlich so weit, um die Spielklasse zu wechseln. Aus Arbeitslosengeld wurde Arbeitslosenhilfe. Ein kleiner Schritt für die Verwaltung, aber gegen alle Erwartungen ein noch kleinerer für mich.

Ich war endlich da, wo ich hinwollte. Endlich hatte ich meine Ruhe, war mit meiner Schreibmaschine allein und eine wunderbare Liebesbeziehung konnte beginnen.

Ich nahm mir vor, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Aus der Distanz heraus wollte ich schreiben, ohne ständige Musikberieselung und dummen Sprüchen, billigem Parfüm und aufdringlichen Alkoholfahnen.

Das, was ich tagsüber, aber auch nächtens, durch meine Steckdose, die dünnen Wände und nicht zu vergessen die Kölner Lüftung hörte, reichte aus für mehrere Romane. Außerdem hatte ich noch das Nachtglas mit dem ich von meinem Balkon aus eine wunderbare Aussicht auf die Fenster des gegenüberliegenden Wohnsilos hatte, die die Wirklichkeit zu genüge widerspiegelten.

Eines Nachts, zu Beginn meiner schöpferischen Phase, kam ich auf die geniale Idee, morgens gegen drei Uhr meinen Müll nach unten zu bringen.

Allein das minutenlange Warten auf den Aufzug hätte mich stutzig machen müssen. Ich rauchte eine Kippe bis weit über den Tabak hinaus, zündete mir an der glimmenden Watte eine Neue an, die ich dann, als der Aufzug endlich auf meiner Etage hielt, auf dem Glas des Feuermelders ausdrückte.

Die Lifttür öffnete sich und im selben Moment drückten ungefähr zehn zahnlose aschfahle Typen mit Mülltüten in ihren zittrigen Händen ihre selbst gedrehten dünnen Zigaretten auf dem PVC-Boden aus.

Als einziger nicht Zahnloser, auch war mein Äußeres zu diesem Zeitpunkt noch recht gepflegt, hielten sie mich wohl für eine Art Respektsperson.

Ich tat so, als wollte ich nur nächtens kontrollieren, ob der Fahrstuhl ginge und gab mit der freien Hand ein Zeichen zur Weiterfahrt, wie ein Fahrgast an der Haltestelle beim Auftauchen des falschen Linienbusses.

Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, da befand ich mich bereits auf der Feuertreppe und lief wie ein Wahnsinniger nach unten.

Natürlich war unten im Parterre der Notausgang verschlossen, zumindest vermutete ich das, denn ab den letzten fünfzig Stufen war kein Durchkommen mehr. 

Bis zur Decke stapelten sich die Mülltüten. Ich warf meine dazu und stieg keuchend, wie ein Fisch an Land nach Luft schnappend, wieder nach oben.

Im zehnten Stock angekommen, öffnete ich mit zittriger Hand meine Wohnungstür und taumelte in mein Wohnklo, wo ich vor meiner ersten Schreibmaschine, die ich als Kind geschenkt bekommen hatte, völlig entkräftet zu Boden kam. Eine alte Continental mit runden Tasten. Die Muckibude unter den Schreibmaschinen.

Angefangen hatte eigentlich alles in der Pubertät, in der Phase, wo meine Schulkameraden zu Karnickeln mutierten, nur ich irgendwie nicht. Vielleicht hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon zu viele Bücher gelesen und war so folglich für das Leben versaut. Ich wollte reden, Händchen halten und wartete gespannt darauf, dass auch mich die große Liebe erfassen und ich alsbald wie ein Heliumballon vom Boden abheben würde.

Nichts dergleichen geschah. Bleischwer saß ich auf meinem Stuhl, ähnlich wie im Sportunterricht, wo ich auch nur als letzter unter murren der Mannschaft, der ich zugeteilt wurde, mich erheben durfte. 

Auf den Partys jedenfalls blieb ich immer allein sitzen. 

Bis dato gab es nur zwei Möglichkeiten, um über diese Abende zu kommen. Entweder Musik auflegen, was meist von dem Jungen mit der stärksten Akne erledigt wurde oder als Kurierfahrer Kneipen und Tanken abfahren, um den Getränkenachschub zu gewährleisten.

Beides kam für mich überhaupt nicht in Betracht. Einfach diesen Veranstaltungen fern zu bleiben, auf die Idee kam ich nicht. 

Natürlich stellte ich mir damals schon die Frage, zu welcher Minderheit ich eigentlich gehörte. Es musste ja einen Grund geben, warum diese Zicken mit mir keinen Blues tanzen wollten. Vielleicht hätte ich eins der kleinen Biester ansprechen sollen, die mir das Leben so schwer machten.

Nach kurzer Überlegung, entschied ich mich für die aristokratische Lösung.

Die Königin von England war damals auf Besuch. Sie zwinkerte mir durch den Fernseher zu und machte mich dadurch insgeheim zu ihrem Ritter.

Nicht ausgelebte Hormonstöße haben wohl dieselbe Wirkung wie Drogen.

Natürlich musste noch die Frage beantwortet werden, welchem Tätigkeitsfeld ich mich zu widmen hätte.

Drachen töten, kam nicht in Betracht, dafür war die Königin von England damals schon zu alt. Außerdem hieß es, dass Englands Drachen in der Gewerkschaft seien und nur noch selten auftraten. Ich aber suchte eher nach einer ganzjährigen Beschäftigung. Polospieler (mit Pferden hatte ich es nicht so), Wohltätigkeit (meine Taschen waren damals schon leer). Ich entschied mich nach kurzer Überlegung fürs Schreiben.

Draußen auf den Straßen tanzte der Bär, der kurz davor war, ein kleines Ei zu legen. Startbahnwest und Gorleben zu weit weg und außerdem machte mich das Danke beim Slogan Atomkraft nein danke ziemlich misstrauisch.

Während die anderen in meinem Alter ihren Trieben freien Lauf ließen und in den Rammelpausen Joints und Alkohol in sich hineinpfiffen, saß ich auf den alten Plüschsofas, den Block in den Händen und schrieb, immer die Angst im Gesäß, gleich könnte sich die Feder einen Weg durch den abgewetzten Stoff bahnen. 

Lyrik und Lieder waren das erste, was ich zu Papier brachte. Ein paar Griffe auf der Gitarre konnte ich und die Liedermacher hatten allerorts Oberwasser. 

Eine Aneinanderreihung von Wörtern, die in kleinen Blöcken schnell eine Seite füllten und vor allem bei den Mädchen für Aufmerksamkeit sorgten.

Was brauchte ich ein Mofa, einen Roller, ein Auto, bei der Fülle an Gedichten, die entstanden.

Draußen auf der Straße machte es unterdessen Plop und das Taubenei war gelegt.

Unten in den Partykellern verklärte leuchtende Augen mit einem Wasserfilm. Nach jedem Drink oder Joint etwas schwammiger bis hin zu einem rötlichen Schimmer.

Ein endlos scheinendes Meer, das stetig die Farbe wechselt, bis sich das rötliche Tuch der untergehenden Sonne zur Gänze vor meinen Augen verteilt hat.

Aufrecht in einem Krankenbett in einem Strandhaus, das den Namen eigentlich nicht verdient, in der Nähe von Santa Barbara, zu sitzen, ist eine Sache, gleichzeitig auch noch zu schreiben, eine andere. Die Kräfte lassen nach und mir brummt der Schädel.

Ich machte Abitur, gestand auf der Abschlussfeier einer Mitschülerin meine Gefühle, worauf sie nur in ein schallendes Gelächter ausbrach.

Als sie mir sagte, dass ich mich verpissen sollte, blieb ich wie angewurzelt vor ihr stehen, beobachte, wie die Farbe aus ihrem geschminkten Gesicht wich, als sie mein Ding sah. Gern hätte ich es ihr in voller Pracht präsentiert, aufrecht und stolz, aristokratisch eben.

Immerhin war sie das erste weibliche Wesen, mit Ausnahme meiner Hebamme und meiner Mutter, die meine bis dato nutzlose Männlichkeit zu Gesicht bekam.

Irgendwo hatte es in meinem Hirn bei dem Wort verpissen Klick gemacht. Im Grunde nahm ich sie ja nur beim Wort.

Da ich schon einige Bierchen intus hatte, traf sie ein heller schaumiger Strahl. Ich versuchte ein Muster auf ihrem Kleid, aber sie drehte sich ab, was ihr nicht viel nutzte. Mein Tank war voll und der Druck ausreichend.

Ich folgte ihr auch noch aufs Klo, wo sie einen Weinkrampf bekam und sich zu allem Überfluss auch noch übergab.

Pick, Pick, das Ei bekam Risse und ein kleiner zerzauster Vogel entstieg der zerbrochenen Schale.

In der Universität hatte ich dann alles Geisteswissenschaftliche bis auf Theologie belegt.

Die Gesellschaft durchlebte mal wieder einen Wandel, wie es hieß. Es gab Stellenanzeigen in denen Sozialpädagogen, -arbeiter, selbst Soziologen und Germanisten noch zuhauf gesucht wurden. Institute wurden gegründet, Projekte, Bürgerzentren aus der Taufe gehoben. Zwar gab es Hausbesetzungen, aber der Bär hatte sich längst in seine Höhle verkrochen, was ein paar wenige nicht glauben wollten und immer noch unermüdlich vor allen Ein- und Ausgängen der Uni und der Mensa ihre Klassenkampf ideologisch gefärbten Flugblätter verteilten, wie die Brüder und Schwestern der Zeugen Jehovas.

Dabei mauserte sich die kleine Friedenstaube immer mehr zu einem ausgewachsenen Vogel.

Da Frauen zu diesem Zeitpunkt noch andere Prioritäten setzten, waren die Männer in meiner Fakultät in der Minderheit, was mir natürlich zum Vorteil geriet.

Der Heliumballon wollte zwar immer noch nicht starten, aber mich kurzfristig als kalifornischer Wellenreiter zu betätigen, gefiel mir in Anbetracht all dieser schönen wohlgeformten Wellen auch nicht schlecht.

So ließ ich mich vom Wasser tragen und erlebte mit jeder neuen Welle einen neuen Höhepunkt.

Rundherum ein schönes Bild, hätte es draußen am Haupteingang zum Campus nicht diesen Bücherkarren gegeben.

Ich war den Büchern, die mich für das Leben versaut hatten, treu geblieben. Vielleicht aus Dankbarkeit, immerhin hatten sie mich vor der Pubertät und ihrer Folgeschäden bewahrt. Die Akne war mit ihrer übermächtigen Streitmacht an Pickeln spurlos an mir vorbeigezogen. Auch war mir das erste Mal erspart geblieben, von dem man sagt, dass man voller Wehmut im hohen Alter noch daran denken würde, vor allem beim halbstündigen schmerzlichen Wasserlassen.

Für mich war jedes Mal das erste Mal und ich hoffte insgeheim, das, bis zum Ende meiner Tage, durchhalten zu können.

Mit der Dankbarkeit, noch einmal davon gekommen zu sein und der Leichtigkeit des Wellenreiters ging ich unbedarft auf die Holzbude zu und kaufte ab und zu ein paar Raritäten.

Kurz bevor der Bücherkarren in meinem Bewusstsein die Stelle eines Kiosk einnahm, an dem man die täglichen Wegwerfzeitung kaufte wie ein Ritual, kam ich mit dem Mann ins Gespräch, der bei Wind und Wetter bei seinen Büchern war, wie ein Hirte bei seiner Herde.

»Da habe ich auch mal studiert«, sagte er wie eine Erfolgsmeldung und fügte hinzu, dass er gerade an seiner Doktorarbeit schreiben würde.

Ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob ich die rollende Bude nicht übernehmen könnte, da sah ich eine wunderbare, gut erhaltene Gesamtausgabe von Kleist aus den zwanziger Jahren, die bei mir die Gier nach Besitzstand auslöste.

»Was soll die kosten?«, fragte ich den angehenden Herrn Doktor.

»Eigentlich unverkäuflich«, kam es knapp aus ihm heraus, als wollte er mir sagen, dass ich stattdessen eine Niere von ihm haben könnte.

»Und, warum steht sie denn da?«

»Als Blickfang.«

»Unsinn!«

»Seit sie da steht, habe ich mehr Kunden.«

An diesem Tag ließ ich ihn in Ruhe, obwohl mich seine Antworten nicht im Geringsten befriedigt hatten.

Das sie hätte mich stutzig machen müssen.

Später kamen wir dann doch ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er seit zehn Jahren an seiner Doktorarbeit schreiben würde. Sein Thema war die Deutung des berühmtesten Auslassungszeichens aus Die Marquise von O...

»Du weißt schon«, sagte er und tat so beflissentlich, als ob ich zu den Eingeweihten gehörte. Dabei war ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mit Kleist vertraut, hatte ich doch gerade meine Lern- und Lehrstunden als Wellenreiter.

Immer wieder nahm ich mir vor, mich mit Kleist zu beschäftigen, um mich mit dem Hirten der Bücher über Die Marquise von O... unterhalten zu können. Aber dazu kam es nie.

Eines Tages war die wunderbare, gut erhaltene Gesamtausgabe von Kleist aus den zwanziger Jahren aus dem Regal verschwunden und mit ihr auch der Hirte.

»Verkauft«, sagte knapp der neue Mann an der rollenden Bude, der eher ins Flohmarktgeschäft oder in eine Pommesbude gepasst hätte.

Zwei Wochen später erfuhr ich, dass sich der Hirt, nachdem er erfahren hatte, dass seine Gesamtausgabe verkauft worden war, von seinem letzten Geld eine Fahrkarte nach Berlin gelöst und sich am Wannsee, an derselben Stelle wie Kleist, erschossen hatte.

»Solch eine Geschichte kannst nur du erzählen«, sagt Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache und macht Anstalten sich zu mir ins Bett zu legen.

»Die Anrufe aus Europa häufen sich. Allein aus Deutschland über fünfzig Anfragen«, ruft Santor aus einem Nebenraum.

»Wilder hat ein Telegramm geschickt, soll ich es dir vorlesen?«

»Und was ist mit der Dietrich und der Garbo?«

»Dafür liebe ich dich«, sagt lachend Heidi in ihrer seltsamen so eigenen Sprache, presst ihre feuchten Lippen auf meinen spröden Mund und vertreibt endgültig den bitteren Geschmack der alten Schauspielerfregatte.

»Woody Allen will seine Preise zurückgeben, kommt gerade in den News«, schreit Santor aus dem Nebenraum.

»Er gibt gerade ein Interview. Hört euch das an. Er beschuldigt uns, ihm seinen Plot geklaut zu haben. Das mit der Pfütze auf der Bühne sei angeblich auf seinem Mist gewachsen. Bullshit! Jetzt ist unser Marktwert ins Unendliche gestiegen! Uns wird nie mehr ein Studio anrufen!«

»Ich glaube ich bekomme Fieber«, flüstere ich Heidi ins Ohr.

Eine Gänsehaut zumindest habe ich bereits.

Heidi legt sich zu mir. Ich spüre ihren Körper, der sich an den meinen schmiegt.

Ich schließe die Augen und höre die Brandung, die abends stärker wird.

Mit dem lauten Brandungsgeräusch taucht auch wieder dieser Schiffbrüchige auf. Jeder andere hätte das Unglück nicht überlebt, aber der Arsch steht auf und schleppt sich taumelnd an den rettenden Strand. Was für eine Kunst, im sicheren feinen Sand in Ohnmacht zu fallen.

Schneller als ich eigentlich wollte, war mein Studium zu Ende.

Gut, die Ansprüche, die an mich gerichtet wurden, waren nicht sehr hoch gewesen, aber ein, zwei Jahre hätte das Wellenreiten ruhig noch dauern können.

Als ich mit meinem Diplom in der Hand in irgendeiner, der unzähligen hölzernen Studentenkneipen meinen Erfolg begoss, hatte ich schon verloren, nur wusste ich das damals noch nicht.

Die Welt stand mir offen. Ich hatte die Möglichkeit, mich um schwer verhaltensgestörte Kinder, Schulabbrecher, Arbeitslose, Obdachlose, Junkies und, und, und, zu kümmern.

Ich entschied mich für den Babystrich der Stadt, der damals der größte der Republik war. Das ich dort alle Zielgruppen auf einmal antreffen würde, entsprach meinem Hang zum Glück.

Aber wundern, entsprach sowieso meinem Naturell.

Da war Gabi, gerade mal dreizehn Jahre alt. Ein Freier hatte ihr auf einem abgelegenen Parkplatz befohlen, auszusteigen und ihren Kopf durch das Beifahrerfenster zu stecken. In Sekundenschnelle hatte das Schwein das Fenster hochgekurbelt, und die kleine Gabi war gefangen.

Nachdem er sich ausgiebig mit ihrem kleinen zarten dreizehnjährigen Hinterteil vergnügt hatte, trat er ihr vom Fahrersitz alle Frontzähne aus, weil sie nicht aufhören wollte zu schreien.

Jetzt war Gabi mit ihren dreizehn Jahren der Geheimtipp für altfranzsösisch in der Szene.

»Ich hatte echt Glück gehabt«, sagte Gabi und zeigte grinsend ihre riesige Lücke, »die Tine dagegen hat es echt erwischt.«

Tine war erst seit vier Tagen wieder auf der Straße. Sie war zwölf, sah aber älter aus als ihre Mutter, die sie an Arbeiter einer Großbaustelle vermietet hatte. 

Zwei Wochen war Tine in den Wohncontainern gewesen und als man sie völlig entkräftet am Bauzaun gefunden hatte, war mehr als ein stummes Weinen nicht aus ihr herauszubekommen. Seit dem zuckte sie mit den Augen und konnte den Mund nicht mehr geschlossen halten.

»Das Leben hört mit dreizehn auf«, sagte Zora, deren Spezialität es war, den Männern im Bahnhofskino einen zu blasen und gleichzeitig den beiden Nebenmännern einen runter zu holen.

»Nach dreizehn kommt nur noch der Abspann«, sagte Zora, gurgelte sich die Mundhöhle aus und schmiss anschließend ein paar Tabletten ein.

Ich war völlig fehl am Platz. Dauernd hatte ich wegen der Mädchen Ärger mit der Bahnpolizei, weil der Strich hinter dem Bahnhof lag. Die Drogenfahnder wollten mich als Käufer, Spitzel oder sonst was benutzen, naturgemäß ohne Rückendeckung. Außerdem nahm ich immer wieder Mädchen mit zu mir nach Hause, damit sie sich waschen und für ein paar Stunden zumindest zur Ruhe kommen konnten.

Naturgemäß klauten sie mir auch Geld, aber das war nicht wichtig. Viel schlimmer war die Arroganz der Ämter, die von mir verlangten, die Mädchen zu registrieren, auszuhorchen und in irgendwelche geschlossenen Anstalten zu verfrachten, wo sie ohnehin nach ein paar Tagen wieder ausbrechen würden.

Als mir dann auf einer Arbeitsbesprechung meine Vorgesetzte, eine dicke Matrone, die ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht hatte, mir den Vorwurf machte, ich fördere die Kinderprostitution und hätte wahrscheinlich selbst etwas mit den Mädchen, schmiss ich alles hin. Zum Abschied kaufte ich den Kindern ein paar Sachen, die sie am nötigsten brauchten.

Ein paar Küsse, die ich nicht wegwischte, ein paar Tränen, und ich stand mit einem Mal vor dem Hauptportal des Bahnhofs wie ein gerade neu Angekommener.

Ein paar Mal noch sah ich die Mädchen wieder. Sie zwinkerten mir von der anderen Straßenseite zu, bevor sie in die Wagen der Freier stiegen.

Wochenlang tat ich nichts. Ich frequentierte die verschiedensten Kneipen und versuchte die Ungerechtigkeit der Welt im Alkohol zu ertränken. Meine Mundwinkel wuchsen langsam nach unten. Je wieder mit einer Frau schlafen zu können, schien mir unmöglich. Ich besann mich meiner alten Continental, kaufte Papier und versuchte meine rauen Gedanken in eine Form zu bringen.

Ich rieche die Hand meiner Frau, die zärtlich über mein Gesicht fährt.

Das TNT auf ihrer Haut hat bei mir dieselbe Wirkung wie Riechsalz.

Ich öffne die Augen und schon ist der Schiffbrüchige verschwunden.

»Wie schön du bist«, sage ich leise.

Sie versteht ohnehin kein Wort, lächelt aber sanft und zeigt mir einen kleinen Teil ihrer riesengroßen Zähne.

An jedem beliebigen Punkt der Erde könnten wir sein. Ein Gedanke, der so schön ist, dass ich ihn auf keinen Fall aufschreiben darf.

In einer Nebenstraße

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

     Impressum

Alle Rechte bei Johannes Wierz 

ERSTER TAG


1. 


Es war ein kühler Spätsommermorgen, als der achtzigjährige Schreinermeister Frederik mit seinem Reisigbesen die Gosse von ersten welken Blättern befreite. Immer wieder richtete er sich auf, hielt sich am Besen fest und betrachtete sein zweistöckiges Haus, Lohn eines harten, über sechzigjährigen Arbeitslebens.

In der Mansardenwohnung brannte bereits Licht. Rainer Demuth war nach ihm der erste, der um Punkt 6.00 Uhr aufstand, wie jeden Tag. Pflichtbewusst vom Scheitel bis zur Sohle, dachte Herr Frederik nicht ganz ohne Wehmut, denn seine Tochter, die über ihm wohnte, war mit ihren fünfundvierzig Jahren immer noch nicht verheiratet. Rainer Demuth war einundfünfzig, ledig und Chefprogrammierer der größten Versicherung der Stadt, die erst vor kurzem von einem schweizerischen Konsortium aufgekauft worden war. Er trank nicht, rauchte nicht und führte auch sonst ein unauffälliges, solides Leben.

Frederik paffte genüsslich an seiner Zigarre, eigentlicher Grund seines frühmorgendlichen Tuns. Letztlich konnten die Blätter in der Gosse und auf dem Gehsteig meterhoch liegen, doch auf seine morgendliche Zigarre, diese ungestörte blaue halbe Stunde eines beginnenden Tages, wollte er auf keine Fall verzichten. Im ganzen Haus, eingeschlossen Garten und Vorgarten, herrschte striktes Rauchverbot. Seine Frau, deren Schlafzimmer nach hinten heraus ging, hätte dieses Verbot am liebsten auf die ganze Stadt ausgedehnt. Zum Glück schlief sie noch, was dem anbrechenden Tag einen Hauch von Freiheit verlieh.

In der kleinen Nebenstraße, die von einer größeren, zweispurigen Straße abzweigte, befanden sich auf Herrn Frederiks Seite achtundzwanzig Häuser, auf der Gegenseite sechsunddreißig, meist zwei- bis dreistöckige Mietshäuser, mit Ein- bis Dreizimmerwohnungen. Die schöneren Häuser mit gepflegten Vorgärten und adrettem Fassadenanstrich: das war seine Seite. Aber mittendrin in dieser Idylle von Gartenzwergen, Silberkugeln und grünlackierten Fensterläden klaffte ein großes Loch. Hier hatte über hundert Jahre lang eine große Schreinerei gestanden, die ein Bulldozer in zwei Tagen abgerissen und Platz für mindestens acht Häuser geschaffen hatte: ein Millionenvermögen, in einer nach Wohnraum lechzenden Stadt.

„Beste Wohngegend, vor allem wo ihre Schreinerei nicht mehr da ist. Der zukünftige Herr Bräutigam ist wirklich zu beneiden“, hatte ihm der Notar gesagt, als er den Schriftsatz aufsetzte, der Frederiks Tochter im Fall ihrer Heirat als Alleinbegünstigte für das Grundstück bestimmte.

Da immer noch kein Mann in Sicht war, musste zweimal im Jahr eine Gartenbaukolonne anrücken, um das plattgewalzte Grundstück von meterhohem Unkraut zu befreien.

Zu seiner Zeit, dachte Herr Frederik, hätten die Männer Schlange gestanden, um bei ihm um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Sicher war sein einziges Kind nicht gerade eine Schönheit, aber hätte das früher irgendjemanden interessiert? Damals spielten im Leben ganz andere Werte eine Rolle. Heutzutage dagegen, ja, da musste alles grell und ausgefallen daherkommen, schick musste es sein. Das hatte er nicht zuletzt am eigenen Leib zu spüren bekommen. 

Auf der großen Hauptstraße, die den Stadtteil hier durchtrennte, hatte es einst acht Gaststätten gegeben. Und jede von Ihnen hatte Herr Frederik als Besitzer der Schreinerei gern besucht, es war seine Art der persönlichen Kundenbetreuung gewesen. Mit Kaffee und einem Likör, meist einem Kosakenkaffee, hatte er am unteren Ende im Lindenhof angefangen und spät am Abend im Lachenden Eck mit einer Frikadelle und einem letzten Bier aufgehört.

Während der Ölkrise in den siebziger Jahren hatte das große Kneipensterben begonnen, was zur Folge hatte, dass die vielen kleinen Brauereien der Stadt fusioniert hatten und am Ende nur noch eine große mächtige Brauerei übrig geblieben war - die wiederum ein paar Jahre später von einer größeren Aktienbrauerei geschluckt wurde. Aus den restlichen vier Gaststätten mit warmer Küche hatten sich zwei in dubiose Studentenkneipen verwandelt, deren äußeres Erkennungszeichen darin bestand, dass die Fenster mit brauner Farbe überstrichen waren. Allerdings stieg zeitgleich die Nachfrage nach unbehandelten Hölzern niedriger Wahl, am besten noch mit Rinde und vielen Astlöchern, so dass Frederik seinen Betrieb um eine Holzhandlung erweitert hatte.

Wegen der Studenten, die plötzlich die Hauptstraße bevölkerten, hatten zwei Metzgereien, fünf Einzelhandelsgeschäfte, der Schuster, die Glaserei, drei Bäckereien, ein Hut- und Schirmmacher, die Schneiderei und das Fotogeschäft mit eigenem Atelier schließen müssen. Die leerstehenden Geschäfte erfuhren dann rasch die übliche Verwandlung, äußeres Kennzeichen: braungestrichene Fenster.

Bis es Ende der siebziger Jahre auf der Hauptstraße acht neue Kneipen, fünf Trödelläden und zwei Fotokopierläden gab.

Für Herrn Frederik waren nur zwei Lokale übrig geblieben, in denen er - auch er erlag den Veränderungen - einen Schoppen Wein trank und dazu ein Käsebrot mit daumendickem Gouda verzehrte, auf dessen stumpfer gelblicher Oberfläche in der Mitte wie ein aufgebahrter Leichnam eine Salzstange gelegen hatte, berieselt mit Neuschnee aus Rosenpaprika. Herr Frederik hatte es geschafft, auf zusätzlichen drei Zwiebelringen zu bestehen, die Anfang der achtziger Jahre schon nicht mehr selbstverständlich waren.

Jetzt, zwanzig Jahre später, gab es überhaupt keine bürgerliche Kneipe mehr, in die er sich setzen konnte. Dafür gab es zwei Bäckereiketten mit Bistrobereich und zwei Kebabbuden und einen Gyrosimbiss, in denen man einen alten Mann wie ihn gern als Gast bediente.

Während sich alles in der Welt pausenlos veränderte, hatte Herr Frederik das Gefühl, dass in seinem Haus alles beim Alten geblieben war. Sämtliche Möbel, mit Ausnahme der Küche und des Fernsehschranks, waren aus den fünfziger Jahren. Auch die möblierte Wohnung, in der sein Mieter lebte, war aus dieser Zeit.

„Ich mag es solide“, hatte Rainer Demuth bei der Besichtigung gesagt und für zwei Monate im Voraus die Miete bezahlt, obwohl es in den engen Räumen so stickig war, als ob dort jahrelang nicht mehr gelüftet worden wäre. Dafür war selbst in der Küche alle vorhanden: Töpfe, Geschirr und Besteck. Sogar ein Abtropfsieb stand auf der Ablage der Keramikspüle.

„Sie müssen nicht selbst kochen“, hatte Herr Frederik Herrn Demuth nicht ohne bestimmte Absichten zum Einzug gesagt, „meine Frau und meine Tochter sind ausgezeichnete Köchinnen.“ 

Dabei hatte er wie zum Beweis seinen gewaltigen Bauch herausgestreckt. In all den Jahren, in denen Demuth nun in diesem Haus wohnte, hatte er dieses kulinarische Angebot jedoch kein einziges Mal für sich in Anspruch genommen. Aber auch die eigene Küche schien der Untermieter nicht zu nutzen, denn in dem Hausmüll, den Demuth einmal die Woche unten in die Mülltonne warf, befanden sich seltsamerweise keinerlei Essensreste.

Die Zigarre war bis zur Hälfte herunter geraucht, da öffnete sich unten die Tür, und Demuth verließ, zusammen mit seinem dunkelgrauen Herrenrad, das Haus. Die dünnen rötlichen Haare zur Seite gekämmt, die frischpolierten Brillengläser, die seine Augen riesengroß erscheinen ließen, auf der Nase. Der braune Anzug sowie das blaue Hemd mit brauner Krawatte, ließen ihn als Einzelgänger erscheinen, der keinerlei Modetrends unterlag.

Herr Frederik grüßte freundlich, winkte mit seiner glimmenden Zigarre und wünschte einen guten Tag, während Demuth damit beschäftigt war, den Schlag seiner Hose, den eine Bügelfalte akkurat durchzog, auf die Seite zu legen, um die Fahrradklammer anzulegen. Wie jeden Morgen klingelte er einmal und fuhr mit gleichmäßigen Tritten auf die Hauptstraße zu.

Herr Frederik paffte weiter an seiner Zigarre und stützte sich auf den Besenstil. Dabei beobachtete er den Zeitungsboten, der nun endlich auch sein Haus erreicht hatte.

„Mal wieder spät dran, was?“, nuschelte Frederik mit der Zigarre im Mund. Der Bote hingegen grüßte freundlich im Vorbeigehen, als hätte er ihn nicht verstanden.

Herr Frederik stellte den Besen zwischen die Mülltonnen, richtete seinen Schreinerkittel und begab sich Richtung Hauptstraße, auf der der Berufsverkehr inzwischen zugenommen hatte. Die Hände auf dem Rücken schlenderte er paffend die Straße hinunter. Er ließ sich Zeit dabei, denn vor 7.00 Uhr würden die Großbäckereien ihre Filialen nicht beliefert haben.

Früher, ja früher, da konnte er um 5.30 Uhr bei seinem alten Freund Blum durch die Hintertür in die Backstube gehen und sich ein warmes Brötchen aus dem handgeflochtenen Weidenkorb nehmen, dachte er während seines Spaziergangs.

„Handwerk hat goldenen Boden“ stand auf der Stickerei, die neben dem großen Backofen hing. Die Keramikverschlüsse der Bierflaschen ploppten und man prostete sich zu. Sechs Angestellte hatte der Blum und das in nur einer Bäckerei.

Wahrlich, goldene Zeiten. In der Schreinerei Frederik hatten in den sechziger Jahren bis zu achtundvierzig Menschen gearbeitet. Er selbst stand damals seiner Innung vor und war Mitglied der Industrie- und Handelskammer gewesen. Lehrlinge, Gesellen, bis zu acht Leute wohnten in seinem Haus. Nichts hatte er ihnen dafür berechnet, sie mussten nur ab und zu an den Wochenenden die Werkstatt aufräumen und die Firmenwagen putzen. Für den damals ansässigen Fußball- und Handballverein hatte er die Trikots bezahlt und für die Renovierung der Kirche einige große Scheine in den Klingelbeutel gelegt. All das hatte er nie an die große Glocke gehängt. Nein, er war eher ein Mann der leisen Töne. Es sei denn, es wurde Karten gespielt oder auf der Kegelbahn Runden ausgeworfen. Auch im Männergesangsverein hatte er mit seinem kräftigen Bass so laut werden können, dass die Tenöre irritiert zu ihm herüber schauten und der schwäbische Chorleiter Schäufle mit seinem Stöckchen, das Frederik in seiner Schreinerei von Hand angefertigt hatte, abklopfen musste. Der Blum und der Schäufle, was hatten die saufen können: standfest bis zur Haustür. Und wenn dann noch der Metzgermeister Tarnat für eine Lokalrunde sein künstliches Auge auf den Tisch gelegt hatte - worauf die Bedienung jedes Mal ihr Tablett fallen ließ - war die Stimmung kaum noch zu bremsen gewesen.

Versunken in seine Erinnerungen, schritt Herr Frederik, die Hände auf dem Rücken, paffend die Hauptstraße entlang und atmete den herrlichen Duft seiner Zigarre ein.


*


Rainer Demuth ließ sein Fahrrad auf dem großen Parkplatz vor dem Versicherungsgebäude ausrollen. Wie an jedem Arbeitstag war er eine Viertelstunde zu früh. An einem dafür vorgesehenen Gitter sicherte er mit einer schweren Eisenkette sein Fahrrad und betrat über die große Granittreppe den gewaltigen Verwaltungskomplex. Der Empfang mit seinen vielen Kontrollmonitoren war unbesetzt. Auf dem dritten von links konnte er sich in einem blaugrauen Licht über den polierten Marmorboden gehen sehen. Eine gefährlich glatte Oberfläche, auf der schon so manche weibliche Mitarbeiterin ausgerutscht war. Wie gut, dass er sich mit Haftungsfragen nicht auseinanderzusetzen hatte. Er betrat den Aufzug und holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, der mit einer versilberten Kette an der Gürtelschlaufe gesichert war, und steckte ihn in das Schloss. Dann drückte er auf den blinkenden Knopf. Mit einem leichten Ruck setzte sich der Aufzug in das dritte Untergeschoss in Bewegung, zu dem nur wenige autorisierte Personen Zutritt hatten. 

„Hier sitzt das Herz der Versicherung“, wie sein Vorgesetzter immer zu sagen pflegte, wenn er Mitglieder des Vorstandes durch die unendlich scheinenden Gänge führte. Vorbei an Panzerglaswänden hinter denen sich klobige Kästen befanden, an denen kleine Diodenlampen in verschiedenen Farben flackerten. Seinem Vorgesetzten sowie den oft wechselnden Mitgliedern des Vorstands, die nicht die geringsten Kenntnisse besaßen, wie so ein komplexer Rechner funktionierte, und nur das große Ganze im Augen hatten, gaben diese kleinen blinkenden Lämpchen das Gefühl, dass im Herzen ihres Konzerns auch gearbeitet wurde. Eine der größten Rechneranlagen des Landes als Herz zu bezeichnen, wäre sicherlich eine philosophische Betrachtung wert gewesen, aber Demuth dachte nicht daran, sich von solchen Gedanken aufs Glatteis führen zu lassen. Tatsache war, dass er jeden Tag achteinhalb Stunden in einem Tiefkeller verbringen musste, der weder Tageslicht noch Außenluft hereinließ.

In der Anfangszeit hatte er sich oft in den Weltraum geträumt, wenn er die neonlichtdurchfluteten, endlos scheinenden Gänge der Versicherung durchschritten hatte. Aber das lag nur daran, dass er im Kino einen Film von Stanley Kubrik gesehen hatte. Die Abende verbrachte er immer zu Hause. Er liebte es, alle Fenster seiner Mansardenwohnung zu öffnen, in den Sternenhimmel zu starren, ohne dabei wirklich Wesentliches zu denken. Über die Antenne seines Weltempfängers empfing er auf Kurzwelle Signaltöne, die so schwach klangen, als kämen sie vom anderen Ende der Welt.

Rainer Demuth betrat sein Büro, das einem Irrtum gleichkam. Jede Toilette, selbst die Abstellkammern des Reinigungspersonals, waren größer, in diesem gigantischen Koloss aus Stahl, Beton und Glas, der mehr als achthundert Menschen einen Arbeitsplatz bot. Als Chefprogrammierer stand ihm eigentlich das große Glasbüro - von allen nur Aquarium genannt - am Ende des Mittelgangs gegenüber dem Aufzug zu. Aber nichts war ihm mehr zuwider, als beobachtet zu werden. Im Unscheinbaren lag seine Kraft. Fast immer wurde er bei internen Feiern, wie Geburtstagen oder Ausständen, einfach in seiner Kammer vergessen, was er durchaus nicht als unangenehm empfand. Er konnte dem Kollektiv an aufgesetzter Fröhlichkeit nichts abgewinnen. Freunde hatte er unter den Kollegen sowieso nicht, mit Ausnahme vielleicht von Patzek. Mit Patzek hatte er immerhin schon mehre Male den Kantinentisch geteilt. Auch war er einmal dessen Einladung gefolgt, mit ihm einen Freitagabend zu verbringen. Aus reiner Neugier hatte er die Bitte nicht ausgeschlagen und war mit ihm von einer Kneipe in die nächste gezogen, bis man letztendlich in einem Klub gelandet war, in dem die Mädchen leicht bekleidet waren und außer Champagner nichts zu sich nahmen. Demuth war sich auch an diesem unsäglichen Abend treu geblieben und hatte nur stilles Wasser getrunken, obwohl der Preis dafür um ein vielfaches höher war als anderswo. Hinzukam, dass in dieser Lokalität das stille Wasser direkt aus dem Wasserhahn abgefüllt wurde. Er hatte es mit Gleichmut genommen. Patzek aber hatte Champagner bestellt und gleich zwei zierlichen Osteuropäerinnen an den Hintern gepackt und war anschließend mit den Damen hinter Glasperlenvorhängen verschwunden. Demuth hatte keinerlei Interesse an dieser Art von Unterhaltung gezeigt. Eine Stunde später war Patzek in Unterhosen und in Begleitung eines kräftigen, hochgewachsenen Albaners wieder aufgetaucht und hatte ihn um Hilfe gebeten. Demuth sollte ihm für einen kurzen Moment die Kreditkarte leihen, was er auch ohne Zögern getan hatte. Am Ende des Monats stand es schwarz auf weiß auf seinem Kontoauszug: Patzek war ihm tausendfünfhundert Euro schuldig.

„Mensch Alter, ich steh fest in deiner Schuld“, hatte Patzek zu ihm gesagt. Er hatte nur stumm genickt und ihn beim Wort genommen. Eine innige Umarmung, sogar Küsse rechts und links auf die Wange und das Versprechen, solch einen tollen Abend doch alsbald zu wiederholen, folgten. All das erinnerte ihn jetzt an das große Rundschreiben der Geschäftsleitung von Anfang Oktober, in dem es hieß, dass man in diesem Jahr auf das Weihnachtsgeld verzichten müsse, dafür aber Vorzugsaktien zum halben Preis erwerben könne.

„In weniger als zehn Jahren bin ich Millionär“, hatte Patzek gesagt und ihm voller Stolz seine Zeichnungen präsentiert. Demuth hingegen hatte als einer der wenigen Mitarbeiter des großen Versicherungskonzerns keine Aktien erworben.

Demuth schaute auf die Uhr, die exakt 7.00 Uhr anzeigte, der Tag konnte also beginnen. Ähnlich ging es dem achtzigjährigen Herrn Frederik, der seinen Gang längs der Hauptstraße beendet hatte und nun mit einer Tüte industriell hergestellter Brötchen und zwei Schnäpsen intus, den Heimweg antrat. 7.00 Uhr zeigten auch die großen Zeiger der Normaluhr an der Bushaltestelle. In diesem Moment war seine Frau - zehn Jahre jünger als er -aufgestanden, hatte die Fenster und die Holzläden geöffnet und zu den Klängen von Max Greger mit lächerlichen Rumpfbeugen, Hals- und Beckenkreisungen begonnen. Sieben Minuten würde dieses alltägliche Ritual dauern, dann würde er die Haustür aufschließen und wie all’ die Jahre zuvor den sinnentleerten Satz „Ich bin wieder da!“ in den Hausflur schmettern.


*


Gegen 9.00 Uhr morgens ging ein Grunzen, Schnaufen und ein Gestampfe durch das ganze Haus. Der Kristallleuchter im Wohnzimmer wackelte leicht. Ein sicheres Zeichen dafür, dass jetzt auch die Tochter des Hauses aufgestanden war.

Herr Frederik fand sich im ledernen Ohrensessel wieder. Er musste eingeschlafen sein. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern. Er hatte die Wohnung betreten und war in die Küche gegangen, um die Brötchen in den Frühstückskorb zu schütten. Ab da wusste er nichts mehr. Sollte er wegen so einer Kleinigkeit seinen Hausarzt Dr. Gutewohl kontaktieren? Hatte er ihm doch in die Hand versprochen, ihn bei jeder noch so kleinsten Veränderung zu unterrichten. Er versuchte sich aufzurichten, aber eine Zentnerlast drückte ihn nach unten.

„Du hast wieder geraucht, und getrunken hast du auch“, hörte er seine Frau aus der Küche keifen. Seltsamerweise klang die Stimme viel gedämpfter als sonst, so als würde er bei der Kreissäge Schutzhörer tragen. Warum ist sie nur so geworden? Wie oft hatte er sich diese Frage gestellt. Mehr als fünfzig Jahre waren sie nun verheiratet, hatten Freud und Leid geteilt. Das schwere Drüsenfieber des Sohnes, drei Jahre hatten die Ärzte gegen seinen Tod gekämpft und gewonnen. Wie oft waren sie nachts angerufen worden und sofort ins Krankenhaus gefahren. Albert war das ein und alles der Mutter. Wenn er stirbt, verlasse ich dich! Warum sagt das eine Frau ihrem Mann gegen halb drei Uhr morgens auf einem kalten Krankenhausflur? Hatte er etwa diese heimtückische Krankheit erfunden? Damals schon hatte er den Eindruck gehabt, dass seine Frau mit dem Schicksal haderte - also auch mit Gott - und es stellvertretend an ihm ausließ. Warum stand er nicht einfach auf, ging in die Küche und haute mit seiner gewaltigen Schreinerpranke auf den Tisch. Er versuchte mit der rechten Hand eine Faust zu machen, aber sie gehorchte nicht mehr.

Frau Frederik hatte in einem gefütterten rosa Morgenmantel - von dem sie auch noch einen in hellblau und in lindgrün besaß - ihr Frühstück beendet. Der Platz gegenüber war leergeblieben. Dieser eigensinnige, sture Bock, dachte sie, aber wer nicht will, der hat schon. Sie stand auf und räumte den Frühstückstisch ab. Ein kurzer Blick auf die Küchenuhr verriet ihr, dass es Zeit war, mit der häuslichen Arbeit zu beginnen.

Nachdem alles wieder an seinem Platz war, entdeckte sie, wie jeden Morgen, die Brötchenkrümel auf der Wachstuchtischdecke. Es steckt eine Absicht dahinter. Es kann gar nicht anders sein, dachte Frau Frederik. Es bereitet ihm ein höllisches Vergnügen jeden Morgen frische Brötchen auf den Tisch zu stellen. Dabei wußte er doch genau, wie sehr sie Krümel hasste. Auf dem Küchentisch nahmen sie ihren Anfang, fielen auf den Linol boden, blieben an den Kleidern hängen und wurden durch das ganze Haus getragen. Mit Schrecken dachte sie an die bevorstehenden Wintermonate, wenn im ganzen Haus wieder eingeheizt werden würde. Dann konnte sie sich wieder doppelt und dreifach schlagen, um dem Staub wieder Herr zu werden.

Mit einem trotzigen Kopfschütteln wischte sie die Wachstuchtischdecke mit dem Zwiebelmuster ab, zog sich den weißen Haushaltskittel an und füllte den ersten Eimer mit heißem Wasser und einer Kappe Allzweckreiniger, der nach Limone roch. Frau Frederik schaute auf die offene Tür zum Wohnzimmer.

Albert war der Erstgeborene und hatte im Haus viele Spuren hinterlassen. Die Schwangerschaft seiner Frau hatte Herr Frederik in schöner Erinnerung. Es gab kaum eine Nacht, die er nicht in der Schreinerei verbracht hatte. Eine Wiege war das erste, was er für ihn mit eigener Hand zusammengezimmert hatte. Es folgte Holzspielzeug jeglicher Art, darunter ein Hampelmann, ein Schaukelpferd, eine Arche Noah mit mehr als dreihundert verschiedenen Tieren, ein Tretroller, ein Westernfort. Erst als Albert in die Schule gekommen war, ließen Frederiks nächtliche Aktivitäten in der Werkstatt nach, was zur Folge hatte, dass ein Jahr später Hildegard das Licht der Welt erblickte.

Die Erschütterung über ihm hatte nachgelassen. Seine Tochter hatte also mit den unsäglichen Gymnastikübungen aufgehört, die ohnehin außer Krach nichts brachten. Bei dem Übergewicht bedurfte es ganz anderer Aktivitäten. Aber Herr Frederik hatte längst aufgehört sich in die Angelegenheiten seiner Tochter einzumischen. Ein zweites Mal versuchte er jetzt, aus dem ledernen Ohrensessel hochzukommen, aber wie er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht.


*


Den ganzen Morgen hatte Rainer Demuth allein in seiner Kammer verbracht, ein paar Befehlszeilen in den Rechner eingegeben und auf ein erstes Resultat gewartet. Die Adressverwaltung und das individuelle Kundenprofil waren die Achillesferse des Versicherungskonzerns. Bei der Masse an Kunden würde es seiner Meinung nach ohnehin unmöglich sein, Dateien zu erstellen, die einen schnellen individuellen Zugriff gewährleisten könnten. Kinder wurden geboren. Ehen geschieden. Leute starben. Einige zogen in größere Wohnungen, andere verkleinerten sich oder waren unbekannt verzogen. Von oben hieß es immer nur: Fassen Sie mal alle Singles zusammen, mit dem und dem Jahreseinkommen, wohnhaft in der und der Stadt, in dem und dem Stadtteil, mit der und der Autoklasse ...!

Die Daten von heute, waren die Irrtümer von morgen, das war Demuths persönliche Meinung.

Ohne Anzuklopfen stand Patzek mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Tür.

„Na, altes Haus, hab’ dir eine Stärkung mitgebracht!“ grinste er und stellte ihm einen Becher auf den Tisch.

Demuth nahm unbedarft einen Schluck, obwohl er es hätte riechen müssen. Der Whisky brannte in seinem Rachen.

„Sind Sie verrückt geworden?“ brach es aus Demuth heraus.

„Immer noch Du Arschloch. Aber Spaß beiseite, heute in der Mittagspause ist doch das große Meeting, da will man doch gestärkt hineingehen, oder?“ witzelte Patzek und zündete sich eine Zigarette an, obwohl es verboten war.

Warum ziehe ich so einen Menschen an? Was habe ich an mir, dass ausgerechnet der mir meine Zeit stehlen muss? dachte Demuth.

„Was ich dich noch fragen wollte, kann ich vielleicht ein paar Wochen bei dir wohnen, mit meiner Freundin läuft es gerade nicht so gut.“

„Wie bitte?“ Demuth konnte so viel Dreistigkeit kaum fassen.

„Soll auch nicht dein Schaden sein!“ versprach Patzek mit einem Vertreterlächeln.

Deine Anwesenheit ist Schaden genug, dachte Demuth und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

„Wenn es dir nichts ausmacht, bring ich dir gleich meine Koffer. In meiner Abteilung schauen schon alle wie blöde und bei dir stören sie ja nicht“, sagte Patzek und verließ für einen kurzen Moment die Kammer, um gleich darauf mit zwei großen Schalenkoffern wieder hereinzukommen.

„Wo soll ich sie hinstellen?“ fragte er und begriff aber sofort die Lächerlichkeit seiner Frage angesichts des winzigen Raumes. So zuckte er nur mit den Schultern und nahm den fast vollen Kaffeebecher mit zurück in sein Büro.

Zum Glück war Patzek gegangen. Doch sein billiges süßes Rasierwasser und der Whisky hatten den kleinen Raum so in Beschlag genommen, dass Demuth nichts anderes übrig blieb, als aufzustehen und die Tür zu öffnen, was aber nicht so einfach war, musste er doch zuvor die beiden sperrigen Koffer überwinden.

Demuth vertrat sich ein wenig die Beine, ging den Gang auf und ab und schaute durch dicke Glasscheiben auf die Schreibtische und die Rücken seiner Kollegen. Jedes Mal, wenn er an einem der Fenster vorbeigekommen war, hatte er das Gefühl, als würden die Mitarbeiter ihm hinterherschauen. Unauffällig drehte er seinen Arm nach hinten und tastete mit der Hand seinen Rücken ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass Patzek ihm ein Schild mit einer anzüglichen Aufschrift auf die Jacke geklebt hätte. Das geilste Schwein vom Sparverein, prangte einmal während einer Präsentation in der Vorstandsetage auf dem Jackett seines besten Anzuges. Zum Glück hatte er sich kein einziges Mal während seiner Ausführungen umdrehen müssen. Erst beim Abbauen des Overheadprojektors hatte ihn die Sekretärin Frau Kluge darauf aufmerksam gemacht. Sie war die einzige Frau, die er kannte, der eine leichte Röte ins Gesicht stieg, wenn die Arbeitskollegen sie Fräulein nannten. Von Patzek wusste er, dass sie immer ihre Tage hatte, wenn eine Betriebsfeier oder der obligatorische Ausflug bevorstanden. Auch ging Gabriele Kluge nie allein in den unübersichtlichen Aktenkeller, sondern nahm immer einen Lehrling oder Praktikantin mit. Für Patzek war es daher unmöglich, bei ihr mal Einzulochen, wie er sich auszudrücken pflegte.

„Lade sie doch mal zum Essen ein oder geh mit ihr ins Kino“, war Demuths Rat gewesen, um endlich seine Ruhe zu haben, obwohl er damals schon wusste, dass sie einem solchen Angebot nie zustimmen würde.

„Da kann ich ja direkt ins Puff gehen“, war Patzeks missmutige Antwort gewesen.

Nachdem Rainer Demuth zweimal den langen Flur auf und ab gegangen war, kehrte er in sein Büro zurück. Eine verschlüsselte Nachricht lag auf dem Desktop seines Computers. Gabriele Kluge hatte ihm geschrieben und ihm mitgeteilt, wo sie ihre Mittagspause verbringen würde.


*


Die Lauge war schwarz, als Frau Frederik den Feudel auswrang. Was für ein Schmutz, und der nur vom Küchenboden. Was sollte bloß im Winter werden? Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie nicht die Küchenschränke von innen wischen sollte. Dann öffnete sie beherzt die Türen des Hängeschrankes. Der Monat war zwar noch nicht vorüber, aber heute war ihr einfach danach. Obwohl zierlich in Person wuchtete sie als erstes die hohen Stapel an unterschiedlichen Tellern aus dem untersten Fach und verteilte die Porzellanpyramiden über den ganzen Küchentisch. Dann nahm sie die Tassen, Brettchen und kleinen Schüsseln in Angriff.

In der Wohnung darüber schaltete die Tochter im Bad den Fernseher ein, bevor sie ihren opulenten Körper in die Duschkabine quetschte. Einen Spalt der Schiebetür ließ Hildegard auf, um ja nicht die Folge einer ihrer Lieblingsserien zu verpassen. Zwar lief diese Krankenhausserie schon in der dritten Wiederholung. Aber sie fand es immer wieder schön, mit Patienten, Ärzten und Krankenschwestern mitleiden und sich freuen zu können. Ihre milchige Haut verschwand fast zur Gänze unter dem Seifenschaum, den sie mehr als großzügig über ihren massigen Körper verteilt hatte. Zumindest an den Stellen, die sie mit ihren kurzen Armen erreichen konnte. Zudem plagte sie eine krankhafte Kurzatmigkeit, die es ihr verbot, sich zu bücken. Ihre gewaltigen Brüste, die schwer auf dem Bauch lagen, standen für einen Blick nach unten auf die Füße ohnehin im Weg. So konnte sie sich im Intimbereich nur blind waschen. Sie war von jeher ein kräftiges Kind gewesen. Schon als kleines Mädchen hatte der Vater sie mit in die Schreinerei genommen, anstatt sie mit Gleichaltrigen im Kindergarten spielen zu lassen. Das ganze Gelände mit seinen Werkstätten, Hallen und Kellern war für sie ein großer Abenteuerspielplatz gewesen. Jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken. Nur von den schweren Maschinen und dem Raum, in den die Holzspäne über ein ausgeklügeltes Rohrsystem geblasen wurden, musste sie sich fernhalten. Ansonsten hatte der Vater ihr freie Hand gelassen. So hatte sie, - schon bevor sie in die Schule gekommen war -, so geschickt mit Hobel und Beitel umgehen können wie manch ein Lehrling im Betrieb nicht. Auch die Säcke mit dem Abfallholz hatte sie stemmen können, wie ein Geselle. In der Schule war sie mit Abstand das kräftigste Kind gewesen, was sie am zweiten Tag auch gleich unter Beweis gestellt hatte. Ihr Sitznachbar, ein Junge mit Stoppelhaar-Frisur, hatte lautstark verkündet, dass er neben so einer dicken Kuh nicht sitzen wolle, worauf der Junge von ihr so eine Abreibung bekommen hatte, dass er im Krankenhaus zweimal genäht werden musste. In den Turnstunden war sie als erste in die Mannschaft gewählt worden, wenn es darum gegangen war, mit einem Medizinball die gegnerische Gruppe durch einen Körpertreffer zu dezimieren. Wenn sie den schweren, mit Holzwolle gefüllten Lederball geworfen hatte, war keiner lange auf seinen Beinen geblieben. Kegeln, hatte sie das genannt und breit gelächelt. Ihr lückenhaftes Gebiss war der Beweis dafür gewesen, dass sie sich gerade von den letzten Milchzähnen getrennt hatte. Doch zur Verwunderung aller Familienangehörigen hatten die anderen Zähne einfach nicht nachrücken wollen.

„Bei ihr geht es eben anders herum“, hatte der Vater in Anbetracht ihrer Körpergröße gesagt und kein weiteres Aufsehen darum gemacht. Die Mutter hingegen hatte mit ihr dann doch besorgt einen Zahnarzt aufgesucht, nachdem sie ihren elften Geburtstag gefeiert hatte. Der Doktor hatte zunächst nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sofort ein paar Fotos gemacht, die heute noch in vielen zahnmedizinischen Lehrbüchern abgebildet sind. Ihr tägliches Frühstück, Brot mit Butter und obenauf eine dicke Schicht Kristallzucker, war ihr zum Verhängnis geworden.

Die zweiten Zähne waren schon im Ansatz ihres Entstehens kariös und nicht mehr zu retten gewesen. Der Vater hatte im Gegensatz zur Mutter nur gelacht, den schweren Wonneproppen auf seinen Schoß genommen und gescherzt, dass sie jetzt eine medizinische Berühmtheit wäre. Dass ihr schmerzhafte Operationen bis ins Erwachsenenalter bevorstanden, hatte er ihr vorenthalten. Immer optimistisch nach vorne blickend, das war seine Natur, und sie bildete sich bis heute ein, gerade diese Charaktereigenschaft von ihm geerbt zu haben. Überhaupt fiel es ihr schwer, den Tränen freien Lauf zu lassen. Wenn sie nach einer Rauferei mit einem Jungen voller Blessuren aus der Schule heimgekommen war, hatte sie ein unbekanntes prickelndes Gefühl dabei empfunden, an ihren offenen Wunden herumzuspielen. Später in der Pubertät, als kein Junge sich mehr in ihre Nähe getraut hatte, hatte sie die Rasierklingen des Vaters für sich entdeckt. Aber das war bis heute ihr großes Geheimnis.


Stefan & Harry

Adele

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

Alle Rechte bei Johannes Wierz 


( 1 ) VOR DEN TOREN DES FILMSTUDIOS AUSSEN/TAG


Der Himmel ist wie immer in diesem Landstrich: weiß-blau. Stefan und Harry gehen in ihren eleganten weißen Anzügen am Pförtnerhäuschen der Filmstudios vorbei und heben ihre weißen Hüte zum Gruß. Auf dem großen Filmgelände kommt ihnen eine Besuchergruppe entgegen. Photoapparate klicken. Vereinzelt zeigen Männer und Kinder mit Fingern auf Stefan und Harry. Frauen kreischen hysterisch. Stefan und Harry schauen sich kurz an. Mit eleganter, leicht lässiger Handbewegung werden von beiden die Sonnenbrillen hervorgeholt und aufgesetzt. Stefan und Harry sind ein eingespieltes Team. Aus dem anfangs forschen Gang wird ein leicht tänzelnder. Die Besuchergruppe löst sich auf. Aus der Traube wird ein Pfeil, der nur ein Ziel hat: Stefan und Harry.


Aus dem OFF eine energische Stimme: Halt!!! Halt!!!


Es ist nicht der Regisseur der hier die Szene unterbricht, um sie dann gleich zum x-ten Male wiederholen zu lassen. Nein, es ist der Pförtner, der unsere Ausweise sehen möchte.

Die Vorhut der anstürmenden Besuchergruppe kann in unseren Gesichtern nichts Bekanntes erkennen und ruft" das sind sie nicht" nach hinten, worauf die Besuchergruppe erst einmal ins Stocken gerät.

"Kommens mit ins Häusel", sagt unwirsch der Pförtner und ist sogar versucht, uns an unseren blassen ausgefransten Jacketts in sein Reich zu ziehen.

Der Traum scheint zerplatzt.

Jetzt, wo Stefan und ich in brütender Hitze den Pförtner beobachten, wie er unsere Namen mit denen seiner Liste vergleicht, habe ich Zeit, die ganze Geschichte von Anfang an zu erzählen.

Beginnen wir da, als sich die Wege von Stefan und Harry zum ersten Mal kreuzten.


Der Intendant eines größeren Stadttheaters, ich habe Stefan hoch und heilig versprechen müssen, keine Namen zu nennen, lud nach einer mittelmäßigen Aufführung zur Premierenfeier ein. Ich selbst, freier Mitarbeiter einer alternativen und folglich schlecht bezahlenden Stadtzeitung, hatte die undankbare Aufgabe, eine Kritik schreiben zu müssen. Der Intendant hatte selbst inszeniert, ein Erfolgsstück aus der vergangenen Theatersaison. Dieser Herr hatte eine ganz besondere Art der Regieführung. Heimlich fuhr er in regelmäßigen Abständen mit seiner Sekretärin in die nahe liegende Großstadt und besuchte dort jene Aufführungen, die in den Feuilletons der überregionalen Tageszeitungen am meisten für Furore gesorgt hatten. Die Sekretärin mit einem dicken Schreibblock bewaffnet, hatte die Aufgabe jede noch so kleine Regieanweisung mitzuschreiben. Ein Jahr später dann brachte der Intendant unter Zuhilfenahme der handschriftlichen Notizen seiner Sekretärin das "Erfolgsstück" auf die Bühne. Das Ergebnis kann man sich vorstellen oder wie sagte einst unser Fußhallbundestrainer: "Ein guter Mittelstürmer macht noch lange keine Weltklassemannschaft aus".

Nun, über die soeben "geklaute" Inszenierung hätte ich höchstens zwei Zeilen schreiben können. Es sei denn, ich würde es wie die Kollegen von den hiesigen Blättern machen, die einfach die glänzenden Kritiken aus den überregionalen Zeitungen des vergangenen Jahres abkupferten. Heute bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass diese Herren mit dem Intendanten unter einer Decke steckten. Da ein freier Mitarbeiter nach Zeilen bezahlt wird, brauchte ich unbedingt Hintergrundinformationen. Ein Interview mit dem Hauptdarsteller oder der Hauptdarstellerin und ich könnte die ganze Sache auf eine Seite aufblasen. Auf Premierenfeiern heißt es erst einmal warten. Wie ja allgemein bekannt ist, kommen die Akteure erst dann, wenn das Büffet bis auf den letzten Happen leergeräumt ist. So beobachtete ich die kleine und große Stadtprominenz, selbsternannte Künstler und Künstlerinnen, Dichter mit dem Hang zur Betroffenheits- und Gebrauchslyrik und die eben erwähnten Kritiker mit dem Charme von Straßenbahnkontrolleuren. Drei bis vier Bisse und von der großen Hähnchenkeule bleiben nur die Knochen und ein fettiger Mund zurück. Als erster betrat der Dramaturg die Szenerie, grüßte nach allen Seiten und erntete von den Gästen ein mit vollen Backen eingeübtes Kopfnicken. Wahrscheinlich hatte man ihn aus den Garderoben hinausgeworfen. Dramaturgen sind ja für ihre triebhafte Spannerei bekannt. Jeder weiß, dass es im Zirkus verschiedene Arten von Clowns gibt, zum Beispiel: der Dumme August oder der Weißclown. Da Dramaturgen in der Regel von niemandem ernst genommen werden, spielen sie im Theaterbetrieb die Rolle des Clowns. Folglich haben auch sie sich eine immer gleich bleibende Maske sowie Kostüm zugelegt. Die am häufigsten auftretende Gattung ist der Schwarze Dramaturg. Seine Kleidung und seine Requisiten sind ausnahmslos schwarz. Selbst im Hochsommer tragen sie ihr schwarzes Seidenhemd mit schwarzem Anzug. Zu jener Zeit, als der Schwarze Dramaturg die Szenerie betrat und sich mit seinem schwarzen Taschentuch die perlnasse Stirn tupfte, war ich felsenfest davon überzeugt, kurz vor dem Durchbruch als Theaterdramatiker zu stehen und betrachtete meine Tätigkeit als freier Mitarbeiter einer alternativen Stadtzeitung nur als vorübergehend.

Fünfzehn verschiedene Stücke lagen bei dreimal so vielen Verlagen und ebenso vielen Theatern. Die meisten Manuskripte kamen jungfräulich also ungelesen zurück. So wechselte ich nur die Umschläge und ab ging die Post.

Ungeheure Summen gab ich damals für Kopien, Umschläge und Porto aus.

Nachdem ich die Achtung vor ihnen verloren hatte, ging ich bei den Dramaturgen, vor allem beim Schwarzen Dramaturg, anders vor. Ich lauerte ihnen in ihren Stammkneipen auf, überredete sie zur morgendlichen Stunde, so zwischen zwei und drei Uhr, meine Manuskripte doch wenigstens mal in die Hand zu nehmen und musste mir als Gegenleistung dafür ihre unglücklichen Liebesgeschichten anhören. Ausgerechnet die dicken, durch Alkohol aufgeschwemmten, immer nach Schweiß stinkenden Dramaturgen, die mir immer wie eine schlechte Karikatur von Rainer Werner Fassbinder vorkamen, verliebten sich in die jungen zarten Schauspielerinnen, die gerade frisch von den Schauspielschulen eingetroffen waren. Dabei sind die längst an den jugendlichen Liebhaber, den mit dem schmalen Oberlippenbart, der sich heimlich die Haare nachfärbt und dessen Jacketkronen so herrlich glänzen, dass man sich drin spiegeln kann, vergeben. Naturgemäß gibt es, wie im Zirkus der Dumme August und der Weißclown, im Theater noch eine zweite Gattung: Der Dynamische Dramaturg. Er kleidet sich meist im edlen Zwirn und ist der aktuellen Mode nicht abgeneigt. Obwohl er jedes Feinschmeckerlokal in der Umgebung von hundert Kilometern kennt, sind seine Bauchmuskeln fest und kein Gramm zu viel belastet seinen Körper. Jeder Dramatiker oder der, der es werden möchte, sollte sich vor dieser Gattung in Acht nehmen. Diese dynamischen Herren nämlich wechseln schneller das Theater, als dass ein Manuskript seinen Weg findet. Folgendes Telefongespräch, obwohl Jahre her, ist mir noch gut in Erinnerung:

"Gut, dass Sie anrufen. Ihr Manuskript? Ja, habe ich, liegt noch in einem der Umzugskartons. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie schwierig es war, eine adäquate Wohnung zu finden. Es wird Wochen dauern bis ich alle Kartons ausgepackt habe und alles an seinem Platz ist. Was? Sie haben das Manuskript auch hierher geschickt. Nun gut. Sicher werde ich hineinschauen. Aber, es wird eine Zeitlang dauern. Ja, ja, es fehlt an guten neuen jungen Dramatikern. Sie wissen ja gar nicht, was ich alles lesen muss. . . . "

Ein halbes Jahr, schon etwas unruhig geworden, rief ich unter derselben Telefonnummer an und lernte so seinen verständnisvollen Nachmieter kennen, der mir, mit dem Ausdruck des Bedauerns, den neuen Aufenthaltsort des Dramaturgen nicht sagen konnte.

Der Intendant und Regisseur betrat, nachdem nur noch verwelkte Petersiliensträußchen auf den Silbertabletts lagen, mit seinem Hofstaat die Szenerie. Er breitete die Arme aus, als wollte er sein Publikum segnen. Dieser kleine Regiestreich schien sogar zu funktionieren. Ein paar Gäste, die rechtzeitig einen Abstellplatz für ihre Teller und Gläser gefunden hatten, applaudierten. Die, die ihre Hände nicht rechtzeitig frei bekamen, nahmen noch einen kräftigen Schluck um die letzten Happen schnell hinunterzuspülen und schrieen: "Bravo, Bravo!"

Um mit dem Intendanten ein Interview zu machen, bräuchte ich mindestens zwei Stunden oder stärkere Ellenbogen. Denn schon war der Hausherr von einer Traube gutgenährter Premierengäste umlagert, selbst der Bürgermeister ließ es sich nicht nehmen, ihm persönlich die Hand zu schütteln.

Zufällig bemerkte ich, dass man das Fässchen Bier schon schräg hielt, um ihm die letzten Tropfen zu entlocken.

Vereinzelt kamen jetzt auch die Schauspieler hinzu. Zuerst die Männer, die meisten davon mit gerötetem glänzenden Gesicht und nassen Haaren, die nach hinten gekämmt waren. Vielleicht eine halbe Stunde später, tauchten die Schauspielerinnen auf, mit Blumen und kleinen Geschenken in ihren Händen.

Unauffällig bewegte ich mich am Rande des Geschehens vorbei und bemerkte einen der Hauptdarsteller, der gerade dabei war, unangetastete Essensreste von den weggestellten Tellern seinem wohl ausgehungerten Körper zuzuführen.

Es hatte schon etwas Rührendes an sich, wie der Mime Salatblätter, Oliven und nicht abgenagte Unterschenkel liegen gebliebener Hähnchenbeine verspeiste.

Wie das Eichhörnchen im hiesigen Stadtpark, dachte ich.

Ich hatte mein Opfer gefunden. Jetzt musste ich ihn nur noch in ein Gespräch verwickeln und meine Seite in der alternativen Stadtzeitung wäre gesichert.

Ich beging den größten Fehler, den man im Umgang mit Schauspielern nur machen kann. Ich lud ihn auf ein Bier ein. Dieser Fehler kostete mich mehr als ich an Honorar von der alternativen Stadtzeitung für meinen einseitigen Artikel bekommen sollte. Nun, ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass es sich bei dem Schauspieler, den ich auf der Premierenfeier ansprach, um Stefan handelte. Stefan und ich gingen in die gegenüberliegende kleine Osteria, die den Theaterleuten nach Proben und Aufführungen eine zweite Bühne, wenn auch nur an der Theke, bot. Überall hingen an den Wänden Schwarzweißphotographien der hiesigen Theaterschauspieler, zwischendrin kleine farbige Autogrammkarten von Schlagersängern.

Stefan hatte nicht nur großen Durst sondern auch einen unbändigen Appetit.

"Drei Kilogramm nehme ich, bei jeder Vorstellung ab, sagte Stefan, "und bei Premieren sogar fünf Kilo."

Stefan trank und trank, verzehrte sein Selbstzusammengestelltes Fünf Gängemenü und ließ mich, den freischaffenden Journalisten und Interviewer erzählen. Naturgemäß entschuldigte ich mich zuallererst für meinen unfreiwillig gewählten Beruf.

"Eigentlich bin ich Dramatiker, sagte ich, "über fünfzehn Stücke habe ich schon geschrieben. Zwei davon sind sogar schon zur Aufführung gebracht worden.“

"Sehr interessant", murmelte Stefan und stopfte eine überladene Gabel glänzender Fettuccine in sich hinein.

Ich erzählte über meine Pläne, meine zerplatzten Hoffnungen, dem starren nicht zu durchdringenden Apparat des Theaters, so wie er sich mir bot und wurde erst, nachdem Stefan seinen dritten Grappa ex gekippt hatte, von ihm unterbrochen.

"Sie wollten mir doch Fragen stellen", konstatierte mein Gegenüber, wobei er sich seinen prallen Bauch hielt.

"Mein Gott ich bin voll wie eine gefüllte Gans!"

Dann ein lauter markdurchdringender Rülpser, der den Wirt der kleinen Osteria dazu veranlasste, uns beiden einen Grappa auf Kosten des Hauses auszugeben.

"Unter uns", sagte Stefan, "die Inszenierung war eine absolute Katastrophe. Der Intendant ist ein selbstverliebter Trottel und ein Angsthase dazu. Mein Gott, was habe ich Schlimmes getan, dass es mich in dieses Kaff verschlagen hat. Trinken wir noch einen?"

"Warum nicht", erwidere ich, in der Hoffnung intime Details aus dem Innenleben des hiesigen Theaters zu erfahren.

Stefan hätte das Kind von Oliver Hardy und Stan Laurel sein können. Der Körper von Hardy, die Gesichtszüge von Laurel. Während des ganzen Essens hatte ich darüber nachgedacht und Ähnlichkeiten mit berühmten Persönlichkeiten gesucht, bis ich endlich auf die beiden gekommen war. Stefan war für mich der geborene Komiker, spielte aber leider am hiesigen Theater nur ernste Rollen.

"Wäre ich bloß in Hamburg geblieben", sagte Stefan und bestellte mit einem Fingerschnippen noch einen Liter Rotwein.

"Vier Jahre war ich am Hamburger Schauspielhaus. Aber ich musste mich ausgerechnet in eine Maskenbildassistentin verlieben. Verlieben Sie sich nie in ein uneheliches Mädchen, das bringt nur Ärger!"

So erfuhr ich aus erster Hand, warum es ihn in diese Stadt verschlagen hatte und wie sehr er unter diesem Missstand litt.

"Der hiesige Intendant ist ihr Vater, aber nicht offiziell. Seine Frau weiß bis heute nichts davon. Meine Ex-Frau hat so lange Druck gemacht, bis mich der alte Herr mit einem nicht auszuschlagenden Vertrag geködert hatte. Meine Ex-Frau ist, glaube ich, jetzt in Zürich. Kein Jahr hat sie es hier unter ihrem Vater ausgehalten. Und ich Trottel musste einen Fünfjahresvertrag unterschreiben. Nur eines tröstet mich ein wenig: Der alte Herr hat eine höllische Angst vor mir. Auf der einen Seite zahlt er mir eine für dieses Theater viel zu hohe Gage. Wenn das der Stadtkämmerer herausbekommt, sind seine Tage hier gezählt. Auf der anderen Seite hat er Angst, dass ich seine abgekupferten Regieeinfälle durchschaue und alles an die große Glocke hängen könnte. Wussten Sie eigentlich, dass der große Meister Grundschullehrer ist. Ja, das wissen die wenigsten. Religion und Deutsch hat er studiert. Gott sei Dank hat er als Pädagoge nie gearbeitet. Ja, schreiben Sie das. Mir kann nichts passieren. In der nächsten Saison gehe ich zurück nach Hamburg. Warten Sie, warten Sie. Genau, schreiben Sie: Grundschullehrer mit unehelicher Tochter kupferte Erfolgsinszenierung von. Ach, lassen wir das. Trinken wir lieber. Prost!"

Ich kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob ich in meiner, wir beide in meiner oder ich in seiner Wohnung aufgewacht bin.

An eine Sache kann ich mich noch genau erinnern, dass ich mich nämlich in der Eingangstür der kleinen Osteria vis-à-vis dem Theater übergeben hatte, worauf mir Stefan sofort das Du angeboten hatte.

Zwar hatte mich dieser Abend ein Vermögen gekostet und eine Woche später war mir immer noch schlecht, der Grappa-Geschmack im Mund verschwand erst nach einem Monat, aber ich hatte einen Freund gefunden, mit dem man über alles und jeden reden konnte.

Im Grunde lebte ich in dieser Zeit sehr isoliert. Die Stadt hatte zwar schon Könige, Prinzen, Kanzler und Präsidenten gesehen, Künstler hingegen waren die Ausnahme. Die Häuser in der historischen Innenstadt waren vollgepflastert mit Messingschildern, die auf das Geburtshaus eines bedeutenden Künstlers hinwiesen. Doch betrachtete man die Sache genauer, so stellte man fest, dass alle diese berühmten Menschen, ohne Ausnahme, noch vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr die Stadt fluchtartig verlassen hatten.

Ich lebte sehr gern in dieser Stadt. Sie war überschaubar, und man ließ mich in Ruhe, vielleicht zu sehr.

Die meisten meiner Kontakte ergaben sich in Cafés und Kneipen, wo ich mich am liebsten aufhielt und in dicke Kladden meine Geschichten sowie Theaterstücke schrieb. Ein gutaussehender junger Mann, der ich ja damals noch war -mein Äußeres entsprach vielmehr dem eines Schlagersängers, als dem eines so genannten Intellektuellen - saß allein am Tisch und schrieb. Das fiel natürlich auf. Nicht selten wurde ich auf meine Tätigkeit hin angesprochen, worauf ich, bedingt durch meine gute Erziehung, immer ehrlich antwortete.

Erst viel später kam ich darauf, dass die an meinen Tisch getretenen, es so genau gar nicht wissen wollten.

Die zweite Frage, die mir gestellt wurde, war immer die gleiche: Können Sie davon leben? Kann man davon leben?

Eine Frage, die ich bis heute nicht zur Zufriedenheit aller beantworten kann. Die Stadt beherbergte sogar eine Sektion des Schriftstellerverbandes, an deren regelmäßig stattfindenden Sitzungen ich einmal teilgenommen hatte.

In einem Fachwerkhaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in dem sich ein kleines Weinlokal befand, trafen sich die Schreiberlinge der Stadt ausgerechnet mittwochs. Wo doch jeder Mann weiß, dass an diesen Tagen die meisten Fußballländerspiele und Europacupspiele im Fernsehen live übertragen werden.

An einem spielfreien Mittwoch war ich aus purer Neugier hingegangen. Da saß ich denn, eingezwängt zwischen Bibliothekarinnen, Kindergärtnerinnen, Grundschullehrern, Hauptschullehrern, Gymnasiallehrern und einer Buchfachverkäuferin und musste mir Stunde um Stunde Geschichtchen und Gedichtchen anhören.

Irgendwann an diesem Abend war ich zu meiner Überraschung selbst an der Reihe. Ich hatte naturgemäß nichts dabei.

Die penetrant aufdringliche Moderatorin und Leiterin des Schriftstellerverbandes bat mich, ich sollte mich der Runde doch erst einmal vorstellen.

Wie das nun mal so ist, wenn man irgendwo neu ist und man hundert Prozent weiß, dass man diese Menschen im Leben nicht wieder sehen will und wird, bröselt man die Rosinen aus dem Kuchen des eigenen Lebenslaufes und schmeißt sie in die verblüffte und vom Leben ausgehungerte Menge.

So tat ich es auch und reihte einen Erfolg an den anderen.

Nach meiner Vorstellung stand an diesem Abend nur noch gemütliches Beisammensein auf dem Programm.

Mehrere Teilnehmer zogen mich nacheinander in verschwiegene Ecken und fragten mich aus. Es schien sie überhaupt nicht zu interessieren was und wie ich schrieb. Ihr Interesse galt ganz allein meinen Kontakten.

Naturgemäß hatte ich bei meiner Vorstellung nur so mit berühmten Namen umher geworfen. Nun wollten sie alles wissen, Telefonnummern, forderten Empfehlungsschreiben von mir ein und boten mir, da ich keine Namen beziehungsweise Adressen preisgab, sogar Geld an.

Mit Hilfe einer der billigsten Ausreden, dem Ich-muß-mal-auf-die-Toilette-Trick, entfloh ich aus der illustren Gesellschaft, und schwor, die enge Gasse, in der sich das kleine Weinlokal befand, nie mehr zu betreten.


"Nix für ungut, aber eine Ordnung muss sein!"

Der Pförtner der Filmstudios gibt Stefan und mir unsere Ausweise zurück, tritt mit uns aus seinem Häuschen und beschreibt uns den Weg zu jenem Gebäude, in dem unser Produzent sein Büro hat.

"Gehens an der Halle l vorbei, dann links an Halle 7 und wenn Sie sich dann etwas schräg rechts halten, dann stossens direkt drauf. Also, nochmals, nix für ungut".

So betreten Stefan und ich den heiligen Boden des Studiogeländes.


(2) AUF DEM STUDIOGELÄNDE AUSSEN/TAG


Im Rotlichtbezirk.

Stefan und Harry verlassen ein einschlägiges Lokal. Die Neonreklame mit der Aufschrift "KOLIBRI" ist ausgeschaltet. In einem Schaukasten hängen Bilder von nackten Tänzerinnen, nur mit einer Federboa bekleidet.

Den Hintergrund bildet eine Straße, die vor Jahren extra für Rainer Werner Fassbinders Filmepos "Berlin-Alexanderplatz" gebaut wurde.

Lässig setzen Stefan und Harry sich ihre Sonnenbrillen auf.


Stefan: Manchmal kotzt mich der Beruf schon an, Harry.


Harry:   Ich weiß, Stefan. Ich weiß.


Stefan: Wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen, 

Harry?


Harry:   Über zwanzig Jahre, Stefan.


Stefan: Verdammt lange Zeit, Harry.


Harry:   Ich weiß, Stefan. Ich weiß.


Stefan: Wir dürfen uns nicht von der Routine auffressen lassen, Harry.


Harry:   Nein, das dürfen wir nicht, Stefan.


Stefan: Wenn du willst, darfst du heute den Wagen zurückfahren, Harry.


Harry: Danke, Stefan. Danke.


Stefan und Harry schlendern die "Berliner Straße" entlang.

"AUS", brüllt eine Megaphonstimme," wo kommen denn plötzlich diese beiden Trottel her?"

Lässig liften Stefan und ich unsere Sonnenbrillen und blinzeln in gleißendes Scheinwerferlicht. Eine junge Frau, in schwarzer Lederhose und Sportfischerweste mit tausend Taschen - die meisten davon viel zu klein -, kommt auf uns zugelaufen.

"Was machen Sie hier?"

Völlig außer Atem ist sie vor uns zum Stehen gekommen.

"Ihre Stoppuhr, Sie müssen Ihre Stoppuhr drücken", sagt Stefan und weist auf den Zeitmesser, der um ihren Hals hängt.

"Leckt mich doch", faucht uns die junge Frau an und hält mich am Arm fest, da ich weiter gehen will.

"Wir haben einen wichtigen Termin", sage ich.

"Weg mit ihnen", brüllt die Megaphonstimme.

"Verdammt viele Leute hier", flüstert Stefan und spürt, wie ich, dass hunderte von Augen auf uns gerichtet sind.

"Bringt mir ein Gewehr. Ich will auf der Stelle einen Schießprügel. Ich erledige das auf meine Art".

Ein lang gezogener Pfeifton, dann ist die Megaphonstimme verstummt.

"Schön, dass wir uns mal kennen gelernt haben. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder."

Geschickt löse ich ihre Hand von meinem Jackett und gebe Stefan durch einen Schlag in die Seite zu verstehen, dass er mir unauffällig folgen soll. 


Mit Frauen hatte ich eigentlich nie größere Probleme, auch damals nicht in dieser Stadt, wo ich Stefan kennen lernte. Der Schriftsteller hat zwar nicht die erotische Ausstrahlungskraft eines Malers, aber mit Hilfe der Phantasie kann aus einem kleinen harmlosen Flirt, die größte Liebesgeschichte aller Zeiten werden, und Mauerblümchen verwandeln sich in Lotosblumen oder Baccararosen, je nach Geschmack und Stimmung.

Stefan war in dieser Hinsicht eher ein monogamer Typ. Ihm reichte es, wenn er eine Frau hatte, die gut kochen konnte und ihn ansonsten nicht zu sehr beanspruchte.

Bei mir sah die Sache schon ganz anders aus. Ein Schriftsteller, auch wenn ihn noch keiner kennt, muss ja schließlich Erfahrungen sammeln.

Die anfängliche Euphorie, die Frauen mir entgegenbrachten, verblasste bald, spätestens dann, wenn ihnen meine finanzielle Situation zur Gänze klar wurde. Da war aber noch eine zweite Sache, die Frauen immer wieder zur Weißglut brachte, ich konnte mich nicht mit ihnen streiten. Nein, ein Streit war mit mir unmöglich. Ich war damals einfach der Meinung, ein Drama gehört auf die Bühne oder die Leinwand, aber nicht ins richtige Leben. Da flogen Tassen und Teller, Schallplatten wurden zerbrochen, aber ich blieb ruhig.

Wie ein Außenstehender verfolgte ich das ganze Geschehen, nur bei Handgreiflichkeiten hielt ich meine Hände schützend vor das Gesicht.

Da mein Bankkonto, soweit ich mich zurückerinnern kann, fast immer im Minus gewesen war, kam mir eine Frau, eine neue Liebe naturgemäß immer gut gelegen. Wobei, und das möchte ich hier ausdrücklich betonen, ich nie wegen des Geldes mit einer Frau ins Bett gegangen bin. Aber es war angenehm in frischer Bettwäsche zu schlafen und zu Weihnachten oder an Geburtstagen neue Unterwäsche und Strümpfe geschenkt zu bekommen. Für einen selbst gestrickten Pullover reichte die Zeit nicht. Nein, ich will mich wirklich nicht beklagen. Die Frauen waren immer sehr großzügig zu mir, selbst die Miete für mein kärgliches Zimmer, das ich immer liebevoll "mein Büro" nannte, wurde von ihnen ab und zu auf das Konto meines besorgten Vermieters überwiesen. Bei Stefan sah das leider alles ganz anders aus. Er hatte zwar nicht mit vielen Frauen in seinem Leben etwas angefangen, dafür hatten alle etwas gemeinsam: Den unbändigen Drang zum Standesamt. Vier Ehen hatte Stefan bereits hinter sich und das bedeutete für ihn: zahlen, zahlen, zahlen.

Mich brauchte im Grunde nur ein Körperteil, ein charakteristisches Merkmal zu faszinieren, schon schwebte ich in höheren Sphären. Vor allem von der Stimme, der weiblichen Stimme war ich sehr angetan. Stundenlang konnte ich ohne zu unterbrechen, zuhören. Unzählige Gedichte, Lieder, Kurzgeschichten habe ich im Laufe meines Lebens für Frauen geschrieben und ich bin mir sicher, dass sie sie aufbewahrt haben, in einem Schuhkarton oder festgeschnürt mit einer Seidenschleife, versteckt ganz hinten im Kleiderschrank. So bleibt wenigstens der Funke eines Hoffnungsschimmers in Bezug auf die Unsterblichkeit meiner Arbeiten. Die meisten meiner Partnerinnen haben kurz nach unserer Trennung geheiratet. Zahnärzte, Steuerberater, Anwälte oder Betriebswirte, fast alle Frauen haben in puncto ihrer sozialen Absicherung eine gute Wahl getroffen. Vielleicht diente ich ihnen ja zur Selbstfindung, war ihr letzter Spaß vor dem großen Ernst des Lebens. Ich hoffe nur, alle haben die richtige Wahl getroffen. Bei Stefans Ex-Frauen sah das entscheidend anders aus. Keine von ihnen dachte nur im Traum daran, wieder zu heiraten. Sie schickten ihm zwar regelmäßig Ansichtskarten aus dem Urlaub, auf denen auch immer ein Freund mit unterschrieb, ansonsten aber lebten sie offiziell allein und warteten auf den monatlichen Scheck von Stefan.

"Über hunderttausend Mark habe ich dieses Jahr schon verdient und mir bleibt nichts", klagte Stefan irgendwann eines Nachts, als wir uns schon einen Monat kannten.

Nach fast jeder Vorstellung hockten wir in der kleinen Osteria vis-à-vis dem Theater zusammen und diskutierten mit anderen Theaterschaffenden bis in den Morgen hinein über neue Formen der Ausdruckskunst oder schweiften in die ach so goldene Vergangenheit.

Wenn in fünfzig Kilometer Entfernung nicht der großzügig zahlende Rundfunksender gewesen wäre, ich glaube Stefan wäre an seinen Schulden erstickt. So fuhr er jeden Morgen, immer dann wenn er keine Proben hatte, in die nahe liegende Stadt, um dort in Hörspielen mitzuwirken, Kommentare zu sprechen oder Dichtkunst vorzutragen. Sein Hauptbetätigungsfeld aber war der Schulfunk. Im Rundfunkhaus wurde er vom Pförtner sogar schon als "Mister Schulfunk" begrüßt.

Selbst für Radio und Kino-Dia-Werbung war er sich nicht zu schade. Hauptsache es reichte immer für die fälligen Schecks am Anfang jeden Monats. Sicherlich gab es Abende, an denen Stefan das andere Geschlecht und alles was damit zusammenhing, verfluchte. Aber die drei Kinder, die er bis dato gezeugt hatte, ließen ihn schnell wieder vom Napf der Melancholie loskommen. Er öffnete dann einfach seine dicke Brieftasche und ließ unzählige Kinderbilder in der Runde seiner Zuhörer kreisen. Auch Stefan hatte anfangs eine bürgerliche Existenz erstrebt. Nach dem Abitur hatte er zu studieren begonnen. Dann kam die Studentenbewegung, das Studententheater, die Schauspielschule und dann eben das Theater. Das Theater lässt niemanden mehr los. Einmal in seinen Fängen und man ist verloren, ein Leben lang. Aber wo findet man sich, wenn nicht im Verlieren, im Loslassen. Wenn ich daran denke, wie Stefan seine Kollegen an die Rampe geführt hatte, um den Applaus entgegenzunehmen, treibt es mir noch heute vor Rührung die Tränen ins Gesicht. Allein wie Stefan sich verbeugte, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, um seinen Lohn für die getane Arbeit in Empfang zu nehmen, das hatte was. Wie ein souveräner Gastgeber stand er da oben, zeigte mal nach rechts, mal nach links, um seine Kollegen hervorzuheben. Selbst beim Gemeinschaftsapplaus war Stefan immer Mittelpunkt, auch wenn er ganz am Rand stand. Den Kopf leicht nach vorne gebeugt und ein leicht angedeutetes Kopfnicken, so als ob er, im dunklen Zuschauerraum, jeden einzelnen grüßen wollte, diese Kunst beherrschte er wie kein anderer. Beim dritten Vorhang, wo die Schauspieler einzeln vortraten, die meisten von ihnen hetzten wie aufgeschreckte Hühner über die Bühne, schritt Stefan über die Bretter, die die Welt bedeuten, und erntete somit den größten Applaus. Ja, er war ein Liebling der Zuschauer und sogar des städtischen Feuilletons. Schon nach einer Woche durchzechter, durchdiskutierter Nächte wusste ich mit Bestimmtheit, ich würde ein Stück für Stefan schreiben.

Ja, Stefan bekommt ein Einpersonenstück von mir geschenkt. Das Thema schwirrte mir auch schon im Kopf herum. Zu dieser Zeit wurde gerade ein Bestechungsskandal von den Medien ausgeschlachtet. Nicht die Tatsache, dass ein Wirtschaftsunternehmer Steuerhinterziehung begangen, Bilanzen gefälscht und Politiker bestochen hatte, interessierte mich. Nein, seine Darstellung im Fernsehen faszinierte mich. Da wurde ein braungebrannter Mann naturgemäß mit graumelierten Haaren an den Schläfen, eskortiert von zwei lächelnden Anwälten gezeigt, wie er zur Urteilsverkündung wie Churchill mit dem Finger in Richtung Kamera und Blitzlichtgewitter sein V machte und siegeslächelnd den Gerichtssaal betrat. Im Gericht, nach der Urteilsverkündung wurde der Industrielle zur Überraschung aller, mit der Begründung auf Fluchtgefahr, sofort verhaftet und in den nahe liegenden Hochsicherheitstrakt gebracht, der in den siebziger Jahren für die RAF gebaut wurde. Der gerade Verhaftete war als Bauherr damals federführend in der Herstellung des Stahlbetonbaus gewesen. So entstand in nur wenigen Wochen dieses Einpersonenstück für Stefan, das Folgen haben sollte.

Zur selben Zeit entdeckten Stefan und ich eine Gemeinsamkeit in unseren Lebensläufen, die gleichzeitig Fundus für unzählige lustige Geschichten war:

Das Tourneetheater.

Ja, ich muss zu meiner Schande gestehen, auch ich war Mitglied, Mitstreiter in einer solchen Unternehmung. Durch Zufall erfuhr ich, dass ein alter Regiehase, wie er sich selbst gern nannte, für ein Boulevardstück einen Regieassistenten suchte. Ich wollte Erfahrungen sammeln, also bewarb ich mich um den Job.

In einem Nobelhotel traf ich den großen alten Meister höchstpersönlich, im extra für diesen Abend angemieteten Kaminzimmer.

"Ich will ehrlich sein", sagte der große alte Mann, "im Grunde suche ich nur etwas fürs Bett. Wobei es mir egal ist, ob Männlein oder Weiblein. Sie verstehen? Ich bin alt und mir ist es egal. Warum also sollte ich wählerisch sein?"

"Na dann werden wir wohl nicht zusammenkommen".

Ich machte Anstalten mich von meinem Platz zu erheben.

"Warten Sie, warten Sie! Ihr Gesicht gefällt mir. Da ist auch noch eine Rolle zu besetzen. Nichts großes, aber ich will Ihnen eine Chance geben. Sie scheinen Charakter zu haben".

 Vielleicht lag es an der unbändigen Hitze oder dem fehlenden Sauerstoff, hervorgerufen durch den brennenden offenen Kamin, dass für einen Moment mein Verstand aussetzte und ich den Pakt mit dem Teufel schloss.

Das Stück war naturgemäß beschissen. Alles war an den Haaren herbeigezogen.

Ich hatte einen stotternden Fernmeldetechniker zu spielen und mein Kostüm glich dem eines Postboten aus einem Tati-Film. Fünfzehn Sätze hatte ich zu sagen. Einen Auftritt von links und einen von rechts. Beim zweiten Auftritt komme ich mit einem Mal aus der Küche in das Wohnzimmer. Selbst der Regisseur konnte mir nicht plausibel erklären, wie ich in die Küche gelangt war.

"Hintenherum, Sie Idiot."

Den Hauptdarsteller ein bekannter ewig junggebliebener Fernsehliebling, er war damals, glaube ich, Mitte vierzig, sahen wir auf den Proben nie.

"Er hat das Stück schon über dreihundert Mal gespielt", fauchte uns die Regieassistentin mit dem strengen Zopf und den dicken Brillengläsern an, als das zusammengewürfelte Ensemble nach ihm fragte.

Die Regieassistentin war ein Grund dafür, dass die Proben aggressiv abliefen. Keiner im Ensemble glaubte daran, dass der alte Regisseur, schon seine erfahrene Hand an sie gelegt hatte.

"Des is a trocknes Ungustl", sagte mein Wiener Kollege, den nichts aus der Ruhe zu bringen schien. Im Stück spielte er einen Hund, der sprechen konnte.

"A Hund, des muss a Wiener sein", pflegte er zu sagen und fügte hinzu, dass so etwas nur einem Piefke hätte einfallen können.

Ansonsten verliefen die Proben immer gleich. Die Regieassistentin malte mit Kreide Striche auf die Probebühne, denen wir zu folgen hatten. Die Akteure mussten andauernd hin und her laufen. Türen gingen auf und zu. Das war’s auch schon.

Das ganze Spektakel sollte während der Seefestspiele im Sommer an einem bekannten österreichischen Badeort auf einem schwimmenden Plateau über die Bühne gehen.

Die schwimmende Bühne hatte man so weit auf den See hinausgefahren und dort verankert, dass die Zuschauer vom Ufer aus nur mit dem Fernglas, das man naturgemäß an der Kasse neben einem Hochglanzprospekt und der Biographie des bekannten Fernsehlieblings zu Wucherpreisen erwerben konnte, etwas sehen konnten.

Auf der Generalprobe erschien er dann endlich, der große Star. Er sah aus wie fünfzig, bewegte sich wie ein sechzigjähriger und spielte einen dreißig Jahre alten Sonnyboy, dem alle Frauen zu Füßen lagen. Worüber sich sein griechischer Freund aus Mykonos, der kein Wort deutsch sprach, köstlich amüsierte.

"Wenn di Schwuchtel mi anpackt, tret i ihm eini", flüsterte mir der Wiener zu, als der Fernsehliebling zu uns herüber schaute und einem von uns beiden zublinzelte. Naturgemäß setzte sich der ewig blonde Star sofort in Szene.

"Kinder, wieso muss ich mit einem Mal wieder rauchen. Das haben wir doch schon im letzten Jahr geklärt. Außerdem gibt das überhaupt keinen Sinn. Kinder, bitte, denkt an meinen Teint. "

War die Zigarettenfrage geklärt, kam auch schon die nächste Unterbrechung.

"Und ihr habt wirklich dafür gesorgt, dass gespritzt wurde. Ich möchte heute Abend keine einzige Schnacke auf dem Wasser sehen. Ich breche sofort ab. Kinder, ihr wisst doch, ein Stich und mein Gesicht verwandelt sich in eine Tomate."

Am Tag der Premiere wurden wir mit Ausnahme des Fernsehlieblings so gegen acht Uhr abends auf die schwimmende Bühne gebracht, obwohl die Vorstellung erst um halb zehn abends, mit Einbruch der Dunkelheit, beginnen sollte.

Mit großen Reisebussen wurden die Besucher an das Seeufer gekarrt und mit volkstümlicher Musik bis zum Beginn der Vorstellung bei Laune gehalten. Männer und Frauen in weißen Kitteln gingen durch die Reihen und verkauften Eis, Getränke und heiße Würstchen. Als es langsam zu dämmern begann, verstummte die Musik. Worauf die Zuschauer am Ufer mit einem lang gezogenen "OH" antworteten. Nach zehn Minuten etwa schaltete man vom Ufer aus einen Flakscheinwerfer an, der in langsamen Kreisbewegungen über das dunkle Wasser fuhr. Dann das Tuckern eines Motorbootes, was von den Zuschauern am Ufer wieder mit einem lang gezogenen "OH" quittiert wurde. Eine kleine weiße Jacht wurde vom Verfolger eingefangen. Auf dem Oberdeck stand im weißen Anzug der Fernsehliebling, der unter den Zuschauern am Ufer geradezu eine Hysterie auslöste. Zwei Runden fuhr das Boot um die schwimmende Bühne, bevor zwei starke Männer in weißen engsitzenden T-Shirts und Hosen den ewig blonden Star von der Jacht auf das Plateau hoben. In der Lichtpause die danach folgte, schoss der Fernsehliebling auf die Regieassistentin zu und brüllte sie an:

"Ich werde euch verklagen. Wenn ich fertig mit euch bin, werdet ihr euch wünschen, nie geboren worden zu sein. Mindestens drei Stiche auf der Fahrt hierher. Mein Gott, ich sehe bestimmt fürchterlich aus. Maske, wo ist die Maske!"

"Achtung, meine Damen und Herren, es ist jetzt einundzwanzig Uhr und sechsundzwanzig Minuten. In zwei Minuten werden die Mikrophone eingeschaltet."

So blieb auch dem Fernsehliebling nichts anderes übrig, als zu verstummen. Über die Premierenvorstellung gab es eigentlich nicht viel zu sagen. Alle Pointen waren auf ihn zugeschnitten. Naturgemäß bekam der ewig blonde Star bei jedem Auftritt Szenenapplaus. Selbst in Szenen, in denen er, nach Regieanweisung und Buch gar nicht vorkam, tauchte er dennoch immer wieder auf. Mal erschien er am Fenster, öffnete eine der vielen Türen oder trat urplötzlich von der Seite an der Kulissenbegrenzung auf die Bühne, machte ein paar Faxen und ging dann durch eine der Türen wieder ab. Ihm voraus ging eine Alkoholfahne, die es in sich hatte. Wir, die auf der Bühne standen, schwitzten und unser Bestes gaben, konnten ihn nicht immer sehen, wussten aber sofort wenn die Zuschauer vom Ufer her frenetisch klatschten, er ist wieder irgendwo auf der Bühne. Der sprechende Hund beispielsweise, die eigentliche Hauptrolle, die von meinem Wiener Kollegen gespielt wurde, ging völlig unter. Nur wenn der Fernsehliebling ihn in den Hintern trat, gab es große Lacher aus dem Publikum. Dass der ewig blonde Star beim Schlussapplaus der letzten Vorstellung unglücklich den Halt verloren hatte und ins Wasser fiel, war Pech und eben nur ein Unfall. Auf keinen Fall hatte mein Wiener Kollege seine Finger beziehungsweise Pfoten im Spiel, so wie es der Fernsehliebling behauptete. Auch Stefan konnte so einiges berichten. Vor allem die Schilderungen der Bühnenunfälle, die bei Theatertourneen wohl auf der Tagesordnung stehen, strapazierten meine Bauchmuskeln so sehr, dass ich nicht selten mit einem Bauchmuskelkater mittags aufwachte. Proben und Routine sind ja ganz gut und schön, können aber zu einer tödlichen Falle werden. Da spielt man ein Stück fünfzig Mal, geht immer vierzehn Schritte nach vorne, um an der Rampe seinen Monolog zu halten, und ausgerechnet in Bad Zwischenahn passiert es dann: Man geht Schritt für Schritt und ehe man innerlich bis zehn gezählt hat, liegt man auch schon den Zuschauern zu Füßen und krümmt sich vor Schmerzen.

Fünfzig Mal geht man wie selbstverständlich während des l. Aktes links ab, muss aber in Hof, was man in der Hektik vergessen hat, rechts abgehen. Man tritt durch eine Tür und weiß sofort, hier war ich noch nie. Man tastet sich langsam die dunklen Stufen hinunter, geht einen langen Gang entlang bis man in der vollkommenen Dunkelheit mit der Stirn gegen eine Eisentür knallt. Längst sind von der Bühne her keine Stimmen mehr zu hören. Man öffnet die schwere Eisentür und steht plötzlich im hellerleuchteten Heizkesselraum. Endlich Licht, denkt man, freut sich für einen Moment, bis hinter einem besagte Eisentür ins Schloss fällt. Man dreht sich um und sucht vergebens nach einer Türklinke. Die Vorstellung ist gelaufen.

"Was nicht immer negativ ist", sagte Stefan. "Es gab Hamlet Aufführungen, die hervorragend von den örtlichen Kritikern besprochen wurden, obwohl Hamlet kein einziges Mal die Bühne betreten hatte. Er hatte die Bühne einfach nicht gefunden. Während einer Theatertournee ist die Improvisation der einzige Rettungsanker. Hier zeigt sich die wahre Stärke, die große Begabung des Künstlers.“

Stefan erzählte von betrunkenen Schauspielern, denen es im 2. Akt unmöglich gewesen war, auch nur einen Satz herauszubringen.

"Kein Problem", sagte Stefan, "du nimmst den Satz deines Partners und formulierst in zu einer Frage um. Das merkt kein Schwein."

Nächtelang amüsierten Stefan und ich uns köstlich in seiner, von seiner letzten Ex-Frau heimlich leergeräumten Wohnung, bis ich auf die Idee kam, daraus ein Drehbuch zu machen.

"Lass uns ein Drehbuch schreiben, am besten einen Mehrteiler, die Leute werden sich vor Lachen nicht mehr einkriegen."

Im Geiste sah ich schon wie man Stefan und mir in Marl den Adolf-Grimme-Preis überreichte.

"Ich weiß nicht", sagte Stefan skeptisch, "ich bin Schauspieler, kein Schriftsteller. Ich habe noch nie etwas geschrieben."

"Lass mich nur machen. Bei meiner Erfahrung und Deinem guten Willen kann doch überhaupt nichts schief gehen."


Stefan nimmt die Sonnenbrille ab.

"Ich glaube da drüben ist es", dabei zeigt er auf ein zweistöckiges Gebäude, an deren Eingangshalle eine große verchromte Metallsäule steht.

Als wir näher herantreten, sehen wir, dass die Säule aus unzähligen und unterschiedlich großen Geschäftsschildern besteht. Ein Mann im grauen Kittel ist gerade dabei, eines der Schilder gegen ein anderes auszutauschen.

"Früher war halt alles aus Holz“, murmelt der Mann, "erst heißens Alpha-Film, dann Beta-Film und jetzt auf ein Mal Gamma-Film. Wer soll sich da bittschön auskennen."

Unsere Augen schweifen über die verschiedenen Firmenschilder: Casablanca-Film, Rio-Film, Venezia-Produktion, Karthago-Film, Hollywood-Cooperation.

Stefan und ich atmen tief durch. Noch ein paar Schritte und wir betreten die große weite Welt.

"Scheiße, verdammte", brüllt der Mann hinter uns und lässt etwas Schweres fallen.



Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 



Alle Rechte bei Johannes Wierz 


Für R.

„Sie soll Adele heißen!“

„Adele?“

„Warum nicht?“

„Adele ist kein Name für so etwas. Bedenken Sie, was auf dem Spiel steht!“

„Adele ist gut. Mir ist das eingefallen, und dabei bleibt es!“

„Adele, allein der Name wird das Ganze zum Scheitern bringen. Adele, das klingt wie ein Waschmittel oder wie die Abkürzung eines Abhörprogramms der Amerikaner.“

„Amerikaner haben in unserem Spiel keinerlei Bedeutung, wie auch der Rest der Bevölkerung nicht.“

„Oh, ja ich weiß, der Allmächtige hat gesprochen. Der Unfehlbare hat immer Recht!“

„Ich treffe die Entscheidungen, das ist der Plan. Adele ist für diese Versuchsreihe genau der richtige Name!“

„Und er? Und er heißt am besten noch Erwin!“

„Ich hatte noch keinen Namen. Ich schwankte zwischen Edgar und Emil. Aber Erwin, das hat was. Das muss ich Ihnen lassen!“

„Adele und Erwin, was soll das? Der Chef wird uns in Stücke reißen.

„Der Chef hat das große Ganze im Blick, den scheren keine Namen.“

„Ich möchte nicht dabei sein, wenn er das Exposé zu unserer Versuchsreihe liest.“

„Angsthase, wobei ich mich jetzt schon beim Chef dafür entschuldige.“

„Immer korrekt der Herr. Aber Adele und Erwin werden dir das Genick brechen.“

„Das hat überhaupt keine Bedeutung. Haben Sie vergessen, wo wir sind?“

„Nein, nein, man kann sich den Arbeitsplatz nicht aussuchen.“

„Eben, und jetzt ran an die Arbeit. Es gibt genug vorzubereiten, bevor wir die Versuchsreihe starten können.“



Vom Glück, das Glück vergessen zu haben


Erwin mähte den Rasen, als das Telefon im Haus klingelte. Er hörte es nicht, denn der Motor machte einen höllischen Lärm. Mehrere Minuten läutete es im Haus, während draußen der Mann seine Runden drehte. Er hatte sich zur Angewohnheit gemacht, in den Rasen Objekte zu schneiden. Manchmal war es nur ein Buchstabe oder ein Wort, heute aber hatte er einen Hasen mit dem Mäher geformt. Er stellte die Maschine ab und im selben Moment legte Adele den Hörer wieder auf. Sie starrte auf den Bildschirm. Eine Suchmaschine im Internet hatte ihr die Nummer verraten. Vielleicht ist er längst weggezogen, dachte sie und zog nervös an einer Zigarette, die erste seit ein paar Wochen. Eigentlich wollte sie erst rauchen, wenn sie am anderen Ende der Leitung eine bekannte Stimme gehört hätte. Bei einer Kinderstimme hätte sie sofort aufgelegt. Bei einer Frauenstimme wäre sie ins Grübeln gekommen und hätte eine Zehntelsekunde später auf ihre Stimme gehört: Das wollen wir doch mal sehen.

Erwin trank ein Glas Wasser und betrachtete sein Werk. Die Ohren waren etwas lang geraten und der Po war ein wenig zu rund. Dafür lächelte der Hase und zeigte seine beiden Vorderzähne. Mit einer Polaroidkamera schoss er ein Foto von dem Tier und stellte  anschließend die Maschine wieder an.

Adele klopfte die Zigarette im Aschenbecher aus und wählte erneut die Nummer. Sie hasste es, wenn sie warten musste. Die Dinge mussten sofort passieren oder gar nicht. Hoffnung war etwas für Selbstmörder und Versager. Wartesäle hasste sie wie die Pest.

Adele trauerte nichts nach. Jedes Ende war ja auch ein neuer Anfang. 

Samstagnachmittag saß sie in ihrem Büro und starrte auf den Bildschirm. Eine Katze streifte ihre Beine. Ansonsten war es ruhig im Haus. Der Junge war beim Fußballtraining und einen Mann gab es nicht. Neben dem Aschenbecher lag ein Cuttermesser. Einen Schnitt machen, nur so und nicht anders. 

Der Rasen war gemäht und der lächelnde Hase Geschichte. Erwin ging ins Haus und befestige das Polaroidbild mit einem Magneten am Kühlschrank, eingerahmt zwischen Z wie Zorro und einer Ente. Der mannshohe Kühlschrank aus den sechziger Jahren war übersät mit Fotos. Alles in dem Haus war alt. Er hatte das Haus von seiner Mutter geerbt und war fast ohne Möbel ins elterliche Domizil gezogen. Nur das Bett hatte er durch ein Neues austauschen lassen. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er in die Wanne steigen oder lieber eine Runde mit dem Fahrrad drehen sollte. Erwin war fast Fünfzig und hatte, seit dem er vor sechs Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, fast zwanzig Kilo zugenommen. Er musste was tun, sonst würde er irgendwann nicht mehr in die Wanne passen. Erwin schnappte sich das Rad seines Vaters aus der Garage und machte sich auf seine  Strecke.

„Verdammt“, fluchte Adele. Den Samstagnachmittag hatte sie sich anders vorgestellt, ein langer Sonntag lag noch vor ihr. Sicher, es gab im Haushalt genug zu tun. Aber Wäsche waschen und bügeln, das konnte es wohl nicht sein. Vielleicht bekam sie das Kind dazu, mit ihr einen Ausflug zu unternehmen. Manchmal zogen sich die Sonntage bis ins Unendliche. Adele zündete sich erneut eine Zigarette an und öffnete das Fenster. Der Junge hatte sie nie rauchen gesehen und dabei sollte es auch bleiben.

Reichte es doch, dass der Kindsvater keine Disziplin aufwies und selbst im Auto rauchte. Zum Glück hatte sie den Schnitt gezogen. 

Erwin hatte die Route zum Fluss gewählt. Gegen den Strom fahren, etwas was zur Sucht werden könnte. Egal, er liebte es, wenn ihm der Wind ins Gesicht schlug und der Körperumfang um ein Gürtelloch schrumpfte.

Nach zehn Stromkilometern machte er eine Pause und setzte sich runter an den Fluss.

Er liebte das Geräusch, wenn die Wellen gegen die Steine platschten und das gleichbleibende Geräusch der Dieselmotoren. Langsam zogen die Schlepper an ihm vorbei, stromaufwärts, stromabwärts. Er konnte stundenlang hier sitzen. 

Nur die Gedanken blieben aus. Er legte sich auf den Rücken und starrte in eine Herde an Schäfchenwolken. Er fühlte sich zufrieden. Glück kannte er nicht mehr. Er hatte es einfach vergessen. 

Der Samstagnachmittag war gelaufen. Adele dachte darüber nach, das Telefon gänzlich abzuschaffen. Ein radikaler Gedanke und nicht umsetzbar, als Geschäftsfrau mit eigenem Laden.  


„Sie sehen zufrieden aus!“

„Kann man so sagen.“

„Der Alte hat deinen Antrag also genehmigt.“

„Die Versuchsreihe läuft bereits!“

„Was, ohne sie mit mir abzusprechen? Stellen Sie sich so Teamwork vor?“

„Es hat sich so ergeben.“

„So ergeben, so ergeben. Da hat doch wieder einer am Rädchen gedreht. Sie haben wohl wieder mit dem Junior geredet?“

„Der Junior befindet sich in einer Phase der inneren Einkehr und ist nicht zu sprechen.“

„Hat er also wieder nur genickt. Was für eine Existenz. Er weiß, dass er niemals Chef werden wird, für immer und ewig der Junior bleiben wird.“

„Das kommt auf die Sichtweise an. Ich kenne genügend Leute, die halten ihn für einen Spinner, für andere ist er gestorben und wieder andere halten ihn für eine Art Botschafter oder so.“

„Sie müssen mir keinen Vortrag halten. Ich weiß selbst wie verrückt die Welt ist. Deshalb bedarf es ja einer Ordnung. Aber den Junior zu fragen, dass ist unter Ihrer Würde. Ich glaube er kifft. Kennen Sie seine Bilder? Seine Geschichten? Vollkommen abgedreht.“

„Er war als Kind schon sein eigener Herr. Mir gefällt das. Ein freier Geist kann niemals schaden.“

„Da kenne ich aber ganz andere Beispiele.“

„Sie entschuldigen, ich muss zurück an die Arbeit.“


Adele hatte sich eine Stunde eine schöne Zeit gemacht, wie sie das nannte und lag jetzt entspannt auf dem Bett und starrte an die Decke, an der selbst gebastelte Laternen des Jungen hingen. Wieso brauche ich eigentlich einen Mann, fuhr es ihr durch den entspannten Kopf. Ich komme gut allein durchs Leben. Beim nächsten Mal mache ich mir erst eine schöne Zeit und überlege dann, wen ich anrufe. Sie deckte sich zu und legte sich auf die Seite. Von der Decke sah sie Szene eher verloren aus. Eine Frau rollte sich in eine Bettdecke auf einem riesigen Bett, in dem bequem vier ausgewachsene Menschen Platz hatten. 

Erwin fror. Er war eingeschlafen. Eine frische Brise vom Fluss her hatte ihn geweckt. Ein paar Fahrradfahrer fuhren an ihm vorbei, beachteten ihn aber nicht.

Erwin brauchte einen Moment, um zu wissen, wo er war. Er glaubte geträumt zu haben.

Er hatte Stimmen gehört. Zwei Männer hatten sich unterhalten. Er versuchte sich an mehr zu erinnern. Aber mit einer neuen aufkommenden Brise verschwanden die letzten Erinnerungen. Was soll‘s, dachte Erwin und rappelte sich auf. Ein paar Dehnübungen machten den steifen Körper wieder locker. Bevor er auf das Rad stieg, schaute er auf den Fluss. Ein Lächeln zog über sein Gesicht, leicht und flüchtig.    

Vier Anrufe in Abwesenheit, wahrscheinlich wieder dieser italienische Weinhändler, der vorgab aus Italien anzurufen, dabei zeigte die Vorwahl einen Ort an, der kaum fünfzig Kilometer entfernt lag. Mehr als ein Atmen und ein kurzes Knacken waren nicht auf dem Anrufbeantworter.

Vielleicht sollte ich das Telefon abmelden, dachte Erwin. Außer die beiden obligatorischen  Anrufe im Jahr von seiner Schwester, an seinem Geburtstag und zu Weihnachten bekam er keine privaten Anrufe und selbst darauf konnte er verzichten. Ansonsten wurde er nur von Vertretern und Meinungsforschungsinstituten belästigt. 

Erwin schaltete das Weltradio an. Er hatte einen neuen Sender aus Neuguinea entdeckt, der Tanzmusik aus den fünfziger Jahren spielte. 

„Schuhe aus“, rief Adele aus dem Bett heraus und suchte unter den vielen Kissen und Decken nach der Fernbedienung des Fernsehers. Der Junge war vom Training nach Hause gekommen und machte unten in der Küche Lärm. Emil, zehn Jahre alt und dem Fußball verschrieben. 

Von mir hat er das nicht, dachte Adele und überlegte für einen Moment, welche eigenen Fähigkeiten sie bisher an dem Jungen entdeckt hatte: Ausdauer, Ungeduld, Geschicklichkeit, Tölpelhaftigkeit, Glücksgefühl und Traurigkeit. 

Sie zerknüllte den gedanklichen Zettel und warf ihn ins Nirgendwo.


„Was ist das denn? Durchschnitt, wenn überhaupt. Langweiler auch noch, was soll da passieren? Ich kann den Chef nicht verstehen.“

„Das ist auch nicht Ihre Aufgabe. Die Versuchsreihe ist genehmigt und damit basta.“

„Ich habe eben die Personaldaten bekommen. Sie ist einundfünfzig und er neunundvierzig. Was um alles in der Welt soll das bringen? Kinder werden die wohl nicht mehr zeugen.“

„Alles hat seinen Sinn. Schon vergessen? Der Junior war von der Sache hellauf begeistert.“

„Der Junior, der Junior. Entweder er meditiert, kifft oder hält Vorträge, die nicht enden wollen. Seine Gleichnisse sind mehr als kryptisch.“

„Sachlich falsch, aber ich möchte das nicht weiter kommentieren. Wir sind erst am Anfang und es gibt noch viel zu tun. So eine Versuchsreihe bedarf äußerster Präzision. Wie ein Uhrwerk muss das laufen.“

„Hier und ein Uhrwerk, dass ich nicht lache. In die Hose wird das gehen.“

„In die Hose, so, so.“

„Manchmal hasse ich deine Genauigkeit.“


Adele zappte sich durch das abendliche Programm. Da war nichts, was sie interessierte. Probleme über Probleme, selbst die Komödien waren schlecht gemacht. 

Endlich kam Emil nach oben.

„Tasche packen und Zähneputzen“, rief Adele aus dem Bett heraus. Die Beine zuckten und sie fühlte sich wie erschlagen. Eigentlich müsste sie aufstehen und zu dem Jungen gehen, aber es fehlte ihr an Kraft. 

Die angelehnte Tür öffnete sich und Emil stürmte lachend das Bett. 

Nach der Trennung von ihrem Mann schlief das Kind gerne bei ihr. Sie hatte es zugelassen, vielleicht aus schlechtem Gewissen. Aber sie wollte darüber nicht nachdenken. 

So wurde gekuschelt, Kinderrücken gekrault und Nasen gerieben. 

Erwin überflog die Tageszeitung und dachte auch hier über ein abmelden nach. Zu kurze Momente, um wirklich eine Entscheidung zu treffen. Ein Kalenderblatt, Werbung und die Zeitung verschwanden in der Papiertonne. Er schaute in einen klaren Nachthimmel. Daran konnte er sich nicht sattsehen. 

Hanskuckindieluft hatte die Lehrerin ein paar Tage nach der Einschulung zu ihm gesagt. Er hatte es damals schon als Ehrung empfunden. Zurück im Haus öffnete er die Terrassentür und machte es sich mit einem Glas kühlem Weißwein gemütlich. Er liebte es so allein im Dunkeln zu sitzen und auf einen Sternenhimmel zu blicken. Bei jedem einzelnen Stern kamen ihm Gedanken, Menschen tauchten auf, denen er mal begegnet und die sich in ihm festgesetzt hatten. 

Jeder Stern stand für eine Geschichte aus seinem Leben. Ein schönes Gefühl, das eigene Bilderalbum am Himmel zu haben. 

Erwin musste eingeschlafen sein. Als eine kühle Brise das Gesicht streifte, blinzelte er mit den Augen, die versuchten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Kerze auf dem Tisch war erloschen und der prächtige Sternenhimmel hinter einer anthrazitfarbenen Wolkenwand verschwunden. Für einen kurzen Moment schien Erwin woanders gewesen zu sein. Ein Gesicht mit Sommersprossen, daran konnte er sich erinnern. Und an die Stimme, sie hatte ihn berührt. Ein Anflug von Zärtlichkeit durchzog seinen Körper und drang in sein Innerstes ein. Für einen Moment spürte er das Verlangen nach einer Zigarette, gleichzeitig eine Einsamkeit, die er so nicht kannte. Zum Glück alles Bruchteile von Momenten. Ein kurzer Muskelschmerz mehr nicht. Nicht ernst zu nehmen. 

Erwin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er war auf der Suche nach dem Gesicht mit den Sommersprossen.

Adele saß in ihrem Garten auf einer der Bänke und rauchte eine Zigarette. Aus unerklärlichen Gründen hatte sie nicht schlafen können. Über so etwas dachte sie nicht nach, brachte ja auch nichts, machte die Sache höchstens noch schlimmer. 

Seit Emil da war, wurde nur noch draußen geraucht. Während ihr Ex-Mann Kette geraucht hatte, war sie bis zur Trennung abstinent geblieben. Heute hielt bei ihr eine Packung mehrere Monate. Dinge wie Sucht kannte sie nicht an sich, vielleicht auch keine Leidenschaft, dafür hatte sie sich im Griff. Sie hatte die Dinge gern unter Kontrolle.

Bis auf das, was sie nicht steuern konnte und seit Jahren verfluchte. Der Gedanke daran: schon fingen die Beine an, zu zittern. Hielten die Beine still, waren es Nadeln, die unkontrolliert millionenfach in den Kopf schossen. Es war Zeit diese verdammten Tabletten zu nehmen.  


„Wusste ich es doch, wusste ich es doch. Die Namen kamen mir gleich bekannt vor. Adele und Erwin, die Namen sind so aus der Luft gegriffen.“

„Das ist ja in unserer Lage nichts Außergewöhnliches.“

„Hören Sie auf mit Ihren Spitzfindigkeiten.  Es gab vor Jahren schon eine Versuchsreihe und diese wollten Sie unter den Tisch kehren. Ich habe mit dem Junior gesprochen, der wusste von nichts.“

„Kein Wunder, er beschäftigt sich mit dem Großen und Ganzen.“

„Unsinn. Das sind die Drogen und das ständige Meditieren. Das hat sein Gehirn weich werden lassen.“

„Ich glaube kaum, dass er das braucht. Denken Sie an die Transzendenz.“

„Wenn ich mit dem Chef geredet habe, ist Schluss mit dem ganzen Unsinn. Sagen Sie mir nur, wo Sie die Akte versteckt haben.“

„Ich habe alles im Kopf. Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie ruhig. Es gibt da keine Geheimnisse.“

„Fragen, Fragen und ob ich Fragen habe. Ich werde Sie vor ein Tribunal bringen. Sollen die hohen Herren Sie ins Kreuzverhör nehmen.“

„Kreuzverhör beim Jüngsten Gericht?“

„Lassen Sie Ihre Spitzfindigkeiten. Ich werde die Akte schon finden verlassen Sie sich darauf.“ 


Erwin starrte an die Decke. Der Hahn auf dem gegenüberliegenden Versuchsgelände hatte bereits mehrmals seinem Harem bewiesen, wer der Herr im Gehege ist. Die Hennen hatten weiter das ausgestreute Futter gepickt und nicht aufgeschaut. Seit langem nahmen sie diesen Schreihals nicht ernst. Gut, er sah nicht schlecht aus, hatte ein prächtiges goldenes Federkleid und einen kräftigen Schritt. Während er nicht aufhörte zu krähen und sich aufzublähen, schüttelten die Hennen längst die Köpfchen. Der Maschendrahtzaun, der beide Geschlechter trennte, war ihnen sofort aufgefallen.

Erwin hatte große Lust auf eine Zigarette, aber er hatte seit Jahren damit aufgehört. 

„Ein Laster“, hatte ihm der Arzt gesagt, „und keine Sucht.“

Er hatte das angenommen und den Entzug ausprobiert. Sechs Jahre hatte er keine Zigarette geraucht, dafür aber fast zwanzig Kilo zugenommen. 

Erwin starrte an die weiße Schlafzimmerdecke und versuchte sich zu erinnern. Für einen Moment war er sich unsicher, ob er das alles nur geträumt hatte. Da war diese weibliche Stimme im Ohr, die zärtlichen Hände und Küsse. Selbst ein unbekanntes Parfüm lag noch über dem Bett. Das Bett war warm, selbst unter dem Oberbett neben ihm.

Die Frau, die eben noch über ihm gelegen hatte, war also real. Wann hatte er sie kennengelernt? Er konnte sich nicht erinnern, gestern noch vor der Tür gewesen zu sein. Zudem war es nicht seine Art, Fremde mit nach Hause zu nehmen. Gierig sog er die Melange aus Parfüm und weiblicher Haut auf und umarmte sich mit geschlossenen Augen selbst. Ein wunderbares Gefühl. Für einen Moment hörte ein Wasserrauschen aus dem Badezimmer. Erwin hielt die Augen geschlossen, aber das Sommersprossengesicht kam nicht zurück. Es war wie verhext. Er befreite sich aus der eigenen Umklammerung, schlug die Bettdecke weg und stieg aus dem Bett. In dem Moment, als seine Füße den kalten Boden berührten, verschwanden die Erinnerungen. Als er das dunkle Bad betrat, wusste er nicht einmal, warum er jetzt hier war. Die Uhr zeigte 5.29 an, viel zu früh, um einen neuen Tag zu beginnen.

Adele starrte an die Decke. Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Uhrzeit wurden in roten Lettern an die Wand geworfen. Verloren kam sie sich vor in diesem riesigen Bett. Es war an der Zeit, dass das Kind zurückkam. Der Kater hüpfte aufs Bett und schenkte ihr Gesellschaft. Sie streichelte das Fell und genoss das Schnurren an ihrem Ohr. Für einen Moment bewegte sich die Matratze, jetzt war auch die Katze im Bett.

Adele liebte die Zeit, wenn die Nacht den Stab an den Tag überreichte. Diese Zwischenzeit liebte sie besonders. So stand sie auf, schlüpfte in ihre Klamotten und schnupperte auf der Treppe nach unten den frischen Kaffee. Diese Maschine mit eingebauter Zeitschaltuhr hielt sie für die beste Erfindung des Jahrhunderts. Adele füllte den heißen Kaffee in eine Thermotasse und verließ das Haus. Punkt 5.35 Uhr bestieg sie das Rad und fuhr ihre täglichen Runden, spätestens um 6.30 Uhr wollte sie im Schwimmbad sein. 

„Viel Bewegung“, hatte der Arzt gesagt. Ihr war sein Blick, der hoffnungslos war, nicht entgangen. Arschloch, hatte sie gedacht und am gleichen Tag drei verschiedene Hometrainer bestellt.

Die ersten Pendler verließen nachgebaute Bauernhäuser mit Rieddächern und machten sich auf den Weg Richtung Hamburg. Adele bog den ersten Feldweg ein. Ab jetzt würde sie keiner Menschenseele mehr begegnen, dessen war sie sich sicher. Sie setzte die Kopfhörer auf und verwandelte das Smartphone in eine Musikbox. Wenn ihr langweilig war, saß sie oft vor dem Rechner und bestellte wahllos Musiktitel im Internet. In dieser Stunde dachte Adele an nichts, sie nahm nur auf. Sie genoss die Umgebung, die mit dem Tag erwachte und ließ laute Musik an ihr Ohr.

Erwin lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Wie ein Ertrinkender versuchte er sich an den Erinnerungen festzuhalten. Unaufhaltsam entglitt ihm der Traum. Die Struktur der Tapete verschwamm. Die Augen ertranken im Wasser. 

Adele trank den Kaffee aus der Thermotasse und genoss das Alleinsein. Auf den Weiden hoben ein paar Kühe neugierig die Köpfe und schnauften zur Begrüßung. Von weitem wirkten sie wie alte Lokomotiven, die Dampf abließen. Sie liebte diesen für sie zeitlosen Moment. Keine Vergangenheit, keine Wünsche auf die Zukunft, nur ein Hier und Jetzt. 

Adele öffnete den Korb auf dem Gepäckträger und nahm eine Handvoll Möhren heraus. Als sie sich dem Zaun näherte, trabten die ersten Pferde auf sie zu.

Erwin lag auf dem Bauch und inhalierte das Kissen. Der parfümierte Geruch aus dem Traum war verschwunden, geblieben war der Schweiß der Nacht.


„Was sagen Sie jetzt? Da staunen Sie, was?“

„Ist das alles?“

„Es ist nicht viel, aber ein Anfang.“

„Dann zeigen Sie mal her.“

„Ich dachte, Sie haben alles im Kopf.“

„Jetzt seien Sie doch nicht so kindisch.“

„Na, was glauben Sie, was das ist?“

„Papierschnitzel. Ich wusste gar nicht, dass wir hier einen Papierschredder haben.“

„Unsinn! Das waren zwei Flugtickets. Wollen Sie gar nicht wissen wohin?“

„Nach Venedig. Ich erinnere mich an die leidige Sache. Seinerzeit kam da einiges zusammen.“

„Sie haben es verbockt, stimmt‘s? Und jetzt wollen Sie die Sache wieder gerade rücken.“

„Damals waren zu viele an dem Projekt beteiligt. Die Kommunikation war ungenügend. Es kam, wie es kommen musste.“

„Aber Sie hatten doch die Leitung.“

„Manchmal unterschätzt man die Kleinigkeiten. Sicher, es war mein Fehler.“

„Das Wort Fehler aus Ihrem Mund, das werde ich mir im Kalender rot anstreichen.“

„In was?“

„Ich weiß selbst, dass es hier keine Kalender gibt. Aber wussten Sie, dass er Gedichte geschrieben hat.“

„Sie sind von mir.“


Erwin saß vor einem riesigen Bildschirm und zog Textblöcke hin und her. Der Anfang war immer das Schlimmste. Stundenlang starrte er auf einen weißen Bildschirm bis ihm etwas einfiel. Meist begann er mit der Auswahl der Farben, für die er anschließend die passenden Schriften suchte.  

Ein gemeinnütziger Verein war der Auftraggeber für eine neue Homepage. 

Mit einem Klick wechselte Erwin das Programm und befand sich mitten in einem Roman, der nicht enden wollte. Seit mehr als zehn Jahren saß er an diesem Mammutprojekt, das am Ende über tausend Seiten haben sollte. Er befand sich auf der Seite 636 als das Telefon summte.

„Hallo? Hallo!“

Auf der anderen Seite war eine Türglocke zu hören, dann ein Knacken. Der Anrufer hatte wieder aufgelegt.

Ein Kunde hatte den Laden betreten und Adele ihr Verkäufergesicht aufgesetzt. Sie hasste  Kundengespräche. Die meisten kauften ohnehin nichts, sondern wollten nur reden, um den Tag irgendwie herum zu kriegen. Stundenlanges Geschwätz für nichts und wieder nichts. Überhaupt war das heute nicht ihr Tag. Sie hatte sich im Schwimmbad im Spiegel betrachtet und am liebsten ausgespuckt. Warum gelang es ihr nicht abzunehmen? Wo sie doch sonst einen gesunden Lebenswandel pflegte. Sie trank keinen Alkohol, aß wenig Fleisch, rauchte ab und an mal eine Zigarette. Aber sonst: Es waren die Süßigkeiten, sie wusste es. Seit Emil auf der Welt war, hatte das Laster einen Empfänger gefunden. Selbst die Depots ihres Prinzen, wie sie den Jungen zärtlich nannte, waren vor ihr nicht sicher.

Ich bin ein Trüffelschwein, dachte sie von sich. Nach außen hin, ließ sie sich nichts anmerken. Vor allem bei den Frühschwimmern nicht, den Idioten. Eine dumme Bemerkung und sie teilte aus. Das war schon in der Schule so. Sie ließ sich nichts gefallen. 

Nach ihrem Vater hätte sie ohnehin ein Junge werden sollen. 

Die Türglocke ging. Der Kunde hatte den Laden verlassen. 

Sie schaute auf die Uhr und fragte sich, ob sie noch einmal anrufen sollte. 

Irgendetwas hatte sich in ihr festgesetzt. Meistens bekam sie das, was sie wollte. Sie schaute auf die Uhr. In zehn Minuten konnte sie den Laden über Mittag zusperren. Dann kam der Junge aus der Schule. Ein Viertklässler, der sich seit Wochen auf das Gymnasium freute. Adele hatte ihm einen Rucksack anstatt des orangefarbenen Ranzen versprochen. 

Zehn Jahre waren schnell herum gegangen. Zehn Jahre, die alles davor vollkommen auf den Kopf gestellt hatten. Sie hatte sich Zeit gelassen mit dem Kinderkriegen. Dreimal hatte sie abgetrieben. Einmal während ihrer Ausbildung und zweimal als sie ein paar Jahre im Ausland gearbeitet hatte. Keiner der vermeintlichen Väter wäre es wert gewesen, ihr Erbgut groß zu ziehen. Sicher, sie hatte sich die Männer ausgesucht, um ein bisschen Spaß zu haben. Sie hatte dabei auf ihr äußeres Erscheinungsbild geachtet und dass sie stets die Oberhand behielt. Kontrolle war ihr überaus wichtig. Nur einmal hatte sie ein Junge gelinkt, dass war in früher Jugend gewesen. Es hatte weh getan, besonders dass sie auf so einen Schaumschläger hereingefallen war. Die eigene Dummheit war der eigentliche Schmerz. So etwas passierte ihr kein zweites Mal. Am liebsten waren ihr ausländische Studenten und verheiratete Männer. Bei beiden wusste sie, dass alles nur von einer begrenzten Dauer sein würde. Die einen würden zurück in ihre Heimat, die anderen niemals ihre Ehefrauen verlassen. Sie spielte gern die Rolle der Geliebten. Sie fand, dass das der bessere Part in einem Dreiecksverhältnis war. Kleine Reisen, schöne Hotels und Restaurants, ein immer höflicher Mann, der geradezu mit seinen Augen bettelte, mit ihr in die Kiste zu steigen. 

Adele schloss den Laden ab und wunderte sich über ihre Gedanken.

Die Vergangenheit war eigentlich nicht ihre Sache. Weg ist weg und vorbei ist vorbei. Durch eine Zwischentür betrat sie das Wohnhaus. Eine Katze streifte ihre Beine. Gemeinsam ging es in die Küche. 

Erwin spazierte durch den Botanischen Garten, wenn er die Augen schloss, hatte er das Gefühl jemand würde neben ihm gehen. Er spürte regelrecht die Wärme seiner unsichtbaren Begleitung. Ein Mann und eine Frau, weit über achtzig Jahre, kamen ihm Händchen haltend entgegen. Sie machten einen zufriedenen glücklichen Eindruck. Er dachte für einen Moment an seine letzte Beziehung. 

„Wir sehen uns“, waren ihre letzten gemeinsamen Worte gewesen. Schnell hatte man sich aus den Augen verloren. Im Grunde waren sie beide für den jeweils anderen, wie vom Erdboden verschluckt.

Frauen mit Kinderwagen drehten ihre Kreise. Wie ein Außerirdischer kam er sich vor, am wirklichen Leben nicht beteiligt.

Erwin setzte sich auf eine Bank und legte den rechten Arm gestreckt auf die Rückenlehne, so als wollte er jemanden umarmen. 

Gegenüber plätscherte ein Brunnen: Genauso verlief sein Leben.


Das ist ja nicht zum Aushalten. Ein Trauerspiel das Ganze. Bieten sie dieser Schmiere Einhalt.“

„Die Geschichte beginnt doch erst. Geben Sie den beiden eine Chance.“

„Eine Chance, eine Chance. Sie wissen doch selbst wie viel diese beiden an Möglichkeiten vertan haben.“

„Sie haben die Akte gefunden?“

„Sagen wir so, ich setze die Fundstücke wie ein Puzzle zusammen. Sie hat ihm in der ersten Versuchsreihe eine Uhr geschenkt.“

„Ich weiß, es war im Turmzimmer am ersten Tag eines neuen Jahres.“

„Ich habe mir dennoch beim Chef einen Termin geben lassen.“

„Einen Termin ohne Kalender?“

„Ach, hören Sie doch auf. Sie wissen genau, wie das hier läuft. Irgendwann kann er mir nicht aus dem Weg gehen und dann rede ich Tacheles. Was für eine Verschwendung an Energie und Ressourcen.“

„Ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient.“

„Soll das eine Anspielung sein?“

Goetz

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 


Alle Rechte bei Johannes Wierz 



Für R.

1.


Es ist eine unserer letzten Begegnungen gewesen. Goetz hat mir einen dicken Umschlag zugesteckt und gemurmelt: „Wenn ich dann mal tot bin.“ 

Naturgemäß habe ich das nicht ernst genommen, so wie niemand in unserem Alter so etwas damals ernst genommen hat. Wir haben gerade die dreißig überschritten gehabt und uns immer noch unsterblich gefühlt. Der Tod ist etwas für Weicheier und Greise. Sicher, Goetz ist krank gewesen. Der Rücken nach einem Unfall kaputt. Als Postbeamter hat er eine kleine Pension bezogen. Mit achtundzwanzig ist er in Rente gegangen und hat sich Visitenkarten drucken lassen, auf dem sein Name stand, darunter in Großbuchstaben: DEFÄTIST.

Auf Anhieb habe ich den Typen mit den irren Augen und der Angewohnheit mit den Zähnen zu klappern, wenn er erregt war, nicht gemocht. Keine Ahnung warum. Anfangs habe ich sogar Angst vor diesem Irren gehabt. Dennoch bin ich ihm zu keiner Zeit aus dem Weg gegangen. Böse Zungen würden es als Sozialromantik bezeichnen oder noch weiter gehen und davon sprechen, dass es mich aufgegeilt hat, mit einem zusammen zu stehen, dem es noch schlechter geht, als mir selbst. 

„Ich schreibe auch“, hat er mal gesagt, gegrinst und mit den Keramikzähnen geklappert. In seiner Zimmermannshose hat er ohnehin verloren ausgesehen. An einer Kette mit Karabiner hat er die Schlüssel getragen, mindestens zwanzig an der Zahl. Auch die Schuhe haben klobig und viel zu groß gewirkt. Wenn Goetz zur Toilette geschwankt ist, hat man den krummen Rücken und den Buckel gesehen, der neben dem linken Schulterblatt hervorgelugt ist. Gleichzeitig haben die Schuhe bei jedem Schritt geklappert, als ob zusätzliche Gewichte im Inneren gewesen sind. Goetz ist wie ein Roboter gegangen und hat sich in die Schieflage eines Skifliegers begeben können, ohne umzufallen.  

Am Morgen danach habe ich den fremden Umschlag in meiner Tasche entdeckt und mich erinnert.

„Mach ihn frühestens zehn Jahre nach meinen Tod auf“, hat Goetz zu mir gesagt. Wir haben uns jetzt schon über Jahre gekannt und ich habe gewusst, dass er es ernst meinte. 

Dreizehn Jahre sind seitdem vergangen. Zufällig habe ich über einen flüchtigen Bekannten erfahren, dass Goetz tot ist. Wir haben uns davor schon aus den Augen verloren.

Unser Stammlokal hat einem Reisebüro weichen müssen. In der letzten Nacht, als das Fell in Form von Lautsprechern, Barhockern, Aschenbechern und Gläsern verteilt worden ist, haben wir uns kurz in den Armen gelegen und uns mit einem Bis dann verabschiedet.

Alle haben wir gelacht und wahrscheinlich wirklich gehofft, uns irgendwo in einem ähnlichen Lokal wieder zu sehen. 

Aber außer im Fernsehen gibt es keine Wiederholungen, vielleicht noch in Doktorarbeiten oder bei Bestsellerautoren. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die ein Massband mit sich führen und am Geburtstag einen Zentimeter davon abschneiden. Meine Großmutter ist fast 102 Jahre alt geworden. Was spricht dagegen, mit 100 Jahren noch einen Vertrag über drei Bücher abzuschließen? 

Alles spricht dagegen. Die Zigaretten, der Alkohol, die Frauen, der Liebeskummer, das zerbrochene Herz, die Existenzangst, alles. 

Wie bringt man einen Bankberater zum Lachen? Wenn man den Wunsch äußert, mit fünfzig Jahren ein Haus bauen zu wollen.

Ich habe die Welt nicht gemacht, aber ich bin ein Teil von ihr. Auch wenn in manchen Augen meine Halbwertzeit längst abgelaufen ist. Alle werden wir älter. Aber genauso leugnen es alle. Vor allem die Werbefuzzies, die später einmal behaupten werden, alles nicht so ernst gemeint oder von alledem nichts gewusst zu haben. Sie werden das Bild vom kleinen Rädchen bemühen und sich nervös an die langen Nasen fassen. Man hat doch Familie werden sie stottern.  

Alle sind sie unzufrieden, auf dem Weg zur Perfektion, die es sicherlich nicht gibt. 

Schönheitsoperateure schwören auf Symmetrik und zeichnen mit Filzstiften Kurven auf Haut. Das Ergebnis ist erschreckend. 

Der glückliche Mensch ist sich selbst genug, er braucht nichts mehr. 

„Was brauche ich mehr zum Glücklichsein...?“, heißt es in einem Schlager. Das Schreckgespenst jedes Werbefuzzies. Die Unzufriedenheit ist es, die alles antreibt.

„Wenn ich unzufrieden bin, kaufe ich mir ein Hemd“, hat der Psychologieprofessor in einer der ersten Vorlesungen gesagt. Seitdem habe ich ihn beobachtet und heimlich Fotos geschossen. Während meines gesamten Studiums hat er nicht einmal dasselbe Hemd getragen. Am letzen Tag habe ich ihm das Album mit den Bildern geschenkt, ohne bis heute eine Reaktion darauf erhalten zu haben. 

Ich bin ein Mensch ohne Echo. Wenn ich bei Grün über die Straße gehe, muss ich immer aufpassen. Ich werde nicht gesehen. Im Gewühl der Fußgängerzonen werde ich zu Boden gerissen, wenn ich nicht aufpasse. Auf Klassentreffen oder anderen ähnlichen Veranstaltungen brauche ich erst gar nicht aufzutauchen. Niemand kennt mich oder bringt mit meiner Person irgendetwas in Verbindung. Beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Künstlerkarriere.  

Hallo, was ist los mit mir? 

Hallo!

Staub habe ich geschluckt und nicht zu wenig. Auf dem Dachboden bin ich umher gestiegen, habe mir unzählige Male den Kopf gestoßen und einmal sogar einen rostigen Nagel in die Nase gerammt. Es hat geblutet wie Sau. Aber es gibt schlimmeres, nicht wahr, lieber Goetz? 

Erinnerst du dich, wie du mir in die Nase gebissen hast und nicht mehr losgelassen hast. Ich bin gezwungen gewesen, die mehrmals so in die Eier zu schlagen, am Ende sie sogar so zu quetschen, bis du wie ein altes Liebespaar nach Luft gerungen hast. 

Weisst du noch, wie ich ins Krankenhaus gefahren bin? Die Nase blutig bis zum Knochen. Gegen Tollwut, gegen Wundstarrkrampf, Blutvergiftung, und, und, habe ich mich impfen lassen. Blut haben sie mir abgenommen und mit faltiger Stirn von AIDS gesprochen. 

Das in die Nase beißen, hat ein Urvertrauen zerstört. Niemand ist auf so etwas vorbereitet. Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht.  

Staub habe ich geschluckt, Unmengen an Staub, Regale habe ich abgerückt, aber nirgends ist dieser gottverdammte Umschlag gewesen.

Einen Karton mit Bierdeckeln habe ich gefunden mit Telefonnummern ohne Namen darauf. Zwei Tage habe ich damit verbracht, sie abzutelefonieren. Aber die Namen, am anderen Ende der Leitung haben mir nichts gesagt. Selbst die Stimmen sind mit fremd gewesen, obwohl ich mir sonst Stimmen recht gut merken kann. Von fast jedem fremdsprachigen Schauspieler kenne ich die Synchronstimme. Aber die Stimmen aus meiner Bierdeckelsammlung haben mir nichts gesagt. 

Nachdem meine Wohnung aussieht, wie nach einer Hausdurchsuchung, bei der mehrere Handgranaten zur Explosion gekommen sind, schaufle ich mir zwischen Büchern, losen Papierbergen und Aktenordnern ein Plätzchen frei. Ich muss überlegen.

Vor zwei Jahren, am dreißigsten Dezember habe ich alle Briefe von einer gewissen Susi Ortmann im Wald verbrannt. Vielleicht ist der Umschlag da mit reingerutscht. Eine Grube habe ich damals ausgehoben und all den seelischen Müll in das Loch geworfen. Naturgemäß ist das Loch viel zu breit und zu tief gewesen. Die paar Bilder und Briefe der Susi Ortmann haben zwischen Wurzeln, Ameisen und Regenwürmern einfach lächerlich ausgesehen. Ich erinnere mich genau. Im Eiltempo bin ich nach Hause gefahren und haben einen ganzen, nein, drei große Müllsäcke mit Briefen, Postkarten, Liebesbeschwörungen aller Art, auf diese Weise entsorgt. Hinter jedem Aktenordner hat doch so ein verräterischer dicker Umschlag gesteckt, aus dem ich Liebesschwüre und Hasstriaden von Ariane bis Xanthippe gezogen habe. Weg damit, habe ich mir gesagt. Weg damit und alles auf die drei blauen Müllsäcke verteilt. Schnell wieder zurück in den Wald, um vor Einbruch der Dunkelheit mein Werk zu vollenden. Der ganze Ballast hat gebrannt, als würde der Teufel selbst darin stecken. Die Flammen haben so hoch geschlagen, dass mir nichts anderes übrig geblieben ist, als die Hose zu öffnen, um dem Feuer mit Urin Einhalt zu gebieten. Den Rest hat die feuchte Walderde erledigt, die ich in das Loch zurück geschüttet habe. Zum Glück hat ein Schneefall eingesetzt und das Ganze bedeckt. Wahrscheinlich ist der Umschlag von Goetz mit in einen der Müllsäcke gerutscht. 

Wenn ich etwas Suche, dann suche ich es, bis ich es gefunden habe. 

Also zurück in den Keller und auf den Dachboden. Muffige Feuchtigkeit und trockene Trisstesse. Die wertlose Sammlung eines Lebens. Der Umschlag bleibt verschwunden.

Was bleibt da noch? 

Zurück in die Wohnung, wo ein Unhold gewütet hat. Wie komme ich eigentlich darauf, nach diesem blöden Umschlag zu suchen? Nur weil mir eine Kneipenbekanntschaft bedeutungsschwanger etwas zugesteckt hat, zerstöre ich meine Wohnung?

Hallo!

Aufwachen!

Ich setze mich auf den freien Platz, den ich mir frei geschaufelt habe und schaue in die Ferne. Der Horizont ein Hügel aus Büchern und Manuskripten, die ich alle gelesen habe.

„Sie lesen?“, hat mich misstrauisch der Vermieter gefragt und durch die braune Brille gedroht, bloß nicht zu viele geistige Ergüsse in seine Wohnung zu bringen. 

„Letztendlich bleibt es meine Wohnung“, hat der Vermieter gesagt und drei Mieten, als Sicherheit, im Voraus verlangt.

So sitze ich da in meiner Unordnung, starre auf einen Stapel geistiger Ergüsse, die ich längst vergessen habe und die mir jetzt so fremd vorkommen. Ich greife mit der linken Hand überkreuz nach rechts, hinein in den Urwald ungeöffneter Briefe.

Lila, rot, gelb, sind die Umschläge, - die meisten aber grau und mit Fenster. Schon nach wenigen Versuchen spüre ich plötzlich, das richtige Kuvert in den Händen zu halten. Ein unscheinbarer brauner Umschlag mit dem Siegel einer Knappschaftskasse. Zugeklebt mit mindestens einer Rolle Tesafilm. Kein Zweifel, das muss Goetzes Hinterlassenschaft sein.

„Wenn ich denn mal tot bin“, hat Goetz gesagt und mit den Zähnen geklappert. 

Tagelang schleppe ich den Umschlag von einem Zimmer in ein anderes. Das muss unbewusst geschehen sein. Denn, egal welchen Raum ich auch betrete, das geschlossene Kuvert liegt schon da. Es wartet nicht nur, es belauert mich geradezu. Selbst im Bad hat es auf dem Wannenrand gelegen. Ein kleiner Stoß und alles wäre vorbei. 

Ich erinnere mich, dass ich noch am Abend, als Goetz mir den Umschlag mit den Worten Wenn ich denn mal tot bin überreicht hat, mit mir gerungen habe, ihn nicht zu öffnen. 

Die ganze Nacht habe ich damals wach gelegen und mir Argumente überlegt, warum ich das Versprechen, das Kuvert erst nach zehn Jahren zu öffnen, brechen könnte. 

Zehn Jahre, was für eine Zeit, besonders zwischen dreißig und vierzig Jahren. Das Jahrzehnt in dem endgültig die Weichen gestellt werden. Heirat, Kinder, Hausbau, verknüpft mit der Karriereleiter. All das ist ja in meinem Umfeld passiert. Unmengen an Geld verschenkt, verknüpft mit einer Unterschrift auf einer Glückwunschkarte, auf der schon mehrere dutzend Menschen unterschrieben haben. Namen, die mir allesamt nichts gesagt haben. Fadenscheinig immer eine Entschuldigung gefunden, nicht auf einer der unseligen Hochzeiten, Taufen und Hauseinweihungen dabei sein zu müssen. 

Mein Gott, wie schnell sich Menschen verändern können? Wobei das so ja nicht stimmt. Sie haben einfach ihre jugendliche Revoluzzermaske abgelegt, nicht mehr und nicht weniger. Mit der Welle zu schwimmen bedarf keiner Kunst, selbst für den Toten Mann gibt es das Schwimmabzeichen. Die wirklichen Schwimmer hatten und haben es schwer. Das gegen den Strom schwimmen, kostet eben. Da gehört die Vorstadthölle nicht dazu. Der Preis des Gegen des Strom Schwimmers ist der frühe Tod. 

„Die Guten sterben immer zu früh“, sagt der Volksmund und fügt auf der anschließenden Trauerfeier nach ein paar alkoholischen Getränken hinzu, während er auf der Toilette das Wasser lässt. „Gut, dass der weg ist!“

Als ich von Goetzes Tod erfahren habe, ist die Welle längst abgeebbt, falls es überhaupt eine gegeben hat. 

„Übrigens der, wie hieß er gleich noch, ist tot!“ 

Erst durch Nachfragen habe ich erfahren, wer da überhaupt verstorben ist. 

Heute frage ich nicht mehr nach. 

Ich verlasse die Wohnung und habe im Park das Gefühl, dass mich jemand verfolgt. Ich mache noch ein paar lässige Schritte, bleibe dann abrupt stehen und drehe mich blitzschnell um. Ein Kind beginnt zu weinen und wird von der Mutter zum Schutz zu ihr herangezogen. Ansonsten leere Wege und Bäume. Vielleicht ist es der Gedanke verbunden mit der Frage, was mich erwartet? 

Vielleicht ist Goetz ein großer Witzbold gewesen und er hat nur leere Seiten in den Umschlag gesteckt. Aber würde jemand leere Seiten in einen Umschlag geben, um ihn anschließend mit einer ganzen Rolle Tesafilm zu versiegeln? 

Normal nicht, ein Psychopath schon. Goetz hat sich gebrüstet, alle Stationen der Landesklinik durchlaufen zu haben. Einmal sei es ihm sogar gelungen, nachdem man ihm am Bett an Händen und Füßen fixiert hat, mit samt dem zentnerschweren Bett durch die Klinik zu trippeln. Gut, es sind nur ein paar wenige Meter gewesen, aber immerhin. 

Zu den Besuchszeiten, besonders am Wochenende, hat er sich regelmäßig den Spaß gemacht, sich vom Treppenhaus in die Fangnetze zu stürzen, die über der Eingangshalle gespannt sind. 

Doch, Goetz würde ich alles zutrauen.

Ich mache kehrt. Heute würde der Tag sein. Ohne Kerzen und eine gute Flasche Wein. Einfach den Umschlag aufreißen und gut ist. 

Ab wann verfällt bei einer Briefbombe das Haltbarkeitsdatum? 

Immerhin hat Goetz mir in die Nase gebissen und versucht mir mit dem Zeigefinger ein Auge auszustechen. Eine Briefbombe würde zu Goetz passen, das ist genau sein Humor. Vielleicht hätte ich genauer nachfragen sollen, wie er ums Leben gekommen ist. Der Mann ist noch keine vierzig Jahre alt geworden. Andererseits hätte es in der Zeitung gestanden, wenn Goetz bei Experimenten in seinem Bombenlabor ums Leben gekommen wäre. Nein, so genau will ich es auch nicht wissen. Denn andererseits kann es sein, dass Goetz, sein Innerstes niedergeschrieben hat, mit dem ich nicht unbedingt konfrontiert werden will. 

Was weiß ich über Goetz? 

Nichts! 

Man kennt sich ja selbst nicht. 

Aus einem Mülleimer im Park lugt ein weißer Umschlag heraus, der mit Tesafilm umwickelt ist. Ich muss dieses unsägliche Spiel beenden.

„Sie haben mein Kind traumatisiert. Ich werde sie regresspflichtig machen. Bitte geben Sie mir Ihre Kontonummer, gegebenenfalls eine Einzugsermächtigung. - Piep - Sie haben mein Kind...“

Ich flüchte nach Hause. An einem Weiher vorbei, auf dem große Lotusblüten schwimmen, aus dessen Blüten Umschläge mit umwickelten Tesafilm hervor lugen. Die Kuverts sind überall, regnen sogar vom Himmel. Es wird Zeit, dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Schon während des Aufschließens der Wohnungstür spüre ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Ein kühler Windstoß begrüßt mich, als ob ich ein Fenster offen gelassen hätte. Aber sie sind alle verschlossen und unversehrt, wie ein Kontrollgang mir bestätigt.

Eine Stunde bin ich auf der Suche nach dem Umschlag. Sogar das Rauchen habe ich wieder angefangen. 

Ich habe ihn hier hingelegt! 

Natürlich kann ich das beschwören! Oder ist es doch da oder dort gewesen? 

Ich schnappe mir eine Flasche, die ich vor Jahrzehnten zum Einzug bekommen habe und entkorke den Grappa, der nach eingelegten Rosinen schmeckt.

Im Grunde hat Goetz immer Ärger bereitet. Zu Lebzeiten und jetzt sogar über den Tod hinaus. Wahrscheinlich wird die Verwandtschaft seine Schulden bis heute abbezahlen. Wahrscheinlich ist das von vornherein seine Absicht gewesen, als er mir den Umschlag mit den Worten übergeben hat: „Wenn ich dann mal tot bin!“ Mir nichts als Ärger zu bereiten.

Wie ein erfolgloser Detektiv lege ich meine Beine auf den Schreibtisch und trinke bittersüßen Alkohol. Gleichzeitig versuche ich mich ohne Zuhilfenahme der Hände der Schuhe zu entledigen. Der eine fliegt hinter eine Musikbox, der andere in kleinerem Bogen auf den Boden, wobei der Aufprall ein seltsames Geräusch verursacht. Er ist hinter den Schreibtisch gefallen, auf einen dicken satten Umschlag, der mit einer Rolle Tesafilm versiegelt ist.

Jetzt oder nie.

Jetzt könnte ich den Umschlag öffnen, aber ich schlafe ein. Habe komische Träume. Goetz verfolgt mich, taucht mehrfach auf, wie in der Matrix. Die Sonnenbrille hat er weggelassen. Dafür will er mir andauernd in die Nase beißen. 

Was bewegt einen Menschen dazu, einem anderen in die Nase zu beißen? 

Und wieso, träume ich davon?

Christine - Rückkehr nach Wien

  PERSONEN: 


  RENE Allermann, Erfolgsautor 


  RUTH Allermann, seine Frau 


  GEORG, sein Manager und Agent


  CHRISTINE, eine junge Schauspielerin


  STIMME


  Anmerkung zum Text: 

  Christine - französisch ausgesprochen 

  Christine - deutsch ausgesprochen 



Eine luxuriöse Hotelsuite


Prolog 


Aus dem OFF eine STIMME. 


STIMME: 

Warum sind Sie wiedergekommen? 


RENE: 

Ja

ich liebe sie

die Toskana 

Viel mehr noch

ich brauche sie 

Aber dennoch ist es von Nöten 

von Zeit zu Zeit 

die Örtlichkeiten 

zu wechseln 


STIMME: 

Und wieso kommen Sie erst jetzt?


RENE: 

Die Frage ist falsch gestellt 

Denn eigentlich 

war ich nie fort 

Wie viele Menschen leben hier? 

leben hier 

in ihren Träumen

in denen sie 

ferne Länder bereisen 

oder gar 

mit dem Gedanken spielen 

auszuwandern

Ich dagegen 

habe diese Stadt 

nie verlassen

Meine Helden 

Wie oft schritten sie nachts 

einsam und verlassen 

über den Michaelaplatz 

oder an der alten Donau entlang? 


STIMME: 

Wie oft saßen Sie in Cafés? 

Wohnten in schmierigen Pensionen 

oder kamen über Vororte nicht hinaus? 


RENE: 

Nun

die Vergangenheit 

ist abgegrast 

Es ist an der Zeit 

dass ich mich 

der Gegenwart widme


STIMME: 

Dann werden Sie auch 

Christine 

wieder sehen? 


RENE: 

Christine bitte 

Sie heißt Christine

und nicht Christine 

Verstehen Sie den Unterschied?

Was für Welten liegen 

zwischen Christine 

und Christine


STIMME: 

Nun 

werden Sie Christine wieder sehen? 


RENE:

Ich bin zurückgekommen 

um die Vergangenheit 

gegen ein jetzt einzutauschen

Und Christine

Ich weiß noch nicht einmal 

wo sie wohnt

Wissen Sie es? 

Ich meine 

alles hat doch seinen Platz


Erste Szene 


GEORG und RUTH betreten das Zimmer. 


GEORG: 

Er muss verrückt geworden sein 

anders kann ich es mir nicht erklären 

verrückt 

einfach verrückt 


RUTH: 

So beruhige dich 

Versuche ihn zu verstehen 

Er war doch so lange nicht mehr hier 


GEORG: 

Was hat das denn damit zu tun?

Auf der ganzen Welt 

sind wir gewesen 

Die Klatschkolumnisten Hollywoods 

die Pariser Kritiker 

Alle hat er gemeistert 

nur in der eigenen Stadt 

dreht er durch


RUTH: 

Jetzt setz dich doch 

Ich mache uns erst mal einen Drink 

und um Gottes Willen 

beruhige dich 

Du wirst sehen 

der Whisky 

wird dir gut tun 


GEORG: 

Leck mich am Arsch 

mit deiner mütterlichen Philosophie 

Wie viele Drinks 

hast du ihm denn gemixt? 

Nüchtern 

kann doch einer allein 

nicht soviel Scheiße bauen 


RUTH: 

Ach so ist das

Jetzt soll ich auf einmal 

Schuld haben 

Das ist mal wieder 

typisch für dich 

Also 

darf ich dich vielleicht 

an eine Kleinigkeit erinnern? 

dass du 

seine Reden schreibst 


GEORG: 

Was nützen die schönsten Reden 

wenn er sich nicht daran hält 


RUTH stellt ihm einen Drink hin. 


RUTH: 

So

jetzt trink erst mal 

Schau

du siehst das alles 

zu schwarz 

Uns geht es doch gut 

René

ist einer der bekanntesten 

und bestbezahlten 

Autoren 

Was kann da so 

ein kleiner Fauxpas 

schon ausrichten?

Ich meine 

ist es nicht ganz natürlich 

dass man nach so vielen Jahren 

jemanden wieder sehen will?


GEORG: 

Das ist mir schon klar 

dass das deinen geistigen Horizont 

überschreitet 

Wir leben von diesem jemanden 


RUTH: 

So kannst du mit mir nicht reden 


GEORG: 

Ich kann noch ganz anders 


Er entfernt sich. 


RUTH: 

Wohin gehst du? 


GEORG: 

Wenn René kommt 

ich bin auf meinem Zimmer 


Er verlässt das Zimmer. 

Sie geht zur Bar nimmt sich ein Glas und eine Flasche, 

dabei weint sie leise. 


Zweite Szene 


RENE betritt das Zimmer.

RUTH weint, vor ihr steht eine fast leere Flasche. 


RENE:

Weißt du eigentlich 

dass du unheimlich schön aussiehst 

wenn du weinst 

Das hat so was 

imaginäres 

Wie war ich? 


RUTH:

Gut

aber 


RENE:

Ich weiß schon 

auf was du 

hinaus willst 

Es war mir ein inneres Bedürfnis 

und außerdem 

Ich wollte euch überraschen 

Eifersüchtig? 


RUTH:

Mache ich den Eindruck?


RENE: 

Ich fühle mich richtig wohl 

und Christine 

das ist schon gar nicht mehr wahr 


RUTH: 

Warum belügst du dich selber? 

Christine 

ist immer wahr 

und wird es auch immer bleiben 

Bis das der Tod euch scheidet 


RUTH beginnt hysterisch zu lachen 


RENE: 

Gut 

dass es dir wieder besser geht 

Ich werde mich ein wenig hinlegen 

Und heute Abend 

Ruth

auf dem Empfang 

werden wir tanzen 

Ruth 

nur wir beide 

Freust du dich?


Dabei tanzt er im Walzertakt in das Nebenzimmer. 


RUTH: 

Du sollst Georg anrufen 

er ist auf seinem Zimmer 


Dritte Szene


GEORG telefoniert und zieht sich dabei aus. 


GEORG: 

Ja 

Wolfgang 

ja 

wir haben uns jahrelang 

nicht gesehen 

Ja 

Wolfgang 

Hast du es auch gesehen 

ja 

deswegen rufe ich an 

Vielleicht in der Bar heute Abend 

Ja 

wir reden auch 

über Frauen und Fußball 

Kannst du mir einen Gefallen tun? 

Ja 

wir reden auch 

über Frauen und Fußball 

ich verspreche es dir 

Pass auf 

Ich brauche eine 

deiner mittelmäßig 

begabten Schauspielerinnen 

Ja 

das war ein Scherz 

Nein

das war keiner 

Ich schicke dir gleich ein Foto 

Ja

über das Finanzielle 

reden wir heute Abend 

Ja

wir reden auch über Frauen 

Also 

ich muss Schluss machen 

Servus derweil 

Baba 


Er legt auf.


Arschloch 


Vierte Szene


RUTH blättert in einer Illustrierten. RENE kommt aus dem Nebenzimmer. 


RENE:

Wo ist Georg? 


RUTH:

Drüben 


RENE:

Hat er zu tun? 


RUTH.

Er telefoniert


RENE:

Willst du was trinken? 


RUTH:

Mhm 


RENE:

Was liest du?


RUTH: 

Ich denke 

du bist müde 

und schläfst


RENE:

Diese Hotelzimmer


RUTH: 

Du wolltest mir doch etwas einschenken 


RENE: 

Die Duschen sind wie 

Ich sollte mal etwas 

über Hotels machen 

Die Leute machen sich 

ganz falsche Vorstellungen 

Und in Filmen 

sind es 

falsche Einstellungen 

Alles wirkt groß und elegant 

Aber wie beschreibt man 

Unpersönlichkeit? 

Und was versteht 

das Management 

unter Gastlichkeit? 

Beruhigend 

ist da nur 

die schöne Aussicht 

Ja

wir haben wirklich 

eine schöne Aussicht 

Die Dächer von Wien 

sind schon etwas besonderes 

Auch darüber 

sollte ich einmal schreiben 

Die Dächer von Wien 

Ja

die Dächer von Wien 

Die Ortung 

der Wiener Dächer 

Ziegel um Ziegel 

Wäre das Bett 

bloß nicht so groß 


RUTH ist inzwischen von hinten an RENE herangetreten. 

Sie umarmt ihn und öffnet ihm das Hemd. 


Plötzlich macht RENE sich frei. 


RENE: 

Ich weiß etwas Besseres 


Fünfte Szene


GEORG betritt das Zimmer. 


GEORG: 

Rene? 

Ruth?


Er geht durch das Zimmer. Als er merkt, dass er alleine ist, nimmt er lustlos ein Hochglanzmagazin und liest laut eine Liebesgeschichte vor. 

Nach einer Weile klingelt das Telefon. 

GEORG nimmt den Hörer ab. 


GEORG: 

Ja hier 214 

Wir haben nichts bestellt 

Wenn ich Ihnen doch sage 

Hören Sie 

Da wird sich jemand 

einen Scherz 

erlaubt haben 

Was gehen mich Ihre Kosten an 


Er legt auf und liest weiter in der Zeitschrift. 


Hinkend betritt RUTH das Zimmer. 


GEORG: 

Wo kommst du denn her? 


RUTH: 

Gut

dass du da bist 

René ist weg 


GEORG: 

Wie weg? 


RUTH befreit sich von ihren Schuhen und massiert sich 

die Füße. 


RUTH: 

Wir wollten Essen gehen 

Diese Schuhe 

Ich habe mich umgezogen 

Meine Füße 

Als ich fertig war 

war er weg 


GEORG: 

Was machte er denn 

für einen Eindruck 

auf dich? 


RUTH: 

Wie immer 

Nein

warte 

Eigentlich war er wie früher 

Kannst du dich noch 

an unsere Hochzeitsreise erinnern? 


GEORG: 

Du meinst wohl eure 


RUTH: 

Wie er alle Plätze 

im größten Cafe 

am Markusplatz 

reserviert hat 


GEORG: 

Dann hat er also 

das Essen bestellt 


RUTH: 

Woher weißt du? 


GEORG: 

Die Hoteldirektion hat sich erlaubt 

diesen kleinen Scherz 

auf unsere Rechnung zu setzen 


RUTH: 

Er war wie früher 


GEORG: 

Jetzt setz dich 

und hör mir genau zu 

Also

In ungefähr zwei Stunden 

wird hier 

eine junge Schauspielerin 

auftauchen

die sich als Christine 

ausgeben wird 

Und wir werden so tun als ob 


RUTH: 

Aber René wird doch nicht so dumm sein 

und 


GEORG: 

Er wird

verlass dich darauf 

Und du meine Liebe 

wirst so tun 

als wäre es die Echte 

Verstehst du?

für dich und für mich 

ist sie die echte Christine 

Ich habe Bilder von ihr gesehen 

die Ähnlichkeit ist verblüffend 


Wieder geht das Telefon. RUTH geht an den Apparat. 


RUTH: 

Ja

hier 214 

Für dich Georg

der Veranstalter 


GEORG nimmt das Telefon. 


GEORG: 

Schön

dass Sie anrufen 

Richten Sie es so ein

dass wir noch 

einen kleinen Fototermin 

dazwischen schieben können 

Ja

Christine 

ist gefunden 

Und das wollen wir natürlich 

der Öffentlichkeit 

nicht vorenthalten 

Danke

Servus 


RUTH: 

Und wenn die richtige Christine 

das mitbekommt

die wird doch 


GEORG: 

Nichts wird sie 

Ich habe mir das genau überlegt 

Wenn die richtige Christine

morgen die Zeitung liest

wird sie 

ihren René 

mit einer anderen Frau sehen 

Sie wird denken

dass er sie nie gemeint hat 

So einfach ist das 


RUTH schaut ihn entfremdet an.


GEORG: 

Du brauchst gar nicht so zu schauen 

Was ist denn los? 


RUTH: 

Du hast wohl überhaupt keine Skrupel 


GEORG: 

Jetzt komm mir nicht so 

Es hat dich doch sonst nie interessiert 

Für wen tue ich denn 

das alles? 

Sag mir 

für wen tue ich denn 

das alles? 


RUTH: 

Du 

tust es für dich 

Georg 

für dich 



Café Landsmann

Der Tierpräparator

  PERSONEN: 


  RENE ALLERMANN Erfolgsautor




  In einem modernen Kaffeehaus. 

  Die Inneneinrichtung ist »zeitgeistig« (viel Chrom, heller Marmor

  etc.) 

  Auf der einen Seite ist eine Wendeltreppe, die in den Keller

  führt. (darüber Hinweisschilder für die Toilette) 

  Auf der anderen eine Bar mit Spiegeln, daneben eine große

  Pendeltür. Die Vorderfront bildet ein großes Fenster, darauf in

  einer Ecke ein Plakat mit der Aufschrift: 


» HEUTE GESCHLOSSEN

NEUERÖFFNUNG

IN WENIGEN TAGEN«




Erste Szene


An einem Tisch (ein alter Kaffeehaustisch) sitzt der 

»Erfolgsautor«, RENE ALLERMANN, neben sich ein Garderobenständer mit Zeitungen. Tisch, Stuhl und Garderobenständer stehen im krassen Gegensatz zu der 

sonstigen Einrichtung. RENE ALLERMANN trägt einen abgetragenen Anzug. 


RENE ALLERMANN: 

Leer geworden ist es 

Manchmal denke ich 

ich bin allein auf dieser Welt 

wohlgemerkt 

neuerdings erst 

Früher war es auch hier 

nicht so leer 

Da traf man sich 

war dieser Ort Treffpunkt 

für jedermann 

Mir ist es egal 


Er lehnt sich zurück. 


mir ist es immer egal gewesen 

habe immer allein am Tisch gesessen 

An meinem Tisch 

wohlgemerkt 

an meinem Tisch 

Das Schöne 

an dieser Lokalität 

ist die Tradition 

Namentlich wird man begrüßt 

man kennt jede Gewohnheit 

die unterschiedlichen Geschmäcker 

Die Zeitung liegt schon da 

Es ist alles geordnet 

alles geregelt 

Ja 

alles hat hier seinen Platz 

Sicher die Preise erhöhen sich stetig 

aber dafür ist das Personal 

dasselbe geblieben 

Ein beruhigendes 

schönes Gefühl 

in dieselben Gesichter 

immer und immer wieder 

zu blicken 

Die Stimmen 

auswendig gelernt 

Käme jetzt 

der »graue Star« über mich 

oder eine andere Augenkrankheit 

hier 

hätte ich keine Probleme 

37 Schritte bis zur Herrentoilette 

19 bis zum Kuchenbüffet 

Mein Tisch 

der dritte von links 

der rechte Stuhl am Fenster 

Auf dem Tisch 

die aktuelle Kuchenkarte 

je nach Jahreszeit 

Der Aschenbecher 

zwei kleine Öffnungen für Zigaretten 

und eine größere für die Zigarre 

nach dem Kaffee 

Ich selber 

rauche ja nur noch wenig 

die wenigsten wissen es 

Auch hier 

hat es einige Zeit gedauert 

bis sie es registriert haben 

Die Außenwelt 

macht es einem schwer 

alte Gewohnheiten abzustreifen 

wie einen alten 

speckigen Anzug 

Käme ich beispielsweise 

nicht zu den von mir vorbestimmten Zeiten 

in dieses Café 

Fragen würden mir gestellt 

eine Lawine an Fragen 

Sorgen 

würde man sich machen 

die Ordnung 

käme durcheinander 

Vor drei Jahren beispielsweise 

starb mein Bruder 

eine lästige Geschichte 

wirklich unangenehm 

Da ich 

als einziger nächster Verwandte 

naturgemäß 

die Aufgabe hatte 

alles in die Wege zu leiten

kam mein Leben 

für eine kurze Zeit 

aus dem Takt 

eine unangenehme Geschichte 

Das hiesige Personal 

ein wirklich sehr aufmerksames Personal 

las die von mir aufgegebene Todesanzeige 

las meinen Nachnamen 

und zog ihre Schlüsse daraus 

Als ich Tage später 

zur gewohnten Zeit 

zu der von mir vorbestimmten Zeit 

meinen Tisch 

aufsuchen wollte 

war dieser besetzt 

Mein Tisch 

den ich von jeher 

immer 

zu einer ganz bestimmten Zeit aufsuche 

war besetzt 

Eine peinliche Angelegenheit 

für beide Seiten 

Man hielt mich für tot 

nicht mehr existent 

Man muss sich das einmal vorstellen 

Es hat naturgemäß 

Konsequenzen mit sich gezogen 

Ich habe mich 

auf eine Art und Weise 

dem Personal genähert 

man möge mir das nachsehen 

Ja 

ich will es offen gestehen 

an diesem unsäglichen Tage 

habe ich dem Personal 

meine Verwandtschaftsverhältnisse 

erläutern müssen 

habe allen Mitarbeitern 

dieses ehrwürdigen 

traditionsreichen Cafés 

meinen Vornamen mitgeteilt 

Man kann durchaus sagen 

dass mir diese Handlungsweise 

abgezwungen wurde 

Ein bedeutender Tag 

in der Geschichte dieser Lokalität 

Ich habe meinen Bruder 

ohnehin nie leiden können 

Selbst über den Tod hinaus 

hat er mir noch Ärger 

und Schwierigkeiten bereitet 

Bin seitdem auch nicht mehr 

an seinem Grab gewesen 

Wer über seinen Tod hinaus 

noch in der Lage ist 

anderen 

Unannehmlichkeiten zu bereiten 

hat es nicht verdient 

dass man ihn besucht 


Er nimmt vom Zeitungsständer eine Tageszeitung mit Halter und blättert sie durch. 


RENE ALLERMANN: 

Unsinn

Wahnsinn 

Schwachsinn 

Unsinn 


Bei den Todesanzeigen hält er inne.


Im Sommer 

sterben sie wie die Fliegen 

Das Klima der Stadt 

ist im Sommer 

nicht für jedermann 

bekömmlich 

Obwohl der Winter 

naturgemäß 

für den Tod prädestiniert ist 

sterben sie hier 

im Sommer 

Die Leichenbestatter 

und die Angehörigen 

freuen sich über diese Tatsache 

Das Bestattungsgeschäft 

ist in dieser Stadt 

ein Saisongeschäft 

Der Leichenbestatter 

kommt leichter in den Boden 

Die Angehörigen sind sicher 

vor einer Verkühlung 

während den Bestattungsfeierlichkeiten 

Mein Bruder 

ist natürlich im kältesten Winter

den die Stadt 

seit Jahrzehnten 

zu verzeichnen gehabt hat 

gestorben 

Allein die Ausschachtung mit Presslufthammer 

und Bagger 

hat mich ein Vermögen gekostet 


Er blättert bis zu den Kleinanzeigen weiter. 


RENE ALLERMANN: 

»Sinnliche Wachauerin sucht gleichgesinnten Wachauer« 

»Langenzersdorfer Schlachter 

sucht Gehilfen zwecks Hausschlachtung« 

»Viehzüchter aus Klosterneuburg 

sucht erfahrenen Besamer 

gegen gute Bezahlung« 

»In dreißig Tagen Millionär 

Das Handbuch 

für den erfolgreichen Geschäftsmann 

Wegen Geschäftsauflösung 

jetzt um fünfzig Prozent billiger«


Ungläubig schüttelt RENE ALLERMANN mit dem Kopf. Er steht auf, hängt die Zeitung an den Haken und schaut aus dem Fenster. 


Nach einer Weile 


RENE ALLERMANN: 

Es gibt wenige Gäste 

die meiner Natur entsprechen 

gerade im Sommer 

Im Sommer 

fühlt man sich oft allein 

Zu viele Gesichter 

fremde Gesichter 

die hier 

kurz eintauchen 

in die Geborgenheit 

in die Wiener Gemütlichkeit 

flüchtend 

vor dem hektischen Strom 

der durch die großen Geschäftsstrassen fließt 

Das Klicken der Photoapparate 

Kreischende Kinder 

überfüllte Reisebusse 

der Benzingestank 

All das 

nimmt im Sommer 

dermaßen 

Ausmaße an 

dass mir oft der Gedanke kommt 

wieder zu reisen 

Ich habe lange 

keine Reisen mehr unternommen 

Nicht 

dass ich es mir nicht leisten könnte 

weit gefehlt 

Auch ist es nicht die Angst 

in einem fremden Land 

das Zeitliche zu segnen 

Mein Bruder ist tot 

ihn kann ich nicht mehr schädigen 

Nein nein 

zuviel 

habe ich meinen Sinnen zugemutet 

In jungen Jahren 

zuviel gespeichert 

naturgemäß 

alles unreflektiert gespeichert 

Ich bräuchte sieben Leben 

um all das aufzuarbeiten 

Allein für die Sortierung 

würde ein Leben nicht ausreichen 


Er setzt sich wieder. 


RENE ALLERMANN: 

Ruhelos 

bin ich umhergezogen 

bis ich dann doch wieder 

hier 

angelangt war 

Die Stadt ist wie ein Sog 

sie holt sich ihre Kinder 

immer wieder zurück 

alles nur eine Frage der Zeit 

Den Ausbruch 

habe ich versucht 

vor Steinhof 

Angst gehabt 

Jeder kreative Mensch 

landet zwangsläufig 

irgendwann 

in seinem Leben 

in Steinhof 

Alle wirklichen Künstler der Stadt 

sind irgendwann 

in ihrem Leben 

einmal 

in Steinhof gewesen 

weil sie nicht aufgepasst haben 

den Ausbruch 

nicht versucht haben 

Mir ist er gelungen 

der Ausbruch 

in der ganzen Welt 

bin ich gewesen 

Im Orient den Kaffee getrunken 

Es ist eine deprimierende Erfahrung 

für mich gewesen 

feststellen zu müssen 

das selbst in den Ländern 

wo die Kultur des Kaffeekochens 

zuhause ist 

man nicht in der Lage ist 

so wie hier 

den Kaffee zu kochen 

Traurig traurig 

Ich dachte noch bei mir 

als ich diese Reisen 

mit gutem Willen 

und einem Schuss 

jugendlicher Naivität unternahm 

es hielte sich alles so 

wie mit der Sprache 

aber auch da 

wurde ich um Erfahrungen reicher 

Wie oft wurde ich enttäuscht 

als ich ausländische Autoren 

zuvor in deutscher Übersetzung 

später neugierig geworden 

im Original las 

welche Verschiebungen 

fanden da statt 

Fälschungen 

nichts als 

dilettantische Fälschungen 

Eindrücke 

Empfindungen 

alles so entfremdet 

übersetzt 

dass gar 

ein neues Bild entstand 

Beispielsweise »Lysistrate« 

von Aristophanes 

Gewaltige Kluften 

liegen zwischen der billig Ausgabe in gelb 

und einer wissenschaftlichen 

fundierten 

gebundenen Ausgabe 

Ja gebunden 

und dementsprechend teuer

dachte ich 

in meiner jugendlichen Naivität 

Jahre musste es dauern 

bis ich dahinter kam 

Geld musste ich verdienen 

um mir ein Bild 

machen zu können 

von der Qualität an Übersetzungen 

Wissen ist Macht 

dachte ich damals 

Heute hat es viel mehr 

mit Geld zu tun

Im Übrigen 

ist der Beruf des Übersetzers 

von jeher 

ein Hungerleiderberuf 

Obwohl 

die ausländischen Autoren 

die unsäglichen Bücherhitlisten anführen 

und die Verleger 

Millionen scheffeln 

verdienen die Übersetzer 

Hungerleiderlöhne 

und die heimatverbundenen Dichter 

werden gar ganz vergessen 


Er schaut auf seine Taschenuhr. 


RENE ALLERMANN: 

Die Zeit 

geht ihre eigenen Wege 

und ich den meinen 

Jahrelang in Spanien gelebt 

Dem Klima zuliebe 

Der Gesichtshaut 

hat es auch gut getan 

ohne Zweifel 

Aber der Magen 

er weigerte sich 

den spanischen Kaffee 

zu honorieren 

wobei ich nichts Nachteiliges 

über den spanischen Kaffee sagen könnte 

Bin halt Heimat verbunden 

gebe ich offen zu

Im Alter

hat man sowieso 

vielmehr Möglichkeiten 

offen etwas zuzugeben 

Ja Heimat verbunden 

das bin ich 

ganz ohne Zweifel 


Er schaut sich etwas nervös um, dann wieder fällt der Blick auf 

die Taschenuhr. 


RENE ALLERMANN: 

Leer geworden ist es 

Noch keine zehn Uhr 

und schon niemand mehr da 

Die Bedienung 

so gerne ich sie mag 

und schätze 

so lange ich sie 

schon kenne 

Sie könnte sich ruhig 

wieder einmal 

blicken lassen 

Wahrscheinlich 

wieder eine dieser 

jetzt immer häufiger werdenden 

Betriebsversammlungen 

Nicht 

dass ich etwas gegen Gewerkschaften hätte 

nein wirklich nicht 

Aber einer 

der im Dienstleistungsgewerbe 

an vorderster Front tätig ist 

für den 

kann doch ein gewerkschaftlicher Beschluss

nicht Bestand haben 

Nein wirklich nicht 

ist er doch auf Trinkgelder angewiesen 

Nicht so der Fall 

im gegenüberliegenden Theater 

Wären die Herrschaften 

dort

auf das Trinkgeld angewiesen 

auf die Bezahlung 

durch das Publikum 

hätte die Stadt 

eine nicht zu verachtende Anzahl 

an Hungerleidern mehr 

Sie könnten sich dann in die Schlange

der Übersetzer einreihen 


Er lacht kindisch. 

Man merkt ihm an, dass das gegenüberliegende Theater für ihn eine tiefe Bedeutung hat. 


RENE ALLERMANN: 

Leistung 

Freundlichkeit 

Service 

Hierarchie 

Ja 

darüber redet niemand 

Über die Staffelung der Trinkgelder 

redet niemand 

jedenfalls nicht öffentlich 

Umso mehr sich jemand 

im Dienstleistungsgewerbe 

der Menschenwürde entzieht 

wohlgemerkt 

im Dienstleistungsgewerbe 

und nicht im gegenüberliegenden Theater 

desto höher ist das Bakschisch 

das Trinkgeld 

Ist es nicht so? 

Lassen wir uns 

nicht jede Art 

an Schmeicheleinheiten 

an Schmeichelkeiten 

an Schmeicheleien 

bezahlen? 

In einer Zeit 

der festprogrammierten Eitelkeiten 

erleben 

die professionellen Schmeichler 

ohne Zweifel 

einen Aufschwung 

der sich allabendlich 

zu Buche schlägt


Er wiederholt den Satz langsam. 


In einer Zeit 

der festprogrammierten Eitelkeiten 

erleben die professionellen Schmeichler 

ohne Zweifel 

einen Aufschwung 

der sich all abendlich 

zu Buche schlägt

Ein wirklich schöner Satz 

ein wirklich schöner 

gelungener Satz 

Ein Satz 

der sich lohnt 

festgehalten zu werden


Er nimmt Stift und Papier und schreibt den Satz langsam auf, dabei wiederholt er den Satz murmelnd. 

Er betrachtet das Geschriebene. 


RENE ALLERMANN: 

Wirklich 

ein schöner 

gelungener Satz 

Was 

frage ich 

nutzen da 

Tarifverhandlungen 

Tarifabschlüsse

Das Trinkgeld 

recht verstanden 

bewusst eingesetzt 

ist eine der letzten Bastionen 

der freien Entscheidung 

der individuellen Entscheidung 

überhaupt 

Man kann den Stellenwert 

der eigenen Person 

beziehungsweise 

das was einem

an Höflichkeiten 

Aufmerksamkeiten 

entgegengebracht wird 

in Prozente messen 

Moment einmal 


Er steht auf und geht zur Tafel, auf der sonst aktuelle Tagesangebote vermerkt sind, und wischt das Geschriebene, 

ohne es zu lesen einfach weg

(HEUTE GESCHLOSSEN NEUERÖFFNUNG IN WENIGEN TAGEN). 

Er nimmt ein Stück Kreide und schreibt die Prozentzahlen auf. 


RENE ALLERMANN: 

ZEHN PROZENT 

und man gehört zur Gattung 

der 

STUDIOSI 

Der Ober drückt seine Besorgnis 

über den ausbleibenden 

sonst regelmäßigen Scheck 

der Eltern aus 

DREISSIG PROZENT 

Die Bemerkung 

der Glückwunsch 

zum bestandenen 

EXAMEN

steckt den Rahmen des Entgegennehmenden 

SECHZIG PROZENT 

Der Kellner verleiht einem 

ohne die rechtliche Grundlage 

dafür zu besitzen 

die 

DOKTORwürde 

Bei 

NEUNZIG PROZENT 

gar 

wird man 

ohne es zu wollen 

in den Staatsdienst gehoben 

HERR GEHEIMRAT 

HERR HOFRAT 

HERR BURGSCHAUSPIELER 

HERR KAMMERSÄNGER 

HERR MINISTERIALDIRIGENT 


Da er keinen Platz mehr auf der Tafel hat, hört er mit der Auflistung auf. 


An sonnigen Tagen 

sogar 

in den Adelsstand 

Meine Bedienung 

und ich 

wir haben uns 

auf Dichter 

geeinigt 

Dichter 

klingt 

handwerklicher 

als Poet 

oder Autor 

In Dichter 

steckt Handlung 

Leben 

Ich bin Handwerker 

aber langsam könnte die Bedienung 

wirklich kommen 


Er geht wieder zu seinem Platz. 

Dabei 


RENE ALLERMANN: 

Um mir die Zeit zu vertreiben 

könnte ich die Toilette aufsuchen 

37 Schritte 

32 1/2 

bis zur Tür 

der Rest 

bis zum Becken 

Jetzt ist sie leer 

eine Gelegenheit 

die ich ausnutzen sollte 

Leer muss sie sein 

menschenleer 

Eine Grundvoraussetzung für mich 

Durch Erziehung 

so komprimiert 

dass ich nicht kann 

wenn jemand dabei ist 

neben mir steht 

In einem so großen Café 

es zu schaffen 

allein zu sein 

ist schon eine Kunst 

eine große Kunst 

Ich finde 

es gibt Dinge 

im Leben eines Menschen 

die sollte er 

allein erledigen 

Der Übergang 

vom Mädchen zur Frau 

Das Gebären 

Der Tod 

All das 

muss man allein erledigen 

man muss es nur wissen 

sonst scheitert man 

Der Stoffwechsel 

beispielsweise 

Der Stoffwechsel 

beziehungsweise 

was daraus resultiert 

gehört mit Bestimmtheit dazu 

Ich hasse es 

in einer Art Kollektiv 

mein Geschäft zu erledigen 


er grinst 


Gegenüber die 

die

müssen es 

die lieben 

vergewerkschaftlichen Künstler 

Vor Premieren 

habe ich mir sagen lassen 

sitzen sie 

wie die Hühner 

auf der Stange 

Ich für meinen Teil 

bringe das nicht fertig 

Das Stöhnen 

Das Pressen 

Das Aufatmen 

All das 

bringt mich aus dem Konzept 

hindert mich 

es einfach zu tun 

Es ist schon eine Art der Vergewaltigung 

die einem da 

die Lokalität aufzwingt 

Ich für meinen Teil 

bin so sensibel 

dass ich Lokalitäten meide 

die mehr 

als ein Urinalbecken besitzen 

Zwei Becken 

sind in Ausnahmefällen 

wohlgemerkt 

in Ausnahmefällen 

noch zu tolerieren 

Aber die Vorstellung 

von drei Becken 

und das mittlere 

ist nur frei 

macht mich rasend 


nach einer Weile 


Ob sie meinen Kaffee vergessen haben? 

Ich werde zum Kuchenbüffet gehen 

das sind weniger Schritte 


Er geht mit geschlossenen Augen in Richtung Thekenbereich, dabei zählt er laut. 


RENE ALLERMANN: 

Eins zwei drei 

vier fünf sechs 

sieben 

acht neun zehn 

elf zwölf dreizehn


Er stößt gegen die moderne Theke. 


Was ist denn das? 

Wo sind

der dreizehnte

und der vierzehnte Schritt?


Er berührt vorsichtig die moderne Theke. 


Ein Kunstwerk? 

Hier? 

Hier ein Kunstwerk? 

Hier herinnen 

hat doch noch nie 

ein Kunstwerk 

gestanden 

Hier herinnen 

hat sich noch nie 

ein Künstler verirrt 

Kunstwerk 

Kunstzwerg 


Er lacht über sich selber 

  PERSONEN: 


RUDOLF Tierpräparator 


MARION  Jugendliebe 


NIEKISCH Nachbarin



Das Stück spielt in der heutigen Zeit, in einer Altbauwohnung. 

Ein großes Zimmer.

Zentraler Punkt: ein altes Karussell, das in drei Segmente eingeteilt ist. 


1.Segment: Am See (Gebirgslandschaft, ein künstlicher See mit Schilf, einem ausgestopften Schwan und einem Boot)


2.Segment: Krankenhaus


3.Segment: Hochzeitszimmer (ein Doppelbett mit Nachttisch etc. alles wie neu eingepackt)


Mitten im Raum steht ein Arbeitstisch mit Utensilien. 

In einer Ecke ein Feldbett, daneben ein kleiner Kocher, ein großer Schrank.

Auf der einen Seite eine Schiebetür, die offen steht und damit einen Blick in den Flur gewährt, in dem mehrere

Tierpräparationen stehen.

Parallel die Korridortür mit Briefschlitz.

Die Wände im Zimmer sind notdürftig gestrichen. 

Der Durchbruch ist in Umrissen (wie das Karussell)noch zu erkennen.

Neben dem Karussell: das Schaltpult mit einem Plattenspieler (aus den fünfziger Jahren). 

Über dem Karussell eine große Lichterkette.

Auf der anderen Seite: eine normale Tür, an der Postkarten aus aller Welt hängen.



Jedes Mal, wenn MARION erscheint, ist sie anders gekleidet.



Erste Szene


RUDOLF sitzt am Tisch und arbeitet an einer elektronischen Schaltanlage. Immer wieder macht er Pausen, sichtlich

kann er sich nicht auf die Arbeit konzentrieren.

Auf dem Stuhl gegenüber - mit dem Rücken zum Publikum - sitzt eine Frau.

Auf dem Tisch ein großes Telefon.


RUDOLF:

Wir hätten das nicht einführen sollen

es ist ein Fehler gewesen

ein großer Fehler

Den ganzen Tag schon

bin ich unkonzentriert

nervös

Seit über einer Stunde 

sitze ich hier

und gebe eine lächerliche Figur ab

Was soll ich ihr bloß erzählen

wenn sie anruft?


nach einer Weile


Ich könnte ihr erzählen

was ich heute gemacht habe

Sie würde es nicht verstehen

nicht wahr 

Anna?

Sie interessiert sich nicht für uns

Dich hat sie von Anfang an ignoriert

Und zu unserer Hochzeit

weißt du noch?


er lacht


Der Brief

ihr Brief

mit keiner Silbe 

hat sie dich erwähnt

Kein Glückwunsch

nichts

Sie ist von jeher

eine schlechte Verliererin gewesen

Ja

so hat wohl jeder seine Schwächen

Einsam fühl' ich mich

einsam

wie jeden Donnerstag

Weißt du Anna

das Warten und diese Unkonzentriertheit

An Donnerstagen 

fällt es mir schwer

über den Tag zu kommen

Von Donnerstag zu Donnerstag

fällt es mir immer schwerer

über den Tag zu kommen

Der Donnerstag

ist der längste Tag der Woche

nur an Donnerstagen 

bin ich so unkonzentriert

Nein 

nein

wir hätten es nicht einführen sollen

es ist ein Fehler gewesen

Den ganzen Tag

habe ich auf ihren Anruf gewartet

Heute morgen

als der Wecker geklingelt hat

habe ich gedacht 

es wäre das Telefon

Zehn Minuten lang 

habe ich den Hörer

in den Händen gehalten

und HALLO 

HALLO 

Hinein geschrieen

immerzu 

ein HALLO 

HALLO

Ich bin ein Narr 

Anna

ein Narr

Einen alten Narren

hat das Warten 

aus mir gemacht

Dabei sagt man doch

im Alter 

gehen die Uhren anders

schneller

Sagt man nicht

im Alter 

verginge die Zeit 

wie im Fluge?

Ein völliger Blödsinn

Die das sagen

haben doch überhaupt keine Ahnung

kennen keine Donnerstage

haben solche Donnerstage

nie erlebt

Was ich heute gemacht habe 

willst du wissen? 

Nun 

nach dem Frühstück 

und dem Studieren der Zeitung

habe ich den Schrank geöffnet

und deine Kleider 

an die frische Luft gehängt

Es wird Frühling Anna

und da ist es Zeit

die Kleider 

an die frische Luft zu hängen

Die Niekisch

ist natürlich 

wieder am Fenster gestanden

und hat geschaut

dumm 

hat sie geschaut

Ja 

Ja

die Niekisch aus dem Zweiten

die hat es gerade nötig

dumm zu schauen

wo ihr doch der Mann abgehauen ist

Man sagt 

der Niekisch hätte sich abgesetzt

Er soll in die Kasse 

seiner Firma gegriffen haben

der Niekisch

dabei hat die kurz vor dem Konkurs gestanden

Jetzt soll er auf eines Insel leben

mit so einem jungen Ding

Kannst du dir das vorstellen

Anna?

Der Niekisch und so ein junges Ding

einfach lächerlich

Im Haus spricht man davon

dass er seiner Frau 

einen Brief hinterlassen hat

in dem soll gestanden haben

dass sie ihm halt nicht böse sein soll

und dass er nun endlich seinen Jugendtraum

verwirklichen könne

Einfach lächerlich 

das Ganze

wo doch der Niekisch

auch schon weit über sechzig ist

Ein Jahr 

und er wäre in Rente gegangen

Der Alten 

geschieht es ganz recht

ich habe sie nie leiden können


Er setzt sich wieder.


Nein 

nein

das mit deinen Kleidern 

werde ich ihr nicht erzählen

Du weißt ja 

wie sie ist

Am Ende 

hält sie mich für sentimental

oder gar für senil

Nein 

nein

das mit dem Kleiderschrank

werde ich ihr unterschlagen

das geht sie nichts an

Aber die Geschichte 

von der Niekisch

die könnte ich ihr erzählen

die ist amüsant


Er nimmt den Telefonhörer ab.


mit unsicherer Stimme


Guten Abend 

Marion

Schön 

dass du anrufst


Er legt wieder auf.


An Donnerstagen 

sollte ich mehr hinausgehen

sollte mich auf Gespräche einlassen

damit ich in Übung bleibe

An Donnerstagen

verspüre ich immer so ein Kratzen im Hals

und so eine Beklemmung 

in der Brustkorbgegend

von den Schluckbeschwerden 

erst gar nicht zu reden

Immer nur 

an Donnerstagen

immer dann

wenn sie anruft

habe ich diesen dicken Kloß im Hals


Abermals nimmt er den Hörer ab.


Guten Abend


Er hüstelt und legt wieder auf.


Auf keinen Fall

werde ich wegen dieser Geschichte

einen Arzt aufsuchen

Ein Arztbesuch 

kommt für mich

überhaupt nicht in Frage

Ich gehöre nicht zu den Menschen

denen die Decke 

auf den Kopf fällt

die nicht wissen 

was sie tun sollen

und nur aus purer Bosheit und Langeweile

einen Arzt aufsuchen

Ich sehe' sie schon vor mir

diese alten verbitterten Frauen

mit Wasser in den Beinen

wie sie warten

und jede Gelegenheit 

sofort nutzen

um ein Gespräch anzufangen

Erst letzte Woche 

auf dem Friedhof

hat man mir aufgelauert

Freundlich 

treten sie an einen heran

mit der Bitte 

um die Gießkanne

Aber die Gießkanne 

ist ja nur der Anfang

dann kommt das Schüppchen

die Harke

und zu guter Letzt 

eine Einladung zum Kaffee

Alten Frauen 

muss man aus dem Weg gehen

sonst ist man hoffnungslos verloren

Die Witwen 

sind die allerschlimmsten

Ich habe den Eindruck

dass es ihnen nicht ausreicht

nur einen Mann 

unter die Erde gebracht zu haben


Er schaut auf seine Uhr.


Zwei Stunden 

habe ich noch Zeit

In zwei Stunden 

beginnt erst der Spartarif

Marion ist geizig

von jeher

Nein 

nein 

vorher ruft sie nicht an 

Obwohl ich weiß 

dass sie erst gegen Abend anrufen wird 

bin ich schon den ganzen Tag über nervös 

schrecke bei jedem Geräusch auf


RUDOLF steht auf und schüttet sich ein Glas Wein ein.


Marion 

ist als Kind schon sparsam gewesen

das Ökonomische 

vom Vater geerbt

Ich werde nie vergessen

wie sie mich hat stehen lassen

wegen einer großen Tafel Schokolade

Sie ist von jeher 

ein Karrieremensch gewesen

In der Schule schon

hat sie gegen einen hohen Zins

Geld verliehen

Marion 

ist als Karrierefrau

einfach wie geschaffen

Drei Riegel Kokosschokolade 

hatte ich ihr gekauft

weil sie Kokosschokolade 

so gern gemocht habe

Sie aber 

hat sich für den Jungen

aus der Oberschule entschieden

Wegen einer dreihundert Gramm Tafel

Vollmilchschokolade

hat sie mich einfach 

stehen gelassen


RUDOLF nimmt einen kräftigen Schluck.


Gott sei dank 

bin ich nicht nachtragend  

nicht wahr 

Anna?

Nachtragend 

bin ich nie gewesen


Er geht zum Tisch und nimmt die elektronische Schaltanlage in die Hand.


Ich glaube 

dafür ist noch Zeit


Er geht zu dem Schaltpult herüber und baut das neue Teil ein. Die bunte Lichterkette geht an. Dann entfernt er eine der

Planen, die das Karussell abdecken. Eine malerische Gebirgslandschaft wird sichtbar. Davor auf einem künstlichen

See ein Boot, mit dazugehörigem Schilf und einem ausgestopften Schwan.


Jetzt kommst du an die Reihe 

Anna


Er geht zum Stuhl und nimmt sie in die Arme.

Erst jetzt ist zu sehen, dass es sich bei Anna um eine Puppe handelt. 


RUDOLF setzt sie in das Boot.


So Anna 

halt dich gut fest 

gleich geht es wieder rund


Er verschwindet hinter dem großen Schaltpult und betätigt einige Knöpfe. 

Musik ertönt, langsam setzt sich das Karussell in Bewegung.


Anna 

es funktioniert 

Es dreht sich Anna 

es dreht sich 

Mein Gott 

es funktioniert 

ohne dass eine Sicherung herausspringt


Er springt auf die Plattform.


RUDOLF(singend):

ein weißer Schwan

ziehet den Kahn

mit der schönen Fischerin

auf den blauen See dahin

Im Abendrot

schlingert das Boot...


Er springt wieder ab.


So Anna

jetzt halt dich gut fest

Ich probiere das neue Relais aus


Am großen Schaltpult drückt RUDOLF einen Knopf. Plötzlich flackert das Licht. Die Musik und das Karussell werden

immer schneller, was zur Folge hat, dass erst die Arme und dann der Kopf sich von der Puppe lösen und mit voller

Wucht in das Zimmer geschleudert werden.

RUDOLF hält das Karussell an. Betroffen macht er sich daran, die im ganzen Raum verstreuten Teile der Puppe

aufzuheben.

Er bringt sie zu seinem Tisch, nimmt sich Nähzeug und versucht einen Arm wieder anzunähen.

Nach einer Weile macht er eine Pause und schaut auf das Telefon.


RUDOLF:

Immerhin 

hatte ich damals die Möglichkeit

sie zu heiraten

Lang ist das her

Sie wollte unbedingt 

meine Frau werden


Er näht weiter.


Wir sind derselbe Jahrgang

Ein paar Monate 

bin ich nur älter

Bei diesen Arbeiten ist das Garn

das alles Entscheidende

Auf das Garn und die Stiche

muss besondern Wert gelegt werden

sonst wird es keine präzise Arbeit

Das Zusammensetzen 

der einzelnen Stücke

die Naht

all das verlangt 

eine Genauigkeit ohnegleichen

Wenn die Stiche nicht stimmen

ist die ganze Arbeit umsonst

Oft werden die Tiere

in einem so schlechten Zustand angeliefert

dass es einem Kunstwerk gleichkommt

sie wieder so herzurichten

dass sie lebensecht wirken

Ich hatte mal einen Mitarbeiter

der doch tatsächlich 

einem Vulpes zerda

den zwanzig Zentimeter langen Schwanz

mit einem Kreuzstich angenäht hat

Unglaublich 

unglaublich

Gott sei dank 

ist er später 

in die Spielzeugindustrie abgewandert 

Kann man sich bei Tieren 

ein oder zwei 

kleinere Fehler erlauben 

so ist dies 

bei einer menschlichen Präparation 

völlig ausgeschlossen 

Die Präparation 

ist eine künstlerische Arbeit 

die einem alles 

aber auch wirklich alles 

abverlangt 

die wenigsten begreifen das


RUDOLF zieht an dem Arm, um festzustellen ob er hält.


Er legt die Puppe beiseite.


So den einen hätten wir


Langsam könnte sie wirklich anrufen

sie ist längst überfällig

Ein richtig kleiner Trotzkopf 

ist sie gewesen

Anna war schweigsamer

bescheidener

nicht so machthungrig 

wie sie


RUDOLF nimmt den Hörer ab und sagt mehrere Male: »Guten Abend«, jedes Mal in einer anderen Betonung.


Wir hätten es 

bei den Briefen belassen sollen 

Briefe 

sind persönlicher 

und nicht so direkt 

wie ein Telefonat 

Man kann sich Zeit lassen 

bevor man auf eine Frage antwortet

Und diese Fragen 

diese immer gleichen Fragen 

Warst du heute spazieren? 

Was hast du gegessen? 

Was macht die Gesundheit? 

Wie ist das Wetter?

Und 

und 

und 

Fragen 

nichts als Fragen 

Und da Marion 

auf Sparsamkeit 

bedacht ist 

muss ich immer sofort antworten


nach einer Weile 


Was mache ich da? 

Ich blockiere die Leitung


Schnell legt er den Hörer auf.


Für mindestens fünf Minuten 

habe ich jetzt die Leitung blockiert 

Hoffentlich 

hat sie nicht gerade jetzt 

in diesen fünf Minuten 

angerufen 

Ach was rege ich mich auf 

Sie wird es noch einmal versuchen 

Sie wird bestimmt 

noch einmal anrufen 

dafür kenne ich Marion 

einfach zu gut 

Der Abend ist ja noch lang


Er nimmt den anderen Arm und beginnt auch ihn wieder anzunähen.


Marion hat Ehrgeiz 

das nötige Durchsetzungsvermögen 

Ein typischer Frauen Dickschädel 

Da ist sie anders 

als meine Anna

Anna 

hätte vor Wut 

den Hörer auf die Gabel geworfen 

und nie mehr angerufen 

So war sie in allen Dingen 

meine Anna 

Beim ersten Scheitern 

schon im Versuch 

hat sie aufgegeben 

Ein regelrechter Innenmensch 

war sie 

Mich hat sie gebraucht 

um Leben zu können 

Meine Anna 

war bescheiden 

zu bescheiden


Er schaut auf die Uhr.


Jetzt hat sie immer noch nicht angerufen 

Marion ist ein Außenmensch 

überall muss sie dabei sein 

Sie ist schon immer ruhelos gewesen 

ruhelos 

aber dennoch zielstrebig 

Immer neue Ziele 

immer neue Herausforderungen 

Sie hat bestimmt oft 

die Wohnung gewechselt 

Mit jedem beruflichen Weiterkommen 

eine neue Wohnung 

Mit Anna 

wäre das nicht möglich gewesen 

Einen Umzug 

hätte sie allein seelisch 

nicht verkraftet 

In den ganzen vierzig Jahren 

unserer Ehe 

hat keines der Möbelstücke 

seinen Platz gewechselt

Vierzig Jahre 

lebe ich nun hier 

hier in dieser Wohnung 

in diesen Wänden 

Wenn die Maler gekommen sind

ist jedes Möbel 

am Boden angezeichnet worden

damit es nachher 

auch ja wieder an seinen Platz kommt 

Alles muss seinen Platz haben 

alles eine Ordnung 

Ja 

so war sie

die Anna 

Der Liebe Gott und die Ordnung

Der Liebe Gott und die Ordnung

dies waren die Stützen 

ihres Lebens


Er probiert aus, ob auch der zweite Arm hält und legt dann die Puppe beiseite. 


Nach einer Weile hebt er erneut den Hörer ab.


Mehr als dreimal 

werde ich es nicht läuten lassen 

Dreimal 

so wie es sich gehört


Er wählt mehrere Nummern.


Eins

zwei

drei 

Wenn ich nur wüsste

wo ihr Telefon steht 

sieben

acht

neun

Sie hat bestimmt eine große Wohnung 

mit vielen Zimmern

dreizehn

vierzehn

fünfzehn 

Vielleicht ist sie gerade auf Toilette 

oder sie badet 

neunzehn

zwanzig

einundzwanzig

Ich könnte mich verwählt haben 

Bei so einer langen Nummer 

kann das leicht passieren


RUDOLF wartet für einen Moment bevor er die Gabel drückt, dann wählt er erneut.


Eins

zwei

drei

Hoffentlich 

ist ihr nichts passiert

In der Zeitung

ist einmal eine Geschichte

von einer Frau gestanden

die man erst 

drei Monate später

entdeckt hat

Nackt 

auf den Fliesen ihres Badezimmers

Wahrscheinlich ausgerutscht

Schlüsselbeinbruch

unfähig sich zu bewegen

Sie ist einfach verhungert

auf die erbärmlichste Weise verreckt

Das Alleinsein

es hat schon seinen Preis


Er legt auf. 


Wer allein lebt 

der muss auf der Hut sein 

Die Gesundheit 

ist das wichtigste 

man hat ja niemanden 

im Zweifelsfalle 

im Krankheitsfalle 

der einen pflegen kann

Wie viel Magendurchbrüche 

leichte Herzattacken 

Darmverschlingungen 

Nierenkoliken 

werden erst viel später 

halbverwest 

in ihren Wohnungen gefunden 

Ekelhafte Geschichten 

die in letzter Zeit 

immer häufiger auftreten 

Kein Tag vergeht 

wo so etwas 

nicht in der Zeitung steht 

Es gibt fast nur noch Außenmenschen 

Man lebt nur nach außen 

und innen verkümmert man 

bekommt Magengeschwüre 

fault aus 

Hoffentlich 

ist ihr nichts passiert 

Gerade jetzt 

Meinen ganzen Zeitplan 

wirft sie durcheinander 

Als ob ich nichts Besseres 

zu tun hätte 

als auf ihren Anruf zu warten


RUDOLF öffnet eine Hutschachtel in der sich mehrere Perücken befinden, er holt eine blonde Perücke heraus und

tauscht sie gegen die alte von der Puppe aus. Er schraubt den Kopf an die Puppe.


Du bist schön 

Anna 

Blond 

steht dir ausgezeichnet 

Du musst zugeben 

das mit den blonden Haaren 

war eine gute Idee 

von mir 

Du hast zwar jetzt etwas 

an Sinnlichkeit verloren

aber die jugendliche Frische 

wiegt das auf


MARION erscheint im Zimmer. Sie beobachtet RUDOLF bei seiner Arbeit, er kann sie nicht wahrnehmen.


RUDOLF hält den Kopf mit beiden Händen.


RUDOLF:

Sei mir nicht böse 

Anna

aber irgendetwas 

irritiert mich

Die Augen

Anna

Die Augen

Es sind nicht deine

Verzeih Anna

aber es sind nicht 

deine Augen

Die Augenpartie 

ist mir nicht gelungen

Ohne Zweifel

es sind schöne Augen

aber sie passen nicht

Nein 

nein

die Augenpartie 

ist mir nicht gelungen

Die Augen sind der Grund

Mit diesen Augen

bist du nicht 

meine Anna

verzeih die harten Worte

aber mit diesen Augen

bist du eine Fremde 

für mich

Ja 

eine Fremde

Wenn ich nur wüsste

zu wem 

diese Augen gehören?

Ich muss sie schon einmal gesehen haben

Dieses Funkeln 

in den Augen

diese kleinen zwei Flämmchen

kommen mir so vertraut vor


Mit einem geschickten Handgriff holt er beide Augen heraus und steckt sie in seine Tasche.


So 

jetzt bist du wieder meine Anna 

Morgen bekommst du andere Augen 

eine vollkommen neue Augenpartie 

werde ich dir machen 

Morgen Anna 

Morgen ist auch noch ein Tag 

Nicht wahr Anna? 

Das hast du doch auch immer gesagt 

Morgen ist auch noch ein Tag


Er legt die Puppe beiseite und starrt auf das Telefon.


Dass sie nicht anruft 

Bestimmt ist ihr etwas zugestoßen 

Ich sitze hier in einer anderen Stadt 

und weit ab 

stirbt ein Mensch 

auf die erbärmlichste Weise 

Ein Mensch stirbt 

und allen scheint das 

vollkommen egal zu sein 

Wahrscheinlich liegt sie röchelnd 

im Badezimmer 

und versucht mit geschwächter Stimme 

um Hilfe zu rufen 

Aber niemand hört sie 

Vielleicht flüstert sie in ihrer Todesangst 

schon meinen Namen

Rudolf

Rudolf

Wollte sie mich nicht besuchen?

Hatte sie nicht erst

bei unserem letzten Telefonat

davon gesprochen?

Ich blöder Hund

hätte ich doch nur 

ja gesagt

Dann würde sie jetzt nicht im Badezimmer liegen

und vergebens um Hilfe schreien

Die Nachbarn werden denken

der Fernseher läuft

Wer weiß 

was sie für Nachbarn hat

Die Niekisch 

aus dem Zweiten

würde mich glatt verrecken lassen

die könnte dabei stehen

nichts würde die tun

Marion darf noch nicht sterben

Mein Entschluss steht fest

Ich fahre

würde mir das sonst nie verzeihen

In den ganzen Jahren ‑

einmal nur in Urlaub gewesen

Im Schwarzwald

im schönen Glottertal

Am Schluchsee sind wir gewesen

dabei wollte Anna

partout an den Bodensee

Den ganzen Urlaub 

hat sie mir verdorben

mit ihrem ewigen Gequengle

Dabei waren am Bodensee

überhaupt keine Zimmer 

mehr zu bekommen

Alles ausgebucht 

aber das hat sie nicht interessiert 

Sie wollte unbedingt zum Bodensee 

Wenn ich so recht überlege 

war das gar nicht ihre Art 

so auf eine Sache zu bestehen 

ja sich regelrecht 

zu versteifen 

Nein 

das war nicht ihre Art 

Vielleicht werfe ich da 

was durcheinander 

ist ja auch schon so lange her 

Auf jeden Fall 

richtig herausgekommen 

sind wir nie 

die ganzen Jahre nicht


Sein Blick fällt auf die Puppe.


Die Augenpartie

wollte ich doch ändern

Die Augen 

sind die charakteristischsten Merkmale 

einer guten Präparation

Die Augen 

sind das wichtigste 

überhaupt

Die Augen 

werden von jeher

von den Präparatoren unterschätzt

Jeder weiß

dass ich immer besonderen Wert

auf die Augen gelegt habe

Die Augen 

sind das wichtigste

nicht wahr Anna?

Habe ich das nicht immer gesagt?


RUDOLF nimmt die Puppe und trägt sie vorsichtig zu dem Boot.


Es tut mir leid Anna 

aber die Augen müssen warten

Sag nichts 

ich weiß 

ich weiß 

Es hat Komplikationen gegeben 

etwas Unvorhergesehenes 

ist eingetreten


Er setzt sie in das Boot.


Ich werde für ein paar Tage verreisen

Ja

ich werde dich 

für ein paar Tage alleinlassen müssen

Jetzt schau' nicht so

Es ist ein Notfall

glaub mir

Wenn es kein Notfall wäre

ich würde dich nicht alleinlassen

Aber so

Marion braucht Hilfe

und da ist es meine Pflicht


Er deckt das Segment mit der Plane ab.


Den kleinen Koffer werde ich nehmen

den ich seinerzeit Anna 

für ihren Krankenhausaufenthalt

gekauft habe

Der Koffer ist ja so gut wie neu


Er sucht in dem Zimmer nach dem Koffer.


Wo habe ich ihn bloß verstaut?


Er öffnet einen Schrank, in dem sich mehrere Tierpräparationen befinden, darunter auch viele Einzelteile und ein Koffer.

Vorsichtig holt er den Koffer heraus, so als ob es sich dabei um eine Kostbarkeit handeln würde.


Und dann 

stand ich da

eine schlaflose Nacht hinter mir

in dem weißen kalten Flur des Krankenhauses

mit dem kleinen Koffer in der Hand

Verloren

verfroren

Allein stand ich da

mutterseelenallein

Sie muss höllische Schmerzen gehabt haben

Aber sie hat still gehalten

kein Klagen und kein Wimmern

Niemandem 

wollte sie zur Last fallen

Abgefunden 

hatte sie sich mit ihrem Schicksal

Der Liebe Gott weiß schon 

was er tut

das waren immer wieder ihre Worte

Selbst unter den höllischsten Schmerzen

sprach sie noch

von einem Lieben Gott

Sie hätte sich gegen ihre Krankheit

wehren sollen

dann wäre sie mit Bestimmtheit

heute noch am Leben

Wer sein Leben ausschließlich

in die Hände 

der Kirche und der Mediziner legt

ist von vornherein 

hoffnungslos verloren


Er geht mit dem Koffer zu dem Tisch.


Die Dimension 

des Alleinseins 

ist für einen Nichtbetroffenen 

einem Außenstehenden 

nicht fassbar

Vorstellen 

kann man es sich nicht

das Alleinsein

So ist das Leben

man begreift das Glück erst

wenn es einem durch die Hände geglitten ist

Vom Kürschner zum Tierpräparator

zum Tierpräparator aufgestiegen

Was für ein Aufstieg

Vom Kürschner zum Tierpräparator


Er fasst sich an den Kopf.


Ich hätte studieren können

Ich aber 

habe Mäntel gemacht

Mäntel

Mäntel im elterlichen Betrieb

Mäntel

Mützen

Muffs

Alles nur

der Mutter zuliebe

Nach dem Tod der Mutter

bin ich Tierpräparator geworden


Er lacht.


Tierpräparator

Photographie 

wollte ich studieren

Tierpräparator 

bin geworden

Der Beruf des Tierpräparators

hat schon seine Vorteile

ganz ohne Zweifel

Allein wegen der Pension

lohnt es sich

Und bei der Arbeit

hat man seine Ruhe

Nicht umsonst wird behauptet

die Museumsruhe

wäre die gesündeste

Zwischen lebendig wirkenden

ausgestopften Tieren

habe ich die meiste Zeit

meines Lebens verbracht

in absoluter Ruhe


Er fängt sich wieder.


Marion muss durchhalten

Wenn sie im Bad gefallen ist

hat sie wenigstens Wasser

Bis zum Waschbecken oder zur Badewanne

wird sie sich wohl aufraffen können

Ein Tag ohne Essen

das hält man aus

Wenn sie im Badezimmer gefallen ist

hat sie eine Chance

Sie hätte sich nicht übernehmen sollen

Auf der ganzen Welt

ist sie in den letzten Jahren gewesen

Von überall her

habe ich Postkarten

von ihr bekommen

Das konnte ja 

auf die Dauer nicht gut gehen

da musste ja direkt etwas passieren

Der menschliche Körper und die Seele

sind nicht dafür gemacht

einfach nicht fähig

solche Strapazen 

auf die Dauer auszuhalten

Das fremde Essen

die schlechten Hotelbetten

und ganz besonders 

die Zeitunterschiede

sind gesundheitsgefährdend

Auf jeden Fall schädlicher

als meine drei Zigaretten

die ich mir täglich genehmige

Marion ist Nichtraucherin

eine militante Nichtraucherin


Er lacht.


Einmal 

hat sie bei einem Telefongespräch aufgelegt

einfach aufgelegt

nur weil ich dabei geraucht habe

Jetzt liegt sie weit ab

hilflos in ihrem Badezimmer

und wartet darauf

von einem Raucher 

gerettet zu werden


Er nimmt eine krumme selbstgedrehte Zigarette aus der Schachtel, die er soeben aus seiner Jackentasche genommen

hat, und zündet sie sich an. Er nimmt ein paar kräftige Züge. 

Sein Blick fällt auf den Koffer.


Unausgepackt 

habe ich ihn 

vor Jahren 

so in den Schrank gelegt 

Die Krankenschwester 

hatte ihn mir 

auf diesem schrecklichen Flur 

in die Hand gedrückt 

Es war nie meine Art 

in den Sachen 

meiner Mutter herumzuwühlen 

Aber jetzt 

in Anbetracht der Dinge


Vorsichtig öffnet er den Koffer, ganz langsam holt er die obenauf liegende Strickjacke heraus.


Die 

hatte sie immer 

gerne getragen 

Kalt war ihr 

von jeher 

Geschenkt 

hatte ich sie ihr

vor dem ersten Krankenhausaufenthalt 

Wenn sie Angst hatte 

fror sie besonders


Er legt die Jacke beiseite, des Weiteren packt er mehrere kleine hellgrüne Porzellanfläschchen und Seifenstücke aus.

Auf den Tisch stellt er sie wie eine Spielzeugarmee in eine Reihe.


Ich werde mir einen neuen Koffer kaufen 

Noch ist Zeit dazu


Er zieht nachdenklich an der Zigarette.


Plötzlich klingelt es an der Tür.


Die Niekisch


Es klingelt mehrmals. 


Bestimmt die Niekisch 

Will wieder ein Ei 

oder etwas Mehl 

Dabei möchte sie ja nur in die Wohnung 

Ich werde nicht aufmachen 

Wer bin ich denn?

Nein 

nein 

der Niekisch 

mache ich nicht auf 

das wäre ja noch schöner


Es hört nicht auf zu klingeln.


Eine Unverschämtheit

Ich werde mich bei der Hausverwaltung

beschweren

Was kann ich dafür

dass ihr der Mann 

davongelaufen ist?

Ist nicht mein Problem

nein 

wirklich nicht


Jemand versucht an der Wohnungstür den Briefschlitz hochzuheben. 

Eine Frauenhand wird sichtbar. RUDOLF versucht sich zu verstecken.


NIEKISCH:

Hallo?

ich sehe dich

Hallo

Rudolf

Warum machst du nicht auf?

Ich bin es doch

Rudolf?

Ich

Rudolf 

bitte mach auf


Erst jetzt greift MARION in die Handlung ein. Sie tritt von hinten an RUDOLF und berührt ihn. RUDULF dreht sich

erschrocken um.


MARION:

Ich bin es doch

Ich bin es 

Marion

DEINE MARION


RUDOLF:

MARION?

Ohlsdorf - Totentanz



    Nix is! 

    Bled is! 

    Aus is!


BURGTHEATERZWERG






PERSONEN: 


WIRT Hinteregger, Besitzer des Gasthofes in Ohlsdorf 


ANNA seine Nichte, Bedienung im Gasthof 


ALOIS Gelegenheitsarbeiter, die treue Seele 

des verstorbenen Dichters 

 

SPANDOLINI Geistlicher aus Rom, 

ein Geschädigter des Verstorbenen 

 

ADOLFO sein Fahrer aus den Abruzzen 

 

EHEMALIGER MINISTERPRÄSIDENT 

ein Geschädigter aus Deutschland


FRAU DES EHEMALIGEN MINISTERPRÄSIDENTEN 


SCHAUSPIELER ein Geschädigter aus Österreich 


SCHAUSPIELERIN seine Frau 


BURGTHEATERZWERG ein Chronist




Im Gasthaus zu Ohlsdorf


Erste Szene 


Der WIRT Hinteregger steht hinter dem Ausschank und spült Gläser.

An einem Tisch sitzt der Waldarbeiter ALOIS vor einem Krug Bier.

An der Tür, die zum Gesellschaftssaal führt, hängt ein Schild:

»Heute Geschlossene Gesellschaft«

Im Hintergrund läuft leise das Radio.


WIRT: 

Auf den Tag genau 

vor einem Jahr ist er gestorben 


ALOIS: 

Ein vom Schicksal oft heimgesuchter Mensch 

Selbst die Bäume vor seinem Anwesen 

haben ihm keine Freude bereitet 

Absägen habe ich sie müssen 

Bis auf einen sind sie alle befallen gewesen 


WIRT: 

Man sagt 

das Kranke zieht sich an 


ALOIS: 

Wenn man einen Käfer sieht 

ist es schon zu spät 

Er hätte frühzeitig spritzen sollen 

Aber auf mich hat er ja nicht gehört 

Ein Gemütsmensch 

bin ich für ihn gewesen 

Die treue Seele Alois 

treu aber keinen Verstand 

hat er immer gesagt 

Treu aber keinen Verstand 


WIRT: 

In der Zeitung ist gestanden 

er hätte unsere gute Luft nicht vertragen 

Unser Klima sei ausschlaggebend gewesen 

einfach lächerlich 

Nirgendwo im Lande 

gibt es soviel Hundertjährige 

wie hier bei uns 


Die Bedienung ANNA kommt aus der Küche. 


ANNA:

Für wie viel Personen soll ich eindecken?

Servus Alois


ALOIS:

Servus Anna

setz' dich her zu mir


Sie lacht verlegen. 


WIRT(nachdenklich): 

Acht Personen haben sich angemeldet

telefonisch

Das ist gut

Also deck' für zwölf Personen ein

Die Herrschaften aus der Stadt

können es sich leisten


ANNA:

Aber an den Tisch passen doch nur zehn Gedecke


WIRT:

Dann deck' halt für zehn ein

Und hol' einen Mantel aus der Kammer


Die Bedienung geht in den Saal. 


WIRT: 

Ja Alois

so ist das 

Jetzt ist er schon ein Jahr unter der Erde 

aber eine Arbeit macht er einem immer noch 

Allein die Übernachtungen 

sind um das Fünffache gestiegen 

von den Durchreisegästen erst gar nicht zu reden 

Den Gesellschaftsraum 

vermiete ich nur mehr 

an Übernachtungsgäste 

sonst rentiert es sich nicht 

Mit den Durchreisegästen ist kein Geld zu machen 

Ein Bier 

einen Kaffee 

und in Ausnahmefällen ein Essen 

Nein 

nein 

das lohnt nicht 

Und dann diese Camper 

Die Camper sind die allerschlimmsten

Da sitzen sie zu viert 

stundenlang an einem Bier

und bevor sie gehen

füllen sie heimlich

ihre Wasserkanister bei mir auf

Mein Wasserverbrauch ist in letzter Zeit

um das Zehnfache gestiegen

Ich habe es aber dem Bürgermeister gesagt

immer und immer wieder

habe ich es dem Bürgermeister gesagt

Was wir brauchen sind Mautstationen

Auf beiden Seiten von Ohlsdorf 

müssen Mautstationen her


ALOIS:

Machst’ mir noch ein Krügerl Bier 

Hinteregger?


WIRT:

Ist schon recht Alois

das geht auf Kosten des Hauses

wo er dich nicht einmal

in seinem Testament bedacht hat


Aus dem Saal: die Stimme der Bedienung 


ANNA:

Soll ich auch für Suppe eindecken?


WIRT:

Aber selbstredend

wo doch noch soviel

aus der letzten Woche übrig ist


zu ALOIS 


Überhaupt essen Städter gerne Suppe 

Man kann sagen 

dass Städter regelrecht verrückt sind 

auf unsere gute Landsuppe 

In der Stadt bekommen sie ja nirgends 

so eine gute Suppe wie hier draußen 

Städter sind regelrechte Suppenesser 

Umso mehr Suppe am Anfang 

desto weniger greifen sie nach dem Braten 

Bisher habe ich jeden Braten 

zweimal verkaufen können 

Mit Ausnahme der Luxemburger 

Die Luxemburger 

haben den übrig gebliebenen Braten

einfach mitgenommen 

Servietten und Papier haben sie verlangt 

Die Luxemburger haben keinen Anstand 

aber dafür haben sie einen Mantel 

und einen Tisch gekauft 


ALOIS: 

Ja ja 

Suppe hat auch er immer gern gegessen 

Alois 

hat er gesagt 

heute ist mir nach Suppe 

Lass uns zum Hinteregger gehen 

hat er gesagt 

Suppe 

kann man überhaupt nur beim Hinteregger essen 

Nudelsuppe 

zwei Teller Nudelsuppe hat er gegessen 

und sich dabei Notizen gemacht 

Nazis 

Nazis 

hat er gemurmelt 

und sich mit einem Bleistift 

Notizen gemacht 


Er steht auf und geht zum WIRT. 


Auf die Serviette hat er alles geschrieben 

Da schau 


Er holt einen kleinen Bleistift aus der Hosentasche. 

Der WIRT schaut neugierig. 


WIRT:

Ein ganz gewöhnlicher Bleistift


ALOIS:

sein Bleistift


WIRT:

Das bringt mich auf eine Idee


in den Saal rufend 


Anna 

lauf mal schnell in den Laden 

und kauf alle Bleistifte auf 

Alois 

Du bist ein Goldjunge 

Fünfhundert Schilling 

werde ich für einen Bleistift nehmen 

Vierzigtausend Schilling 

für einen Tisch 

Zwanzigtausend 

für den Mantel 

Fünfhundert Schilling 

für den Bleistift 

das ist selbst für Studenten erschwinglich 

Alois 

heut' bist du mein Gast 


Er stellt ihm ein Krügerl Bier hin. 


ALOIS:

Dank' dir schön 

Hinteregger


WIRT:

Schade ist nur

dass du die kranken Bäume

alle schon verheizt hast

Das wäre ein Geschäft geworden

Kleine Scheiben hätte ich geschnitten

sie lackiert

und als Untersetzer verkauft

Des Dichters kranke Bäume

als Bieruntersetzer

das hat was


ANNA kommt mit fünf Lodenmänteln herein und hängt sie an den Garderobenständer. 


WIRT: 

Anna was soll das?

Einen 

habe ich gesagt 

Immer und immer wieder 

habe ich dir gesagt 

Du sollst nur einen Mantel hinhängen 

Was soll ich denn mit fünf Mänteln 

kannst du mir das sagen? 

Dummes Ding 


Sie nimmt vier Mäntel vom Haken und bringt sie wieder zurück in die Kammer. 


WIRT: 

Die bringt es fertig 

und zerstört meine ganzen Geschäfte 

Den Luxemburgern 

hätte sie fast zwei Tische verkauft 

Gott sei Dank 

sind sie schon alle betrunken gewesen 

Dabei habe ich es ihr schon hundert Mal erklärt 

Pro Reisegruppe 

nur ein Tisch und ein Mantel 

aber das kriegt sie nicht in ihren Kopf 


ALOIS geht mit seinem Bier zu dem Tisch an der Tür. 


ALOIS: 

Ja 

ja 

hier hat er immer gesessen 

Hier an der Tür 

war sein Platz 

Beim Essen 

hat er mir von Madrid erzählt 

Nur in Madrid 

hat er gesagt 

nur in Madrid 

habe ich Sehnsucht 

nach dem Hinteregger seiner Nudelsuppe 

In Wien 

hat er gesagt 

in Wien 

habe ich nur einen Heißhunger 

auf dem Hinteregger seinen Rindsbraten 

Aber schon nach zwei Tagen 

hat er gesagt 

schon nach zweimal 

Nudelsuppe und Rindsbraten beim Hinteregger 

kann ich Nudelsuppe und Rindsbraten 

nicht mehr sehen 


WIRT: 

Das hat er niemals gesagt 

Meine Nudelsuppe und meinen Rindsbraten 

hat er immer nur gelobt 


ALOIS: 

Dir 

hat er es nicht gesagt 

mir schon 

Ich bin ja auch sein Vertrauter gewesen 

Mir 

hat er alles anvertraut 

Ausgesprochen 

hat er sich nur mit mir 

Alois 

hat er gesagt 

Du bist ein Gemütsmensch 

mein Beichtvater 

und dabei 

hat er immer gelacht 

Ja 

ja 

er konnte schon lustig sein 

wenn er wollte 


WIRT: 

Ich 

habe ihn nie lachen gesehen 

die ganze Zeit nicht 

Die Menschen 

haben es ja auch nicht 

gut mit ihm gemeint 

Andauernd 

soll er Drohbriefe erhalten haben 

regelrechte Morddrohungen 

sagt man 

Und das alles 

wegen ein paar Theaterstücken 

Die Städter 

sind schon ein verrücktes Volk 

und allen voran 

die Wiener 

Erst hassen sie ihn wie die Pest 

und kaum ist er unter der Erde 

wollen alle seinen Tisch 

und seinen Mantel kaufen 

Die Beerdigung 

soll ja auch recht trostlos gewesen sein 

Für Blumen und Kränze 

haben sie kein Geld 

aber ein Erinnerungsstück 

wollen sie alle haben 

Ein Erinnerungsstück 

vom großen Meister 

kann gar nicht teuer genug sein 

Ich versteh' die Städter nicht 


ALOIS: 

Heimlich 

und in aller Stille 

haben sie ihn beerdigt 

Nur im Kreise 

der Verwandten und Freunde 

so hat es mir der Bruder geschrieben 

und sich für all meine Arbeit bedankt 

Wenn ich einmal in Wien sein sollte 

so hat er geschrieben 

würde er sich selbstverständlich Zeit nehmen 

mir sein Grab zu zeigen 

Die Zeitungen 

wurden erst hinterher informiert 

Die Presse 

hat ja sowieso nur negativ 

über ihn geschrieben 

Regelrecht zum Volksfeind 

haben sie ihn erklärt 


WIRT: 

Den Karajan 

hat man seinerzeit in Salzburg 

auch heimlich verscharren müssen 

Die Salzburger 

haben ein Glück 

erst Mozartstadt 

und jetzt auch noch der Karajan in ihren Reihen 

Wenn der hier gelebt hätte 

ein Geschäft wäre das geworden 

Karajan Semmel 

Würste 

Braten 

Kugeln 

ganze Mehlspeisen 

Frisuren 

Mäntel 

Hosen 

Beim Karajan 

würde mir vieles einfallen 

aber bei so einem unbeliebten Dichter 

wie er einer war 

da bleibt nicht viel 

ein paar Mäntel 

ein paar Tische 

Bin gespannt 

ob die Bleistifte gehen 


Er geht in die Küche. 


ALOIS: 

Ja 

ja 

sein Vertrauter bin ich gewesen 

immer hier 

mit ihm am Tisch gesessen 

Einmal 

als ich ihm nach einem Sturm 

das Dach gerichtet habe 

ist er mit einem Bier gekommen 

und hat gesagt 

Es ist gut 

einen Freund zu haben 

Ja 

ja 

Freund hat er gesagt 

Jetzt ist er tot 

und die anderen 

machen ein Geschäft daraus 

Schlecht sah er aus 

als er das letzte Mal da war 

müde wirkte er 

Dass du mir ja nicht den Garten vernachlässigst 

hat er mir noch zum Abschied gesagt 

Und wenn ich aus Wien zurück bin 

fällen wir beide den letzten Baum vor dem Haus 

Nur wir beide Alois 

hat er noch gesagt 

Jetzt 

hat ihn der eine Baum 

doch noch überlebt 

werde ihn halt allein fällen müssen 

Gott sei Dank 

hat mich der Bruder übernommen 

Den Garten 

halten Sie natürlich weiter in Ordnung 

hat er geschrieben 

Sie mit ihrer grünen Hand 

sind unentbehrlich 

Der Bruder 

auch ein feiner Mensch 


Er nimmt einen kräftigen Schluck. 


Ob ich noch mähen soll? 


Er schaut aus dem Fenster. 


Das Wetter 

es wird wohl umschlagen 

Und morgen 

ist auch noch ein Tag 


Die Bedienung kommt mit einem Karton Bleistifte in die Gaststube. 


ANNA: 

Mein Gott 

ist es schwül draußen 


ALOIS nimmt ihr den Karton ab und stellt ihn auf die Theke. 


Das ist aber lieb von dir Alois 

Soll' ich dir eine frische Halbe machen? 


ALOIS: 

So ist's recht Anna 

Eine Halbe 

ist das rechte Maß 

Der Hinteregger 

der Geizkragen 

lässt höchstens mal ein Krügerl springen 

Obwohl er an meinen Ideen genug verdient 

bin ich ihm nur ein Krügerl wert 

Die Idee mit den Bleistiften 

ist auch von mir 


ANNA : 

Ganz verändert ist der Onkel 

seitdem er tot ist 

Den Zeitungsbericht 

über Ohlsdorfs großen Dichter 

hat der Onkel über sein Bett gehangen 

Ohlsdorfs großer Dichter 

dass ich nicht lache 

Im ganzen Jahr 

hat er höchstens einen Monat 

hier verbracht 


ALOIS: 

Ja ja 

er hat's halt nirgendwo 

lang ausgehalten 

aushalten können 

Immer hat ihm was gefehlt 

In Madrid 

dem Hinteregger seine Nudelsuppe 

Und hier bei uns 

sein spanischer Kaffee 


Die Bedienung gibt ihm das Bier. 


ANNA(leise) : 

Verändert 

hat den Onkel das Fernsehen 

Das Fernsehen 

ist an allem schuld 

Kurz nach seinem Tod 

haben sie im Fernsehen 

ein Theaterstück von ihm gebracht 

und mein Onkel hat's gesehen 

Ich habe mich noch gewundert 

da er sonst doch nie fernsieht 

Ganz allein 

ist der Onkel im Saal gesessen 

regelrecht gespenstisch 

ist das gewesen 

Mit ganz großen Augen 

hat der Onkel unentwegt auf den Fernseher gestarrt 

und dabei immer wieder 

mein Gasthof 

das ist mein Gasthof geschrieen 

Ich bin zu ihm hin 

und hab' ihn beruhigen wollen 

Aber es ist nur schlimmer geworden 

Schau Anna 

schau hin 

Da mein Gasthof 

mein Saal 

Schau Anna 

das bin ich 

das bin ich 

Das soll ich sein 

Danach 

habe ich ihn zwei Tage lang 

nicht gesehen 

Einfach verschwunden war der Onkel

und danach wie ausgewechselt 

Kurze Zeit später 

sind die Lastautos gekommen 

Und jetzt 

steht der ganze Schuppen voller Tische 

und die Kammer quillt vor Mäntel über 

Erst gestern 

hat der Onkel eine Kupferplatte 

in Auftrag gegeben 

mit irgendeiner Inschrift 

die will er draußen an der Tür anbringen 

Aber das Schönste 

kommt erst noch 


Sie schaut sich ängstlich um. 


Heute Morgen

musste ich für ihn

einen Eilbrief aufgeben

an den Landeshauptmann adressiert

Der Onkel verlangt eine Umbenennung

unseres Ortes

Aus Ohlsdorf

will der Onkel Utzbach

oder Butzbach machen

Möchte nur wissen

wer ihm solche Ideen

in den Kopf setzt?

Alois

ich hab' Angst um ihn

Eines Tages

werden sie ihn abholen

und dann steh' ich da

ganz allein


ALOIS:

Hast du denn den Brief aufgegeben?


ANNA:

Wo denkst du hin

Verbrannt habe ich ihn

Aber wenn er keine Antwort bekommt

wer weiß

wem er dann schreibt

vielleicht dem Bundespräsidenten


ALOIS:

Übernehmen wird er sich

der Hinteregger

dein lieber Onkel

Übernehmen

das sage ich dir

Die ganze Geldschacherei

da liegt kein Segen drauf


Aus der Küche 


WIRT:

Anna

wo bleibst du denn so lange?


ANNA:

Ich komm ja schon

ich komm ja schon


Die Bedienung geht in die Küche. 


ALOIS: 

Mir scheint 

jetzt sind sie alle verrückt geworden 

Der Bürgermeister 

will ein Denkmal errichten 

und der Hinteregger 

gar den Ort umbenennen 

Man sollte den Vierkanthof einreißen 

dann wär’ endlich eine Ruh' 

So ähnlich muss es zugegangen sein 

als man in Alaska 

Gold gefunden hat 

Da sind auch alle verrückt geworden 


Der WIRT kommt aus der Küche. 


WIRT: 

Was ich dich noch fragen wollte 

Ich habe gehört 

du hast einen Schlüssel vom Vierkanthof 


ALOIS: 

Aber freilich 

wo ich doch noch den Garten mache 

eine Vertrauensperson bin ich 

das hat auch der Bruder erkannt 

Einmal die Woche 

lüfte ich kurz durch 

und schicke dem Bruder 

die Post nach Wien 

Obwohl er schon ein Jahr tot ist 

der Briefkasten ist jeden Tag voll 


WIRT: 

Nun 

ich hätte da vielleicht 

ein Geschäft für dich 


ALOIS:

Eine Führung durch das Dorf?


WIRT:

Ja

ja

eine Führung

ist sicherlich auch drin

Weißt du

ich bekomme heute

hohe Gäste aus der Stadt

richtige Berühmtheiten

Würdenträger

ein Berater des Papstes

und ein ehemaliger Ministerpräsident

aus Deutschland

sind darunter

Und da habe ich mir gedacht


ALOIS(unterbricht):

Nein nein 

Das schlag' dir aus dem Kopf 

Ich führ' niemanden mehr in den Innenhof 

Beim letzten Mal 

haben sie einfach Blumen gepflückt 

und ich habe den Ärger gehabt 


WIRT: 

Aber Alois 

mein lieber Alois 

wer redet denn vom Innenhof 

ich dachte 

eher an eine Führung 

an eine Hausführung 


ALOIS: 

Durchs Haus soll ich sie führen? 

durchs Haus 

Ja bist du denn wahnsinnig geworden? 

Das kommt überhaupt nicht in Frage 

Eine Vertrauensperson 

hat der Bruder mir geschrieben 

Eine Vertrauensperson 

verstehst du? 

Glaubst du 

ich setz' meine Stellung aufs Spiel? 

Nein 

das schlag' dir aus dem Kopf 


Der WIRT holt eine Flasche und setzt sich zu ihm. 

Er schüttet ALOIS einen Schnaps ein. 


WIRT: 

Die ganze Flasche kannst du haben 

mein bester Obstler 


ALOIS(leckt sich die Lippen): 

Nein


WIRT:

Wo du doch fast zur Familie gehörst


ALOIS:

Nein


WIRT:

Wo du doch bald zur Familie gehören wirst


ALOIS:

Jetzt auf einmal

Erst jagst du mich zum Teufel

weil ich mit der Anna

auf Kirchweih getanzt habe

und jetzt


WIRT(unterbricht):

Alois 

mein lieber Alois 

ein Missverständnis 

alles nur 

ein dummes Missverständnis 


ALOIS: 

Ach Unsinn 

Wer hat mir denn vorgeworfen 

dass ich kein Geld habe? 

Du hast mich doch 

als Erbschleicher beschimpft 

und mich vor all' deinen Gästen 

aus dem Haus geworfen 

Glaubst wohl 

ich hätte das vergessen 


Er versucht aufzustehen, der WIRT hält ihn zurück. 


WIRT: 

Musst mich verstehen 

Alois 

Die Anna 

ist so etwas wie eine Tochter für mich 

bin halt eifersüchtig gewesen 

damals 

Sie ist nun mal 

mein ein und alles 


ALOIS: 

Und darum kann sie wohl auch ackern 

bis sie umfällt 


WIRT: 

Es ist schwer 

eine gute Bedienung zu finden 

Und wo sie doch mal 

alles erben wird 

Warum mach ich denn das alles? 

Damit sie es einmal besser hat 

damit ihr es einmal besser habt 


ALOIS: 

Du bist und bleibst ein Gauner 

Hinteregger 

Ich hätte es wissen müssen 

nicht umsonst hast du mich eingeladen 


Und deine Nichte 

willst du auch verschachern 

Pfui Teufel 

Hinteregger 


Er steht auf. 


Pfui Teufel 

Die treue Seele Alois 

hat er gesagt 

Eine Vertrauensperson 

hat sein Bruder geschrieben 

Den einzigen Freund 

den ich habe 

hat er gesagt 

und daran halt' ich mich 

Hinteregger 

Damit du es weißt 

Mit Geld 

kannst du mir nicht kommen 

Servus Hinteregger 


Er verlässt die Gaststube. 


WIRT: 

Na warte 

Bürschchen 

dich krieg' ich auch noch 

wäre doch gelacht 


Er steht auf und geht in die Küche. 


Aus der Küche 


Anna Anna 

komm her 

ich muss mit dir reden 


Notausgang

  Für Reiner Scheibe



PERSONEN:


LESSING, Journalist, an den Rollstuhl gefesselt


PFLEGER des Journalisten, Freund der JUNGEN FRAU


JUNGE FRAU, Freundin des PFLEGERS


MAKLER, vertritt den Hausbesitzer


sowie:


HANDWERKER, PIANIST, CONFERENCIER, WOHNUNGSSUCHENDE, GÄSTE, eine MUTTER mit ihrem KIND, ALTE FRAU, JOURNALISTEN, HUREN, BARMANN, 

eine STIMME



Erste Szene


Im Arbeits- und Wohnzimmer.

Auf der einen Seite die Wohnungstür und eine Wendeltreppe, die nach oben führt, auf der anderen ein großes Fenster mit Schiebetür und Balkon. In der ganzen Breite und bis zur Decke ein übervolles Bücherregal, davor ein großer Schreibtisch, dessen Füße Aktenstapel sind. Im ganzen Raum überall verteilt, kleine und große Papier– und Aktentürme.

Hinter dem Schreibtisch im Rollstuhl der Journalist LESSING, den man durch die hohen Aktenberge jedoch nur schwerlich erkennen kann.


Von der Tür her hört man lautes Stimmengewirr.


LESSING:

Wie soll sich einer

bei diesem Lärm 

konzentrieren können

Ohrenbetäubender Lärm

Menschengeschwätz

Nichtigkeiten

Bis zur Straße

werden sie wieder stehen

Seit einem Monat

jeden Mittwoch

und jeden Samstag

stehen sie bis zur Straße

Nervenkrieg

Menschengeschwätz

Die Stimmen

hoffnungslos Wartender 

Man will mich Kleinkriegen 

mürbe machen

Taub müsste man sein

taub

Der Anblick 

dieser wartenden Meute 

ist erträglich 

Jede Woche

sind es wieder ein paar mehr

Von Woche zu Woche aber

werden die Stimmen 

unerträglicher

Gleich wird er wieder läuten

Ich werde nicht aufmachen

wie jeden Mittwoch

wie jeden Samstag

Jeden Mittwoch

und jeden Samstag

das gleiche Ritual

Fünf Minuten lang

in kurzen Abständen

wird er läuten

in immer kürzer werdenden Abständen

Ich werde mich nicht von der Stelle bewegen

Er wird nach mir rufen

und dann einfach aufschließen

obwohl es verboten ist

Obwohl es verboten ist

wird er einfach die Tür öffnen

das Schwein

Ich sollte ihn über den Haufen schießen

Mildernde Umstände

wird man mir geben

vielleicht sogar auf Notwahr erkennen

Alles nur eine Frage

der Auslegung


Er rollt vor den Schreibtisch und dann im Slalom um die Aktentürme herum zum Fenster. Um seinen Hals hängt ein Jagdglas.

Er schaut hindurch.


Bis zur nächsten Ecke stehen sie

die Hoffnungslosen

Mir scheint die Anzahl

an Frauen mit Kindern 

hat zugenommen

Vielleicht 

sollte ich eine Statistik aufstellen

Mich würde es nicht wundern

wenn er für die Besichtigung

Geld nehmen würde

Die gleichen Gesichter

die gleichen Schicksale

In allen Köpfen

der gleiche ungetrübte Optimismus

Gleich wird er läuten

Sturm wird er läuten

der Makler

das Schwein

Der Besitzer 

ist ein feiger Hund

er schickt seinen Zuhälter


Er schaut auf die Uhr.


Jetzt kann es nicht mehr lange dauern

In der Einhaltung der Zeit

ist er korrekt

Ein korrekter Mensch

ein Geschäftsmann

vom Scheitel bis zur Sohle

Der größte Fehler meines Lebens

ist es gewesen

hierher zu ziehen


Er schaut wieder durch das Fernglas ( diesmal in die Wohnung ).


Manchmal habe ich das Gefühl

als ob mir jeden Moment

die Augen 

aus dem Kopf fallen würden

einfach so

Ich kann nichts dagegen tun

Es kommt einfach über mich

und es bleibt mir nichts anderes übrig

als zu warten

Manchmal ist der Druck so stark

dass ich Tage nur mit Warten verbringe

in der Hoffnung

dass sie endlich herausfallen

Plop 

plop

wie Tischtennisbälle

Zweimal ein kurzes Plop

und sie sind draußen


Er lacht.


Beim Lesen

beim Studieren der Zeitung

trage ich eine Brille

obwohl ich überhaupt keine Brille benötige

Ich bilde mir ein

durch das Tragen der Brille

könnte ich ein Herausfallen verhindern

dabei verstärkt die Brille

nur den Augendruck

Ein Wahnsinn das Ganze

ein absoluter Wahnsinn

Das Lesen

das Studieren der Zeitung

die immer kleiner werdenden Buchstaben

die von Ausgabe

zu Ausgabe

immer kleiner werdenden Buchstaben

haben schuld daran

Der Augendruck

der überhöhte Augendruck

ist eine fürchterliche Krankheit

Der Arzt spricht von einer Überfunktion

der Schilddrüse


Er rollt hinter seinen Schreibtisch und öffnet mehrere Schubladen.


Ein ganz normales Symptom

bei einer Überfunktion der Schilddrüse

sagt der Arzt

Wenn der Arzt ein Symptom

als normal bezeichnet

weiß er meist keinen Rat

Es ist nicht normal

ein Gefühl zu haben

dass einem die Augen herausfallen

Plop 

Plop

wie Tischtennisbälle

In Hamburg 

hatte ich keine Überfunktion der Schilddrüse

In Hamburg 

bin ich kerngesund gewesen

Die jodhaltige Luft

sagt der Arzt

hat eine Überfunktion verhindert

oder war es da die Unterfunktion

dabei habe ich die Hamburger Luft

nie als besonders gut empfunden


Er bückt sich.


Irgendwo hier muss sie liegen

Ich bin mir sicher

dass ich sie in den Schreibtisch gelegt habe

Das Archiv

es wächst mir über den Kopf

es macht sich selbständig

Von Anfang an

hat es sich selbständig gemacht

Nur

ich habe es nicht bemerkt

zu spät

die Dimension erkannt

Da ist sie ja

meine kleine Freundin


Er kommt wieder hoch.

In der Hand hält er eine Pistole.


Ich werde diesen Pedanten

ein wenig in Aufregung versetzen


Er schaut abermals auf die Uhr, rollt nach vorne und entsichert die Pistole.


Meine kleine Freundin

enttäusche mich nicht

Vier

drei

zwei

eins


Es läutet.


Vier

drei

zwei

eins


Es läutet erneut.


Die Stimmen vor der Tür werden immer lauter. 

Das Läuten wiederholt sich in kürzeren Abständen. 


Aus dem OFF


MAKLER:

Herr Lessing

machen Sie bitte auf

Ich weiß

dass Sie da sind

Seien Sie vernünftig

Es hat doch keinen Sinn

Lassen Sie uns

wie zwei vernünftige


Unterdessen zielt LESSING auf die Tür und drückt ab. 

Von draußen hört man Schreie.


MAKLER:

Meine Herrschaften

ich bitte Sie

bewahren Sie Ruhe

Nichts ist passiert

Alles nur ein Scherz

ein Spaß

Der gute Herr Doktor Lessing

hat einen Spaß gemacht


LESSING:

Ein guter Schuss

genau wo ich ihn hin haben wollte

Seit über einem Jahr

liege ich dem Vermieter in den Ohren

er soll mir einen Gucki einbauen

Alles muss man selber machen


Es klopft jemand zaghaft an die Tür.


MAKLER:

Herr Lessing

was ist jetzt?

Machen Sie auf oder nicht?


LESSING rollt zurück zu seinem Schreibtisch.


LESSING(murmelnd):

Was fragt er mich denn

wo er doch einen Schlüssel hat


Der Makler öffnet langsam die Tür, die aber dann von unzähligen Menschen, zum Teil mit Kindern, weit aufgestoßen wird.


Die WOHNUNGSSUCHENDEN verteilen sich im Raum.


MAKLER: 

Meine Herrschaften

bitte bleiben Sie zusammen

Ich darf Sie bitten 

nichts anzufassen


Einige WOHNUNGSSUCHENDE gehen die Wendeltreppe nach oben hinauf.


MAKLER:

Halt

So geht das nicht

So nicht

meine Herrschaften

so nicht


Er geht auf die Wendeltreppe zu.


MAKLER: 

Wenn Sie mich bitte vorbeilassen würden


Mühsam zwängt sich die Meute nach oben.


LESSING:

Nach oben wollen sie alle

Jeder möchte der erste sein

Vielleicht sollte ich die Treppe ansägen

die ich dann

mit einer Tafel versehen werde

mit der Aufschrift

Vorsicht

Treppe ist wegen Einsturzgefahr

nicht zu betreten

Wird das ein Spaß

auf Verbotsschilder

achtet sowieso niemand

wenn es um eine Wohnung

wenn es um die Existenz geht


von oben


MAKLER:

Bitte meine Herrschaften

Bitte fassen Sie nichts an


LESSING:

Wie viele Menschen

in einen Raum passen

ohne dass eine Panik entsteht

Interessant 

interessant

Von Mal zu Mal werden es mehr

Möchte gerne wissen

wie es oben ausschaut

Seit zwei Monaten

bin ich nicht mehr oben gewesen


Er dreht sich um.


Was war das für ein Geräusch?

Da ist doch jemand

Da scharrt doch etwas

Hört sich an wie ein Hund 

Jetzt bringen sie schon ihre Haustiere mit


Er rollt zu einem Aktenberg.


Ja was machst denn du hier?

Wo ist denn deine Mama?


Mit einer Hand zieht er ein Kind hervor und setzt es auf seinen Schoß.

Das Kind beginnt zu schreien.


LESSING: 

Aber 

aber

aus dem Alter sind wir doch raus


Er fährt mit dem Kind hin und her.


Was

Das macht Spaß


zu sich


Was für Zeiten

wo die Mutter ihr Kind leugnen muss

um eine Wohnung zu bekommen


Von oben eine hysterische Stimme


MUTTER:

Mein Kind

Wo ist mein Kind?

Hat jemand mein Kind gesehen?


MAKLER:

Sie haben also ein Kind

Sagten Sie nicht eben


MUTTER(unterbricht):

Mein Kind

Wo ist mein Kind?


MAKLER:

Unverheiratet und ein Kind

interessant 

interessant



ein WOHNUNGSSUCHENDER: 

Schreit unten nicht ein Kind?


Sofort erscheinen mehrere WOHNUNGSSUCHENDE an der Galerie.


mehrere WOHNUNGSSUCHENDE(im Chor): 

Da ist das Kind 

Er hat das Kind in seiner Gewalt


Die MUTTER und der MAKLER erscheinen auf der Treppe.


MUTTER:

Mein Gott

mein Kind in der Hand eines Verrückten

Warum tut denn niemand was?

Warum ruft niemand die Polizei?


mehrere WOHNUNGSSUCHENDE(im Chor):

Polizei 

Polizei


LESSING schaut irritiert.


MUTTER: 

Er wird es erschießen 

er wird es erschießen


Die MUTTER möchte zu ihrem Kind, der MAKLER hält sie zurück.


MAKLER: 

Keine Panik 

keine Panik


Das Kind hat aufgehört zu schreien.


MAKLER:

So lassen Sie doch das Kind los

Herr Lessing

Ein unschuldiges Kind

Ist es das wert?

Wegen einer Wohnung

ein Menschenleben opfern

wollen Sie sich wirklich unglücklich machen?

Überlegen Sie doch


MUTTER:

Er wird es umbringen

Er wird es umbringen


DER MAKLER hält der MUTTER den Mund zu.


MAKLER:

Wir können über alles reden

Ich werde mit dem Vermieter sprechen

Noch ist die Wohnung nicht vergeben

vielleicht können Sie bleiben


Ein gefährliches Murren geht durch die Runde.


Ich bin mir sogar sicher

der Vermieter wird ein Einsehen haben

in Anbetracht Ihrer Situation

Ich verspreche

ich werde mich für Sie einsetzen


mehrere WOHNUNGSSUCHENDE(im Chor):

Schiebung

Betrug

Alles Schiebung


MAKLER:

So verschrecken Sie den armen Mann nicht

Sehen Sie nicht

dass er behindert ist


zur Mutter


Wenn Sie mir versprechen

nicht zu schreien

nehme ich meine Hand fort

Bedenken Sie

er ist zu allem fähig


Das KIND hat unterdessen die Pistole genommen und zielt damit auf die Treppe. Die WOHNUNGSSUCHENDEN flüchten wieder nach oben.

Der MAKLER versteckt sich hinter der MUTTER.


MAKLER(leise):

Gehen Sie langsam zu Ihrem Kind

haben sie keine Angst

Ich halte Ihnen den Rücken frei


Der MAKLER schiebt die MUTTER wie ein Schutzschild vor sich her.


MUTTER: 

Hermännchen

Hermännchen


ein WOHNUNGSSUCHENDER: 

Hermann?

Hermannstraße?


mehrere WOHNUNGSSUCHENDE: 

Hermannstraße

Hermannstraße


Die WOHNUNGSSUCHENDEN stürzen die Treppe hinunter und verlassen die Wohnung.


LESSING wendet sich ab.


LESSlNG:

Feiglinge

allesamt Feiglinge


MUTTER:

Hermännchen

Hermännchen


Das KIND klettert vom Rollstuhl herunter und läuft der MUTTER in die Arme.


MAKLER:

Das wird Folgen für Sie haben

Anzeige werde ich erstatten

Geradezu gemeingefährlich sind Sie


zur MUTTER

Kommen Sie 

Kommen Sie


Beide verlassen die Wohnung.

Eine JUNGE FRAU erscheint an der offenen Tür. Sie beobachtet LESSING der aus dem Fenster starrt.

Nach einer Weile schließt sie die Tür.

LESSING fährt mit dem Stuhl herum.


LESSING:

Was wollen Sie noch hier?

Die Besichtigung ist zu Ende

Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte


JUNGE FRAU:

Ich wollte zu Ihnen


LESSING:

Zu mir?

Schickt Sie der Besitzer?

Oder etwa das Amtsgericht?


JUNGE FRAU:

Ich komme wegen dem Buch


LESSING:

Was für ein Buch?


JUNGE FRAU:

Ich habe Ihr Buch gelesen

Das Beiruter Tagebuch


LESSING:

So so

mein Beiruter Tagebuch

Alle Welt sucht eine Wohnung 

und Sie kommen wegen meinem Buch 

Ihnen scheint es gut zu gehen 

besser als den anderen


Er wendet sich ab, rollt zum Fenster und starrt durch sein Jagdglas. 

Nach einer Weile


JUNGE FRAU(leise):

Wenn ich störe

komme ich ein anderes Mal


LESSING:

Da laufen sie wie die Ameisen

hetzen zum nächsten Termin

tragen dem Makler die Tasche bis zum Auto

küssen ihm die Füße

huldigen ihm

machen leere Versprechungen

Das ist das Zeitalter

der Makler und Zwischenverdiener

Der Bäcker erhöht die Brotpreise

nur um seinen Anlageberater bezahlen zu können

Was für Zeiten

Die Polizei

wird das Schwein nicht rufen

das traut er sich nicht

Die Polizei im Haus

bedeutet Imageverlust

Bei dem Mietwucher

kann er sich die Polizei nicht leisten


Die JUNGE FRAU steht unschlüssig im Raum, sie traut sich nicht auf LESSING zuzugehen.

Nach einer Weile verlässt sie den Raum.


LESSING:

Überall wo man hinschaut 

herrscht Krieg

An den Krieg

können sich die Menschen gewöhnen

Ich weiß wovon ich rede

Seitdem ich denken kann

befinde ich mich mitten drin

in der Pufferzone

in der so genannten Pufferzone

An den Krieg 

gewöhnen sich die Menschen

nur der Friede 

ist ihnen unheimlich


Er rollt zu einem der Aktenstapel und zieht ein Dossier heraus.

Er liest laut die Überschrift


LESSING: 

Beirut

Weihnachten


Er rollt hinter seinen Schreibtisch und holt eine Flasche Whisky hervor.


LESSING: 

Volle Flaschen

haben so etwas Unschuldiges an sich


Bevor er sich ein Glas sucht und einschüttet, nimmt er schon einen kräftigen Schluck.


LESSING:

Beirut

Weihnachten

Mein Beiruter Tagebuch

es ist zum Lachen


Langsam verschwindet das Bücherregal und eine Beiruter Hotelbar wird sichtbar. In der Mitte der Bar steht ein Weihnachtsbaum mit bunten blinkenden Lampen, davor

JOURNALISTEN und HUREN. In französischer Sprache singen sie "Stille Nacht, Heilige Nacht".


LESSING:

Das ganze Buch

eine Lüge

eine so genannte Lebenslüge

Internationaler Flughafen

Taxi

Hotel

Zimmer

Bar

Immer nur in der Hotelbar gewesen

die ganze Zeit

Draußen haben sie geschossen

Die Botschaft längst geschlossen

da haben wir noch Karten gespielt

Nein nein

das war Hanoi

das muss Hanoi gewesen sein

Ich verwechsle es 

mit Hanoi

In Beirut

haben wir nur Whisky getrunken

Galone um Galone

Der Barpianist hat durch uns 

ein Vermögen verdient

in dieser Zeit

Jede Nacht ein endloses Warten

Draußen ratterten die Maschinengewehre

zischten die Katschukas

und der arme Teufel

von Pianospieler

musste spielen

anspielen 

gegen die Welt da draußen

Wir haben ihn nicht weggelassen

spielen musste er die ganze Nacht

An manchen Abenden war das Eis

teurer als der Whisky

Na denn Prost


LESSING nimmt einen kräftigen Schluck. Der Pianospieler spielt einen Tusch. Die Anwesenden klatschen. Ein "Fröhliche Weihnacht’" in verschiedenen Sprachen macht die Runde.

Der BARPIANIST spielt wieder seine Musik.


LESSING:

Der Pianist spielte

was das Zeug hielt

Um seine Seele

hieß es damals

Mit dem Teufel

um die Wette

Wir haben gelacht

und ihn mit Münzen beworfen

Ich habe in der Bar geschlafen

wie fast alle

Die Berichte abgeschrieben

und keine Zeit gehabt

den Tripper zu kurieren


Er rollt mit der Whiskyflasche und einem Glas auf dem Schoß in die Bar. Die JOURNALISTEN und die HUREN sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn nicht beachten. Von einem Kleiderständer nimmt LESSING eine weiße Smokingjacke und zieht sie über.


LESSING(laut):

Wir alle 

haben die Berichte abgeschrieben

abgeschrieben

abgeschrieben


Niemand in der Bar beachtet LESSING.


LESSING:

Keinen von meinen Berichten

hat die Agentur haben wollen

da habe ich sie bedient

Die Wahrheit

kommt ins Tagebuch


Er lacht laut.


Wir alle haben die Weltöffentlichkeit

mit irgendeiner Scheiße bedient

Hört ihr

wir alle haben die Welt beschissen

Fröhliche Weihnachten

Hauptsache

es ist einfach und stimmig

Nur nicht die Wahrheit

bloß nicht die Wahrheit

Die Menschen wollen Information

und keinen Ekel

Quoten

Auflage machen

darum geht es

nicht wahr 

meine Freunde


Er nimmt einen kräftigen Schluck.


Die Menschen bloß nicht anekeln

nicht schocken

Ein vietnamesisches Mädchen

nackt

auf einer Straße

Mit Angst im Gesicht

Ja 

so ein Bild 

geht um die Welt

weil es harmlos ist

So ein Bild

kann man sich zum Frühstück

beim Studieren der Zeitung

getrost antun

so ein Bild schon

Da schmecken Eier und Salzstangen immer noch

Ausstellungen

kann man mit solchen Bildern machen

Preise gewinnen

Die Agenturen lechzen

nach solchen Bildern


Er nimmt sein Glas und schmeißt es in den Weihnachtsbaum.


LESSING:

Ich habe andere Bilder gesehen

Wir alle haben andere Bilder gesehen

Wir müssen damit leben

Halb verweste Menschen

Körperfetzen

einzelne Köpfe

Prost und Fröhliche Weihnachten


Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Flasche.


Verklebte Leichen

wie wäre es damit

Bis zu vier Menschen habe ich gesehen

die ineinander verschmolzen waren

Ein Vater beugt sich zum Schutz

über seine Frau und seine beiden Kinder

Die glückliche Familie

die heilige Familie

Fröhliche Weihnachten


Er nimmt einen kräftigen Schluck.


LESSING:

Es wird Zeit

dass wir nach draußen gehen

Hört ihr

Wir dürfen die Wahrheit nicht länger

in unseren Köpfen behalten

Wir müssen sie hinausschreien

und nicht im Archiv ablegen

Lasst uns nach draußen gehen


Vergeblich versucht er sich im Rollstuhl aufzurichten.


ein JOURNALIST(ruft laut):

Vorsicht Heckenschützen


LESSING stürzt zu Boden und hält zum Schutz die Hände über den Kopf, dabei zerbricht die Whiskyflasche.

Die JOURNALISTEN und HUREN lachen. Der PIANOSPIELER spielt einen Tusch.




















Grapefruit moon

PERSONEN: 


MICHAEL, ledig, Dozent


ULF, verheiratet, zwei Kinder, Angestellter


HERBERT, verheiratet, bisexuell, Beamter


THEO, Strafentlassener


Alle vier kennen sich schon seit ihrer Schulzeit.


MARIA, Barfrau 


HILDE, Transvestit und Sänger


sowie: 

ein NACHRICHTENSPRECHER, ein PIANOSPIELER, GESELLSCHAFTSDAMEN, drei ÄLTERE HERREN, STRIPTEASETÄNZERIN, PUTZFRAUEN



Das Stück spielt in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts.



Erste Szene


In der Wohnung von THEO. 

Das Wohnzimmer bestehend aus Sitzecke, Esstisch, Wohnzimmerschrank und Fernseher. Der Raum hat drei Türen, über der einen hängt ein Transparent: »Herzlich Willkommen Theo«, eine andere Tür führt in die Küche, die dritte ins Schlafzimmer.

Aus dem Schlafzimmer: Staubsaugergeräusche. Aus der Küche: Geschirrgeklapper. 


Nach einer Weile: eine Stimme aus der Küche


MICHAEL(ruft):

Ulf 

kannst du mal das Radio anmachen

Es kommen gleich Nachrichten

Und schalt um Gotteswillen

den scheiß Staubsauger ab

ist ja nicht zum aushalten


Der Staubsauger wird abgestellt.

ULF kommt mit einer Schürze bekleidet aus dem Schlafzimmer.


ULF:

Total verdreckt die Bude

Ist ja auch kein Wunder

nach all den Jahren

Hat sich ja niemand drum gekümmert


zur Küche hin


Wenigstens das Grobe

muss ich doch wegmachen


Er sucht das Radio.


Seit wann interessierst du dich

für die Nachrichten?


Aus der Küche


MICHAEL:

Die Quoten will ich hören

Die Lottoquoten

Sieben Millionen sind im Pott


MICHAEL kommt ins Wohnzimmer.

Auch er hat eine Schürze um, in der Hand hält er einen Teller und ein Handtuch.


MICHAEL:

Stell dir vor 

sieben Millionen

Was man damit alles machen kann

Ein alter Bugatti

eine Yacht

‘ne Insel in der Südsee

mit knackig braunen Mädchen drauf

mit solchen Titten


Er macht eine ausholende Armbewegung.


ULF:

Südseemädchen haben keine großen Titten

die sind höchsten so groß

wie Grapefruits aber dafür

schön fest und rund


MICHAEL:

Ist doch wirklich scheißegal

aber ich sag dir eins

Bei sieben Millionen

haben die auch große Titten

darauf kannst du dich verlassen


ULF hat das Radio gefunden, er macht es an.

Aus dem Radio hört man die Stimme des NACHRICHTENSPRECHERS.


NACHRICHTENSPRECHER:

Die wegen Polizistenmordes verurteilte

frühere Angehörige der terroristischen

Rote Armee Fraktion 

Angelika Speitel

ist vom Bundespräsidenten

begnadigt worden

Das Bundespräsidialamt bestätigte gestern

einen Bericht des Nachrichtenmagazins

Der Spiegel

Die Ex-Terroristin

die noch in der Justizvollzugsanstalt

Köln-Ossendorf sitzt

soll demnächst auf freien Fuß

gesetzt werden

Ein ebenfalls an den Bundespräsidenten

gerichtetes Gnadengesuch

des früheren


ULF schaltet das Radio wieder ab. MICHAEL schaltet es wieder ein.


MICHAEL:

Ich will die Quoten wissen


NACHRICHTENSPRECHER:

Der innenpolitische Sprecher

der CDU/CSU 

hat die Entscheidung im Falle Speitel

als verfrüht bezeichnet

Es sei unverständlich

warum bei ihr eine lebenslange

Freiheitsstrafe 

nur zwölf Jahre

Freiheitsentzug bedeuten solle 

während andere Mörder 

die nicht aus der Terrorismusszene kämen 

in der Regel 15 bis 30 Jahre 

für Mord büßen müssen


ULF schaltet das Radio wieder aus.


ULF:

Ist ja nicht zum aushalten


MICHAEL:

Und die Lottoquoten?


ULF:

Scheiß auf die Quoten

Das muss man sich mal vorstellen

da wird die begnadigt

als ob nichts gewesen wäre

da wird so eine einfach begnadigt

von unserem Herrn Bundespräsidenten

nach lächerlichen zwölf Jahren

Unsereins würde da vermodern

kein Hahn würde nach einem krähen

Und so eine wird einfach begnadigt


MICHAEL:

Von wem redest du eigentlich?


ULF:

Hast du eben nicht gehört?


MICHAEL(ärgerlich):

Ich wollte die Lottoquoten hören


ULF:

Von der Terroristin red‘ ich

die von der RAF

die begnadigt werden soll

Na wie heißt sie denn gleich noch? 

Haben sie eben doch noch gesagt


MICHAEL:

Aber nicht die Lottoquoten


ULF:

Sei doch mal still

Der Name liegt mir auf der Zunge


MICHAEL:

Ist ja auch egal

hab ja sowieso 

ganz andere Zahlen gehabt


ULF:

Ich hab’s Speidel

Genau

Speidel heißt die Tante

wie die Schauspielerin

kennst du doch

ist so in unserem Alter

und noch ganz gut in Schuss


MICHAEL:

Ja ja

Ich weiß wen du meinst

die Rotblonde

mit der würde ich auch gern mal

Die hätte nichts zu Lachen


ULF(nachdenklich):

Da buchten sie den Theo

für sechs Jahre ein

Muss die Zeit voll absitzen

obwohl er ein anständiger Bürger ist

Und so eine Polizistenmörderin

Terroristenfotze

kommt nach zwölf Jahren 

schon wieder raus

Ich sag dir 

dieses Land geht den Bach runter


MICHAEL:

Muss dir ehrlich sagen

Speidel sagt mir nicht viel

Ich meine

Speidel als Schauspielerin

Ja

Aber als Terroristin

wirklich

habe ich noch nie etwas von gehört


ULF:

Willst sie auch noch in Schutz nehmen

was?

So etwas gehört mindestens

lebenslänglich hinter Gitter

wenn nicht noch mehr

oder abgeschoben

Ich bin wirklich kein Freund der Todesstrafe

aber bei so einer

Es gibt keine Gerechtigkeit mehr

Aber ich sag dir

das wird noch viel schlimmer werden hier

Armer Theo

Der Theo hatte wenigstens einen Grund


MICHAEL:

Armer Theo

dem hat das Schicksal arg mitgespielt


Beide setzen sich.


ULF:

‘Ne Zigarette?


Er bietet ihm eine an.


MICHAEL: 

Danke


ULF gibt ihm Feuer. Beide rauchen schweigend. 

Nach einer Weile


ULF betrachtet seine brennende Zigarette


ULF:

Theo hat ja damit aufgehört

wegen der Kohle

Hauptsache er hat die Wohnung

nicht verkaufen müssen

So hat er wenigstens einen Platz

ein Zuhause

wenn er rauskommt


MICHAEL:

Könnt ich nie

Überhaupt Knast 

würde ich nicht überleben

Dann schon eher die Kugel


ULF:

Ja ja

das sagt sich so leicht

Weißt du noch vor Gericht?

Als der Richter


er stockt


als der Richter das Urteil verkündete

Sechs Jahre ohne Bewährung 

Und Theo?

Nicht einmal mit der Wimper hat er gezuckt 

Das ist wahrer Charakter 

Hätte ich ihm gar nicht zugetraut


MICHAEL:

Der Verteidiger ist ja auch eine Flasche gewesen

so ein richtiges Muttersöhnchen


ULF:

Der war schwul

ich sag’s dir 

Hundertprozentig 

Das war eine Tunte 

wie sie im Buche steht 

Der hat unter seiner Robe 

bestimmt Strapse getragen 


Beide lachen


MICHAEL:

Da kannst du Recht haben

Auf jeden Fall

war er nicht verheiratet

konnte also gar nicht mitreden


ULF:

Bist du doch auch nicht


MICHAEL:

Das ist doch etwas ganz anderes

Ich habe beide sehr gut gekannt

war sogar Trauzeuge

wenn du dich erinnern magst


MICHAEL nimmt einen kräftigen Zug.


ULF:

Und dann der Staatsanwalt

Der Staatsanwalt

eine Frau

Eine Frau

in so einem Prozess

das roch doch direkt nach Verfahrensfehler

In so einem Prozess

eine Frau

da hatte er überhaupt keine Chance

Und wie die ausgesehen hat

richtig verbittert


MICHAEL:

Wahrscheinlich hat sie lang keinen

mehr drin gehabt

die Tante


ULF:

Lesbisch

So wie die aussah

Lesbisch

Lesbierinnen erkenne ich schon auf

hundert Meter Entfernung

Die gehen irgendwie anders


MICHAEL:

Wer weiß

was die zwischen den Beinen

alles so mit sich führen


Beide lachen.

MICHAEL steht auf.


Ich hol mir ein Bier

willst du auch eins?


ULF:

Na klar

bei der staubigen Luft


MICHAEL geht in die Küche.


ULF:

Ich glaube

ich hätte es genauso gemacht


MICHAEL(ruft):

Ein kaltes oder ein warmes ?


ULF:

Kalt natürlich

Also 

wenn meine Inge 

mir das antun würde

ich würde genauso durchdrehen

Ist ja auch ganz normal

steht ja schon in der Bibel


MICHAEL(ruft):

Was steht in der Bibel?


ULF: 

Na das mit der Ehebrecherin 

wurde einfach gesteinigt


MICHAEL kommt mit dem Bier wieder.


MICHAEL(lachend):

Soviel Steine gibt es in ganz Deutschland nicht


ULF:

Da kannst du Recht haben


Beide prosten sich zu.


Also 

wenn das meine Inge machen würde

ich tät‘ schon durchdrehen

Da geht man ein Leben lang schuften

für die Familie

rackert sich ab

und die liebe Ehefrau fängt ein Verhältnis an

Am besten noch mit einem Jüngeren

Weißt du

das habe ich der Inge auch gesagt

wenn sie beispielsweise


er überlegt


sagen wir mal 

mit dir

etwas anfangen würde


MICHAEL macht einen erschrockenen Eindruck, fängt sich aber schnell wieder.


MICHAEL: 

Wieso ausgerechnet ich?


ULF: 

Ist doch nur ein Beispiel

Also nehmen wir einmal an 

du und meine Inge 

ihr hättet etwas miteinander 

Ich meine da kann man ja drüber reden 

nicht?


MICHAEL:

Drüber reden kann man

warum nicht


ULF:

Du und Inge

das wäre sogar verständlich


MICHAEL:

Also ich weiß nicht


ULF:

Warum?

Ihr kennt euch nun einmal lange

und dann ist es halt einmal

Ich betone

einmal

passiert

Nein wirklich

würde ich drüber wegkommen

Vielleicht ein paar Ohrfeigen

ein blaues Auge

im Affekt

aber das wäre es denn auch schon


MICHAEL(ängstlich):

Du würdest dich also mit ihm schlagen?


ULF:

Ach wo

Wie kommst du darauf?

Dir würde ich nichts tun

Sie bekäme ein paar hinter die Ohren


MICHAEL schaut erleichtert.


ULF nimmt einen großen Schluck und fährt dann fort


Aber bei einem Jüngeren

da würde ich ausrasten

da hätte ich kein Verständnis

Allein der Ästhetik wegen

Meine Inge und ein Jüngerer?

Nein danke

Da würde ich rot sehen

Das wäre mehr als eine Beleidigung

mir gegenüber

Ich schufte den ganzen Tag

so dass ich abends 

total müde

ins Bett falle

und sie amüsiert sich mit einem Halbwüchsigen

Da würde ich rot sehen

Mal im Vertrauen

Bei ihren Hängetitten

glaub ich sowieso nicht daran

dass da noch einer spitz werden kann


er lacht.

Man merkt, dass das Thema MICHAEL unangenehm ist.


MICHAEL:

Hast du eine Ahnung 

wann die kommen?


ULF:

Herbert holt ihn um drei ab

Dann will er ihm noch ein wenig

die Stadt zeigen

so zum eingewöhnen

hat sich ja auch viel verändert

in den Jahren


MICHAEL:

Ja Ja

Sechs Jahre sind eine lange Zeit

Sechs Jahre


ULF: 

Lass uns mal wieder an die Arbeit gehen 

damit wir fertig werden


Beide trinken ihr Bier auf "Ex" aus. Dann geht jeder wieder in das Zimmer. 

Nach einer Weile kommt MICHAEL mit einem Tablett Geschirr herein. 


Aus dem Nebenzimmer hört man wieder Staubsaugergeräusche. 

MICHAEL beginnt den Tisch für vier Personen zu decken.


MICHAEL:

Sechs Jahre

Verdammt lange Zeit

Ich würde wahnsinnig werden

Sechs Jahre keine Frau

ganz schön hart

Gut

dass ich nie geheiratet habe

Ehefrauen bringen einen

entweder unter die Erde

oder in den Knast

Das hat schon mein alter Herr gesagt

der hat sich nicht umsonst scheiden lassen

Kann man sich heutzutage

gar nicht mehr leisten

eine Scheidung

Na ja

an mir ist der Kelch 

noch einmal vorbeigegangen

Und das mit Theo

habe ich irgendwie kommen sehen

seine Frau war einfach zu selbstständig

hat auch mehr verdient als er

Das ist nie gut

wenn die Frau mehr verdient

Gibt nur unnötige Reibungspunkte

Theo hat darunter bestimmt gelitten

auch wenn er darüber nie geredet hat

Sie war einfach zu hübsch für ihn

und er zu gutmütig

Die hätte einen starken Mann gebraucht

zu dem sie hätte aufschauen können

Dann wäre das nicht passiert

Wie hatte das der Anwalt

noch so schön in seinem Plädoyer formuliert?

Er war halt der erste

der geschossen hat

wahrscheinlich hätte sie

das Opfer

einen Monat später oder so

genauso gehandelt


Er ist mit dem Eindecken fertig und bringt das leere Tablett in die Küche.

Er kommt mit einem Bier wieder.


MICHAEL setzt sich hin.


MICHAEL:

Keiner von uns hätte ihm das zugetraut

er war einfach nicht der Typ dazu

Ihm fehlte irgendwie der Ehrgeiz

das war schon in der Schule so

Wenn ich da nur an den Sportunterricht

zurückdenke

ein Versager auf der ganzen Linie

Schach spielen konnte er gut

aber sonst

Ich weiß noch

wie er das erste Mal mit dieser Frau

in unserem Stammlokal aufgetaucht ist

ganz schön gestaunt haben wir

Na ja 

neidisch waren wir schon


Er nimmt einen Schluck.


Obwohl

solche Frauen habe ich auch abgezogen

aber nur für eine Nacht

Da bin ich Realist

So was kann man auf die Dauer nicht halten

Die wusste 

wo es langgeht

das ist immer scheiße

Tanzt einem auf der Nase herum

und ehe man sich versieht

steht man als Blödmann da

Nee nee

ohne mich

Aber der Theo

war richtig Feuer und Flamme

hatte endlich was zum Angeben

Ist ja auch acht Jahre gut gegangen

Acht Jahre

was für ein Zeitraum

kann ich überhaupt nicht nachvollziehen

bin halt kein Gewohnheitstier

Drei Monate höchstens

und dann ist gut

wird ja auch sonst langweilig

in jeder Beziehung

Und außerdem entwickeln sich

die meisten Frauen

wenn sie verheiratet sind


Der Staubsauger wird abgeschaltet.


zu richtigen Muttertieren

richtigen Mamas

werden immer runder und runder

und ehe man sich versieht

liegt da so ein Fleischberg neben einem

Nein danke

Zum Glück gibt’s ja den Puff


ULF kommt mit dem Staubsauger ins Wohnzimmer.


ULF:

Was ist mit dem Puff?


MICHAEL:

Nichts

hab nur laut gedacht


ULF:

Gar keine schlechte Idee

Wir legen alle zusammen

und Theo kann endlich wieder

so nach Herzenslust bumsen

Was für ein Geschenk


Man merkt, dass ihn das Thema »aufgeilt«.


Du

muss ich dir unbedingt erzählen 

Ich war letzte Woche wieder schauen 

Eigentlich wollte ich gar nicht 

wollt halt nur schauen 

ob Frischfleisch da ist 

War da so eine Schwarze 

ich sage dir 

glaube Marokkanerin 

Da konnte ich nicht nein sagen 

Die hat es mir besorgt 

mein lieber Schwan 

so etwas hast du bestimmt noch nicht erlebt 

Mit den Füßen 

verstehst du?

Mit den Füßen 

das war der helle Wahn 

Endlich mal eine 

die ihr Geld wert war


Die ganze Zeit reibt er an dem Staubsaugerschlauch, so als ob er onanieren würde. MICHAEL schaut ihn amüsiert dabei zu.


MICHAEL: 

Weißt du eigentlich 

dass zwanzig Prozent alles Männer 

es mit dem Staubsauger treiben


Erst jetzt merkt ULF, was er die ganze Zeit tut.


ULF: 

Idiot 

Du und deine Statistiken


Er rollt das Staubsaugerkabel auf. MICHAEL ist aufgestanden.


MICHAEL: 

Willst du auch noch ein Bier?


ULF: 

Na klar 

bei der trockenen Luft hier


MICHAEL geht in die Küche Bier holen.


ULF:

Würde meine Inge 

mit mir nie machen 

mit den Füßen 

Sie würde irgendwas von Kirche reden 

und sich zur Seite rollen


MICHAEL kommt mit dem Bier wieder.


Weißt du 

wenn Frauen erst einmal über vierzig sind 

kannst du sie vergessen 

Ab vierzig werden sie frigide 

das liegt wohl in der Natur 

Manchmal beneide ich dich richtig

Wenn man noch einmal von vorne anfangen könnte


MICHAEL gibt ihm ein Bier.


MICHAEL:

Na na na

Du wirst doch nicht auf deine Tage

melancholisch werden

Passt nicht zu dir


ULF:

Du hast gut reden


Beide setzen sich.


Betteln muss ich 

Betteln 

verstehst du? 

Bei der eigenen Frau 

Betteln 

Ich habe das Gefühl 

dass sie sich irgendwie rächen will 

Dabei hat sie überhaupt gar keinen Grund 

Da sind die Kinder 

das schöne Haus 

Sie hat alles 

Sie bekommt alles 

Sogar ihren eigenen Wagen hat sie 

Das hat noch lange nicht jede


MICHAEL:

Vielleicht sind es die Wechseljahre


ULF:

Nimm sie auch noch in Schutz

Nein nein

da steckt was anderes dahinter

werde ich schon noch herausbekommen


MICHAEL:

Seit wann machst du dir so viele Gedanken?

Kenne ich gar nicht an dir


ULF zündet sich eine Zigarette an.


ULF:

Ich habe irgendwie das Gefühl

als ob mir die Zeit davonrennt 

Und jetzt 

wo der Theo rauskommt 

Sechs Jahre war er drin 

und die Zeit verging wie im Fluge 

Verstehst du? 

Nichts ist passiert 

als ob man selber dringesessen hätte 

Sechs Jahre 

und man selber hat alles verschlafen


MICHAEL:

Jetzt übertreibst du aber

Du hast ein Zuhause

Familie

was willst du mehr?


ULF:

Das sagt der Richtige

Zweiundvierzig

Ledig

Dickes Bankkonto

Ungebunden

Und du willst mir die Vorzüge

einer Ehe


MICHAEL(unterbricht):

Kannst du dich noch an Babette erinnern?

Die Tochter des Tankstellenbesitzers

Wie wir beide 

sie flachgelegt haben

Zusammen

Weißt du noch?


ULF(mürrisch):

Die hieß nicht Babette

Barbara oder so

Ja 

daran kann ich mich noch gut erinnern 

ihr habt mich nämlich nicht mitgenommen 

Herbert und du


MICHAEL:

Was erzählst du da?

Du warst dabei

und nicht Herbert

Du hast dich doch noch so geziert

weil sie so direkt war

weil sie uns beide

gleichzeitig haben wollte


ULF:

Herbert war dabei

das weiß ich ganz genau

Herbert und du

Ich habe mich um Theo kümmern müssen


MICHAEL:

Was hatte denn der Theo damit zu tun?


ULF:

Als ob du das nicht mehr wüsstest

Ihr habt ihn doch noch bequatscht

dass er dazu kommen soll


MICHAEL:

Ja ja

ich erinnere mich wieder

war das ein Spaß

Wir so mittendrin

im wahrsten Sinne des Wortes

kommt Theo rein

zieht sich die Hose runter

und will mitmachen

Was macht Babette?


ULF:

Barbara


MICHAEL:

Ist doch gleich

Sie haut ihm eine runter

und sagt

Du Schwein


Er versucht »Babette« nachzumachen. Er lacht dabei.


Du Schwein

Wir sind sie feste am rammeln

und sie sagt

Du Schwein 

Du Schwein

war das ein Spaß

Armer Theo

der hat vielleicht geguckt

Du Schwein

sagt sie


MICHAEL bekommt sich nicht mehr ein vor Lachen.

ULF schaut ein wenig ärgerlich.


ULF(ärgerlich):

Ist es jetzt gut

Ist es jetzt gut


MICHAEL(lachend):

Wir waren schon ein großes Team


ULF:

Ich sag es dir

zum letzten Mal

ich war nicht dabei

verstehst du?

Ich war nicht dabei


MICHAEL(ernst):

Ist ja schon gut

hab schon verstanden

Du warst nicht dabei

Waren es halt 

Herbert und ich

ist doch nicht so wichtig

Und wenn du schlechte Laune hast 

lass sie nicht an mir aus 

Okay?


ULF(kleinlaut):

Bin in letzter Zeit

ein wenig gereizt


Er steht auf und geht zum Schrank, öffnet eine Tür (eine große Hausbar wird sichtbar) holt eine Flasche Cognac heraus und schüttet sich ein großes Glas ein.


Willst du auch einen?


MICHAEL: 

Nein danke


ULF geht zum Fenster.

Er trinkt in langsamen Zügen und schaut aus dem Fenster.

Plötzlich nimmt er einen kräftigen Schluck, seine Augen werden größer.


ULF: 

Komm mal her 

Das musst du gesehen haben 

Komm schnell 

bevor es zu spät ist


MICHAEL kommt ans Fenster und schaut hinaus.


ULF: 

Nicht da 

Da musst du hinschauen 


er zeigt mit dem Finger


MICHAEL macht große Augen. 


Wahnsinn nicht? 

Ist das ein Körper? 

Sind das Brüste?

Pass auf 

gleich bückt sie sich wieder 

Das Höschen ist fast durchsichtig

Wahnsinn


MICHAEL:

Wie leichtsinnig


ULF:

Was sagst du?


MICHAEL:

Wie leichtsinnig

so die Fenster zu putzen

Sie wird noch runterfallen


ULF:

Jetzt 

ja jetzt

Komm bück' dich schon

meine Kleine

Ja so ist schön

Hast du das gesehen

Wahnsinn

einfach Wahnsinn


MICHAEL:

Leichtsinnig

einfach leichtsinnig

Mit aller Seelenruhe

putzt sie die Scheiben von Außen

und das im vierten Stock


Seit wann bist du unter die Spanner gegangen?

Ich dachte 

aus dem Alter wären wir raus


er wendet sich ab.


Tu was du nicht lassen kannst

Ich für meinen Teil

werde jetzt den Braten 

in die Röhre schieben

es wäre schön

wenn du mir gleich

beim Zwiebelschneiden helfen könntest


Er geht in die Küche.


ULF:

Ob meine Inge

auch so die Fenster putzt?

Zutrauen würde ich es ihr

Abends die keusche Gattin

und morgens der Vamp

Unser Nachbar grinst mich in letzter Zeit

auch schon immer so komisch an

Ich sollte mir mal einen Tag frei nehmen

im Büro

einfach so gegen zehn Uhr zu Hause auftauchen

einfach so

Zweimal im Monat darf ich noch

das ist doch nicht normal

Sie wird ihren Ausgleich haben

und ich werde dahinter kommen

liebe Inge

darauf kannst du dich verlassen

und dann gnade dir Gott

Die armen Kinder

um die Kinder tut es mir leid


MICHAEL(aus der Küche): 

Kommst du nun endlich 

sonst werden wir nie fertig


ULF: 

Komm ja schon


Er geht zur Hausbar und schüttet sich noch einen Cognac ein. Nachdenklich leert er das Glas in kleinen Zügen. 


Nach einer Weile aus der Küche


MICHAEL: 

Scheiße 

Gottverdammte Scheiße


Er kommt in das Wohnzimmer, um einen Finger hat er ein Papiertaschentuch gewickelt, es ist blutdurchtränkt.


MICHAEL:

Ich habe mich geschnitten

nur weil du mir nicht geholfen hast

Hol mir mal ein Pflaster

aber schnell

Scheiße

Gottverdammte Scheiße

nur weil du dir 

halbnackte Frauen anschauen musst


ULF sucht in den Schubladen nach Pflaster.


Hättest du vielleicht die Güte 

dich ein wenig zu beeilen


ULF sucht weiter im Wohnzimmerschrank.


Wo suchst du denn auch 

da findest du bestimmt nichts 

Dich kann man auch zu nichts gebrauchen


Er geht in das Schlafzimmer. Unterdessen scheint ULF etwas gefunden zu haben. Er holt ein dickes Photoalbum aus einer Schublade.


ULF(murmelnd): 

Sylt 1978


Er setzt sich an den Tisch und blättert fasziniert in dem Buch.


Nach einer Weile kommt MICHAEL wieder aus dem Schlafzimmer.

Um den Finger hat er einen großen Verband gewickelt. In der Tür bleibt er stehen und schaut auf ULF.


MICHAEL:

Schön

Wirklich sehr schön


ULF schreckt hoch.


Ich bin fast am verbluten

und du schaust dir in aller Seelenruhe

Bilder an


ULF:

Komm mal her

so was hast du noch nicht gesehen

Unser lieber Theo

Ja ja

stille Wasser sind tief


Interessiert setzt sich MICHAEL neben ULF.


MICHAEL:

Na dann zeig schon her


ULF:

Na zu viel versprochen?


MICHAEL:

Das grenzt ja schon an Pornographie


er blättert weiter 


Hätte ich dem Theo gar nicht zugetraut


ULF:

Wie kann man nur solche Photos

von der eigenen Frau machen

und sie dann auch noch so offen

herumliegen lassen?

Ich meine

schlecht hat sie ja nicht ausgesehen

die Kleine

Kein einziges Härchen

am Körper

das hat schon was

findest du nicht?


MICHAEL zeigt auf ein Bild.


MICHAEL:

Schau mal

da

Ich meine

ich kann mich täuschen

aber ist das nicht Herbert?


ULF:

Herbert?

Herbert ist viel größer


MICHAEL:

Den mein ich doch gar nicht

der dahinten

das ist Herbert


ULF:

Mensch Michael

Du hast vollkommen Recht

das ist Herbert

Herbert und Theos Frau

hätte ich nie gedacht

wirklich

wäre ich nie draufgekommen


Aus der Küche kommen kleine graue Wolken.


MICHAEL:

Herbert 

die linke Ratte

Macht bei uns einen auf biederen Ehemann

und vergnügt sich heimlich mit rasierten Frauen


ULF:

War er denn schon 1978 verheiratet?


MICHAEL:

Na klar

seit 1976

noch vor dir

Aber Theo war noch nicht verheiratet

ob er sie durch Herbert kennen gelernt hat?


ULF:

Keine Ahnung

er hat mit mir nie darüber gesprochen

Müsstest du eigentlich wissen

Du warst doch Trauzeuge


Die Rauchwolken werden größer.


MICHAEL:

Trauzeuge schon

aber nicht Beichtvater


Beide lachen


Riechst du das auch?


ULF:

Wenn ich gewusst hätte

dass der Herbert und die

dann hätte ich es auch einmal versucht

Bei so einer hätte ich keine Skrupel

auch wenn der Theo mein Freund ist

Sie war halt so ein Typ von Frau

die mehrere braucht

die gar nicht genug bekommen kann

wie die Barbara von der Tankstelle


MICHAEL:

Babette 

nicht Barbara


ULF(nachdenklich):

Frauen 

sind schon die größeren Schweine

Nach Außen 

reden sie von Emanzipation

und im Endeffekt 

wollen sie von uns

doch nur 

flachgelegt werden


er nimmt ein Bild aus dem Album.


Bin mal gespannt

was Herbert dazu sagt

Freu mich jetzt schon 

auf sein blödes Gesicht


MICHAEL:

Riechst du immer noch nichts?


ULF:

Nein

ich rieche nichts


MICHAEL:

Als ob es irgendwo brennen würde


ULF(lachend): 

Vielleicht bei der Nackten von gegenüber


MICHAEL ist aufgestanden und schaut aus dem Fenster. Dann erst dreht er sich um. Jetzt entdeckt er die großen schwarzen Wolken, die aus der Küche kommen.


MICHAEL(entsetzt):

Der Braten

Scheiße

Gottverdammte Scheiße


Er rennt in die Küche.



Stammheim


PERSON: 


MANN, ein verurteilter Wirtschaftsboss 



Das Stück spielt in einer Gefängniszelle im Hochsicherheitstrakt von Stammheim.


1.


Eine schwere Eisentür wird zugeschlagen.


Der MANN telefoniert.


MANN:

Irgendwie

muss ich hier herauskommen

wäre doch gelacht

Hallo 

Hallo


Der MANN sitzt in der Mitte des Raumes und telefoniert mit einem großen Mobiltelefon.


Hallo

Noch nicht einmal

ein Besetztzeichen

Hallo 


Er legt das Telefon beiseite.


Gut

dass meine Gruppe 

nicht in diesen Mist investiert hat


Er sucht in seinem Aktenkoffer nach Papieren.


Irgendwo

muss ich sie haben

Wenn ich mich in der nächsten halben Stunde

nicht bei Frau Schmidt melde

bricht in der Firma ein Chaos aus


Er nimmt das Telefon. 


Hallo 

Hallo 

Vielleicht 

sollte ich den Anbieter wechseln


Hallo 

Hallo


Er presst das Telefon fest an sein Ohr.


Scheiße verdammte 

ich komme hier nicht raus


Er legt das Telefon beiseite. 

Der MANN steht auf und geht zum vergitterten Fenster.


Keine Wolke am Himmel

und trotzdem funktioniert es nicht

Atmosphärische Störungen 

hat der Direktor 

der technischen Abteilung gesagt 

Atmosphärische Störungen 

im einundzwanzigsten Jahrhundert 

dass ich nicht lache


Warum komme ich hier nicht heraus?


Es piept.


Auf dem Weg zum Telefon.


Ich habe es gewusst 

Frau Schmidt 

Sie sind ein Juwel


Er fällt über einen Stuhl.


Frau Schmidt 

bleiben Sie dran 

halten Sie aus


Er rafft sich auf.


Frau Schmidt

ich komme 

nur Geduld


Obwohl er eine Taste drückt, piept das Telefon weiter


Frau Schmidt 

hören Sie mich 

Sagen Sie doch was 

Frau Schmidt 

bitte


Er drückt mehrere Tasten. Das Telefon hört nicht auf zu piepen.


Christel 

bist du es

Christel 

wenn du es bist 

mach auf der Stelle 

die Leitung frei 

Hast du verstanden 

Nein 

warte 

Hörst du 

ruf in der Firma an 

ich brauche sofort die Gebrauchsanweisung 

von diesem scheiß Telefon 

Hallo 

bist du noch dran?


Hallo


Entnervt wirft er das Telefon auf das Bett.


Keiner kommt herein

Ich komme nicht hinaus 


Er stampft mit den Füßen auf den Boden.


Was ist denn das?


Er tritt mehrere Male fest auf und klopft dann die Wände ab.


Diese Idioten

Kein Wunder

das seinerzeit

die Baufirma

Konkurs hat anmelden müssen

Diese Idioten

haben tatsächlich 

Stahlbeton benutzt

Stahlbeton

auf dem Kostenvoranschlag

ja

auf der Rechnung

ja

Himmel das ist normal

Stahlbeton

so etwas 

verbaut man doch nicht

Alle Welt 

schreibt Stahlbeton

auf die Rechnung

bei öffentlichen Ausschreibungen

bei staatlichen Bauten

Vielleicht

zehn Prozent

von der veranschlagten Summe

verbaut man

wenn überhaupt

Und ich habe Bau-Grosse

auch noch ins Geschäft gebracht

dachte wirklich

er wäre einer von uns

Wie man sich täuschen kann

was habe ich den Minister 

beknien müssen

Wahrscheinlich

ist der Pool

den ich dem Minister 

gestiftet habe

auch aus Stahlbeton

Na wunderbar

Grosse

was bist du nur 

für ein Versager 

Schießt sich auch noch eine Kugel in den Kopf

dieser Idiot

Bringt sich wegen Schulden um

War ja auch Atheist

der Grosse

Baut hier den ganzen Kasten

aus Stahlbeton

Manche Menschen

sind wirklich 

nicht zu retten


Er holt aus seiner Pfeifentasche ein wertvolles Stück heraus und stopft sie genüsslich.


Wenigstens 

habe ich sein Haus 

auf Madeira 

aus der Konkursmasse 

retten können 

Der Minister 

hat die Kurzurlaube 

immer genossen


Er zündet ein Streichholz an. Die Flamme flackert.


Zug

Hier herrscht Zug

Ich ruiniere mir doch nicht meine Pfeifen


Das Streichholz erlischt.



2.


Auf dem Boden liegen unzählige Streichhölzer. Der MANN kniet vor einer Steckdose und fuchtelt mit seinem Pfeifenreiniger in derselben herum. Im Mund zitternd eine Zigarette.


MANN:

Kein Saft

Die Heizung 

bullert vor sich hin

Die Klimaanlage

läuft auf vollen Touren

und ist nicht zu regulieren

Aber den Strom 

stellen sie ab

Na wunderbar

einfach wunderbar


Umständlich versucht er das Telefon zu öffnen. Der Akku fällt heraus.

Er nimmt die Pfeifenreiniger und stellt eine Verbindung zwischen Steckdose und Akku her. Funken entstehen.

Er hält die Zigarette an die Funken und zieht kräftig.


Genau so 

muss sie schmecken 

die Zigarette danach

Die letzte Zigarette 

vor der Exekution

Was ist das 

für eine Gesellschaft 

was für ein Staat 

wo ein Staatsanwalt 

selbst Richter

ihren Beruf 

ausüben dürfen 

ohne in der Partei zu sein 

Da stimmt doch was nicht 

Das Ganze 

grenzt an Anarchie 

Die Blicke 

allein die neidischen Blicke 

bei der Offenbarung 

meines offiziellen 

zu versteuernden

Jahreseinkommens 

waren ja eindeutig 

Befangen 

das ganze Gericht 

war befangen


An der alten Zigarette zündet er sich sofort eine neue an.


Um mich 

klein zu kriegen

müssen die sich

schon etwas besseres 

einfallen lassen

Dass ich mehr 

als der Bundeskanzler verdiene

ist eine Selbstverständlichkeit

Nur für den kleinen Neider

von Staatsanwalt

nicht fassbar

Wahrscheinlich ein ganz Linker

dieser Staatsanwalt

vom Richter 

erst gar nicht zu reden

Grüner

oder Kommunist

Wer heutzutage 

ein öffentliches Amt 

bekleidet 

und nicht 

einer Partei angehört 

muss zwangsläufig 

verdächtig sein 

Vielleicht 

ist ihm ein Kontakt 

zur Terroristenszene nachzuweisen 

oder zu einem Geheimdienst 

Alles nur eine Frage 

von Beziehungen 

Ob Christel 

den Prozess verfolgt hat?

Durfte mich ja nicht umdrehen 

wegen der Journalisten 

und aus taktischen Gründen 

Ja 

auf meinen Anwalt 

kann ich mich 

jederzeit verlassen


Er zündet sich an der alten Zigarette eine neue an.


Wahrscheinlich

sitzt Gerhard schon beim Justizminister 

Ich habe ihm Bankvollmachten übertragen 

Die Nacht werde ich überleben 

Eine Nacht ist doch lächerlich 

Im Grunde 

hätte das Strafmaß 

überhaupt nicht höher 

ausfallen können 

hat Gerhard gesagt 

Umso höher das Strafmaß

desto besser stehen die Chancen 

bei der Revision 

Drei Jahre

im Grunde lächerlich

Der Verfahrensfehler 

liegt klar auf der Hand 

Ein politischer Prozess 

mit einem politischen Urteil 

Da wurde mit zweierlei Maß gemessen 

Wer hat denn das Gerichtsgebäude 

seinerzeit 

modernisieren lassen 

Das bin doch ich gewesen

Spätestens Morgen

bin ich draußen

Gerhard

wird mich hier 

rausholen

allein Christel 

könnte es nicht ertragen

Er weiß ja

wie nah sie 

am Wasser gebaut ist


Er zündet sich mit der alten Zigarette eine neue an.


Werde ohnehin 

kein Auge zutun


Eine Nacht 

ist doch wirklich lächerlich


Jubiläum

PERSONEN:



ALTE FRAU


JUNGER MANN


1.ARZT


CHEFARZT Professor


HAUSMEISTER


ZIVILDIENSTLEISTENDE


2.ARZT


KOWALSKI


MUSIKER


RECHEW und WAGNER zwei Schachspieler


ASSISTENZARZT


GRÄFIN Königin der Nacht


GRAF


ALLEINUNTERHALTER


INSASSEN


MINISTERPRÄSIDENT


SEKRETÄR, FOTOGRAFEN, JOURNALISTEN, ANWESENDE





1. Szene


In der Psychiatrie.

Auf dem Flur einer geschlossenen Abteilung. Rechts und links viele Türen, die mit Zahlen gekennzeichnet sind, gegenüber den Türen, Bänke. In der Mitte (nach hinten versetzt) ein übergroßes Fenster, durch das man in einen großen Saal schauen kann. Der Saal wird gerade festlich geschmückt.


Auf der linken Seite sitzen: eine ÄLTERE FRAU und ein JUNGER MANN.


JUNGER MANN:

Das Warten ist das Allerschlimmste

Die Zeit ist zäh 

wie ein Kaugummi

Warten ist sinnlos

Wenn man sich entschließt 

zu warten

ist man hoffnungslos verloren

Das Leben draußen

ist schnell

sehr schnell

Ein Tag mit sinnlosem Warten zugebracht

und man hat den Anschluss verpasst

Wenn man wartet

glaubt man

dass die Zeit nicht vergeht

aber genau das Gegenteil 

ist der Fall

Wenn man aufhört 

zu warten

ist es zu spät 

um noch aufzuspringen

Wer wartet

scheidet aus

und zwar für immer


ALTE FRAU:

Ich warte nicht

habe seit langem 

kein Zeitgefühl mehr

wozu auch

Ich habe nichts und niemanden 

auf den ich warten kann

also warte ich nicht

Beim Arzt muss ich warten

Aber das ist kein richtiges Warten

wenn man es muss

Alles was man muss

ist nicht richtig

ist nicht wahr

Die Wahrheit kann nicht erzwungen werden

Hier muss ich sein

habe eine Vorladung

Da ich hier sein muss

bin ich nicht hier

Nur meine Angst ist hier

Es ist egal 

ob ich hier sitze 

oder woanders

Überall nur ein muss

Der Arzt sagt

ich sollte versuchen 

an mich zu denken


JUNGER MANN:

Wieder dieses sinnlose Warten

und überall 

die gleichen Flure

Diese Flure 

sind wie ein Vakuum

erst durch das Öffnen der Türe

kommt die Zeit wieder

und dann ist es zu spät

Immer 

wenn es längst zu spät ist

wird eine Tür geöffnet

In diesen Fluren 

hängen keine Uhren 

Ich habe in diesen Fluren 

noch nie eine Uhr hängen gesehen 

Überall da 

wo das warten sinnlos ist 

hängen keine Uhren 

Die Ärzte sind schlaue Menschen 

vorbeugende Charaktere 

Ohne Uhr 

auch keine Sinnlosigkeit 

denken sie


ALTE FRAU:

Drüben bereiten sie eine Feier vor

Ich habe das Schild gesehen

Fünfzig Jahre

stand darauf

umrahmt von goldenen Lorbeerblättern

Ein Jubiläum

ein Geburtstag

An Geburtstagen 

geht immer alles drunter und drüber

das wird hier nicht anders sein

Als ich fünfzig Jahre alt wurde

hat sich mein Mann 

extra frei genommen

Der Tagesablauf wurde auf den Kopf gestellt

Zum Frühstück gab es Brötchen

Aber schön war es

Ja es war schön

An meinem fünfzigsten Geburtstag

ist mein Mann 

sehr lieb zu mir gewesen

Geburtstage 

sind außergewöhnliche Tage

sie stellen die Regelmäßigkeit auf den Kopf

Fünfzig Jahre 

stand auf dem Schild

Ein fünfzigjähriges Jubiläum

wird gefeiert

das wirft alle Regelmäßigkeiten 

über den Haufen 

Fünfzig Jahre 

eine schöne Zeit


JUNGER MANN:

Ich kann nur hoffen

dass ich dieses Alter nicht erreiche

Fünfzig Jahre

sinnloses Warten

werde ich nicht aushalten

Zwanzig Jahre ohne Ruth

sinnloses Warten ohne Ruth

kann ich nicht aushalten

Ich bin krank

sagen die Ärzte

weil ich ohne Ruth nichts aushalte

Ohne Ruth ist ja auch alles sinnlos

Zwanzig Jahre

ohne Ruth

nur sinnloses Warten

Und draußen

herrscht eine andere Welt

Eine schnelle Welt

auf die ich nicht mehr aufspringen kann

Ruth hat man mir einfach weggenommen

regelrecht aus der Hand

hat man sie mir gerissen

Die Eltern haben mich nie leiden können

Ihre Eltern waren von Anfang an gegen mich

Es hat mich nicht verwundert

dass sie mich angezeigt haben

Aber dennoch ist es ein Unrecht

dass man sie mir weggenommen hat

Die Welt wollte ich ihr zeigen 

wie ich es ihr versprochen hatte 

Aber wie soll ich ihr die Welt zeigen 

wenn ich mich hier 

jede Woche melden muss?


ALTE FRAU:

Hoffentlich habe ich alles dabei


Sie kramt in ihrer Handtasche und holt mehrere Zettel heraus.


Wenn man nicht alles dabei hat 

muss man wiederkommen 

und sich wieder hinten einreihen 

Man muss so lange wiederkommen 

bis man alles dabei hat

Was "alles" ist 

bestimmen sie 

Für ein Wiederkommen 

reicht meine Angst nicht aus 

dann müssen sie mich wieder holen 

Wenn man alles dabei hat 

muss man nicht wiederkommen


Auf der rechten Seite geht eine Tür auf. ZWEI ÄRZTE in weißen Kitteln treten heraus.


1.ARZT:

Ich habe gehört

dass sie die Jubiläumsrede halten werden


CHEFARZT:

Ja ja

man hat mich gebeten

Auch das gehört dazu

auch das sind Pflichten 

eines Chefarztes

obwohl mir dies nicht sonderlich liegt

Aber was soll man machen

Das Kuratorium

die Direktion

da ist man machtlos

Man ist halt selber nur ein Rädchen

ein kleines Rädchen im Getriebe

Wussten Sie eigentlich

dass wir über 250 Mitarbeiter haben


1. ARZT verneint.


Trösten Sie sich

ich habe es auch nicht gewusst


Er blättert in den Unterlagen.


Exakt 263 Mitarbeiter 

Tapfere Streiter für die Gesundheit 

für das Wohlergehen 

für das Wohl der Gesellschaft 

für das Wohl einer Kranken-Gesellschaft 

Wie finden die Formulierung?


1. ARZT:

Nun von einer kranken Gesellschaft


CHEFARZT (unterbricht):

Nein nein 

das meinte ich nicht

Tapfere Streiter

habe ich in meine Rede eingebaut

Bei


Er blättert in seinen Unterlagen.


263 Mitarbeitern 

dachte ich mir 

es ist besser 

wenn ich von einem Kollektiv spreche 

und niemanden besonders hervorhebe 

Man ist ja doch nicht in der Lage 

an alle zu denken 

wie leicht vergisst man jemanden 

Nicht wahr 

Herr Kollege? 

Das schafft nur böses Blut


er lacht verkrampft. 


Irgendjemanden vergisst man immer 

Nein nein 

darauf lasse ich mich nicht ein 

Es soll ja ein harmonischer Abend werden 

Eine schöne Jubiläumsfeier 

sollte man nicht so leicht 

aufs Spiel setzen 

Die Herren vom Betriebsrat 

werden schon zu genüge 

für Aufregung sorgen


Bei


er blättert wieder in den Unterlagen


263 Mitarbeitern

kann man nicht jedem gerecht werden

Tapfere Streiter

Eine Armee 

im Kampf gegen die Krankheiten

gegen die Geisteskrankheiten

Die Geisteskrankheit

ist die größte Herausforderung unserer Zeit

der wir gemeinsam und entschlossen

entgegentreten müssen

Herr Kollege

falls Sie es in naher Zukunft 

auf meinen Posten

abgesehen haben

würde ich eine Möglichkeit sehen

wie Sie sich 

vor einer größeren Zuhörerschar

profilieren könnten


Beide verlassen durch eine andere Tür den Flur.


JUNGER MANN:

Die weißen Wände 

begleiten einen

ein Leben lang

Aus dem warmen Mutterbauch

herausgepresst 

in den kalten

weißgekachelten Kreißsaal

Schon in dem weißgekachelten Kreißsaal

ist man allein

da nützt das glückliche Lächeln 

der Mutter

nicht viel

Das Lächeln der Hebamme und des Arztes

ist sowieso nur aufgesetzt

Seitdem ich das Leichenschauhaus

kennen gelernt habe

kann mir niemand mehr etwas vormachen

Der Kühlraum 

unterscheidet sich 

in keinster Weise vom Kreißsaal

Der einzige Unterschied besteht darin

dass der Kühlraum im Keller

und der Kreißsaal im Parterre liegt

und dazwischen überall

diese weißen Wände

Überall ein nahtloser Übergang

Die Farbe weiß 

macht einen krank


ALTE FRAU:

Sie werden mich vergessen haben

es wäre nicht das erste Mal

Am Empfang wird man noch freundlich begrüßt

Ein Herzlich Willkommen

kommt ihnen leicht über die Lippen 

Wenn man aber erst eine Nummer hat 

seine Wartenummer 

ist man hoffnungslos verloren 

Mir macht es ja nichts aus 

Ich bin es gewohnt 

vergessen zu werden 

Ich bin eine unscheinbare Person 

hat auch der Herr Professor gesagt 

Ein netter Mensch 

der Herr Professor 

Meinem Mann 

hat das Unscheinbare gefallen 

Wir sind nie weggegangen 

immer Zuhause geblieben 

Zuhause 

habe ich es uns schön gemacht 

Uns fehlte es an nichts 

ein Radio 

der Fernseher 

Ich war halt nicht darauf vorbereitet 

als mein Mann starb 

hat auch der Herr Professor gesagt 

Aber wer ist schon auf den Tod vorbereitet? 

Das bringen sie nie im Fernsehen 

Was hätte ich schon anderes tun sollen?


Auf der anderen Seite geht eine Tür auf.

Der HAUSMEISTER und der ZIVILDIENSTLEISTENDE betreten den Flur. 

Sie haben eine Werkzeugtasche und einen großen Holzkoffer dabei.


HAUSMEISTER: 

Früher war alles aus Holz


Er fischt eine Flasche Bier aus dem Blaumann und nimmt einen großen Schluck.


Früher hießen ja auch alle Willi 

Auf meinen Großbaustellen 

hießen sie alle Willi


er lacht


Ja

in ganz Deutschland 

war ich auf Montage

Karstadt in Köln

Kaufhof in München

habe ich alles mitgebaut

Und dann macht dieser dumme Wichser pleite

weil er den Hals nicht voll kriegen kann

Ja so geht das

Hast du die Maße?


ZDL:

Von der Decke ein Meter sechzig

in einem Abstand von zwei Metern


HAUSMEISTER:

Das ist mal wieder typisch

für die Herren Akademiker

überhaupt keinen Blick fürs Praktische

Anstatt sie uns die Maße von unten angeben

Jetzt muss ich wieder die Leiter holen


er nimmt einen Schluck


Holst du mal die Leiter aus dem Keller


Mürrisch verschwindet der ZDL. Der HAUSMEISTER leert die Bierflasche öffnet die Holzkiste und tauscht die Flasche gegen eine neue aus.

Er öffnet die Flasche mit dem Schraubenzieher.


Früher war alles aus Holz

Da hat man dreißig Jahre 

seine Knochen hingehalten

Bei Wind und Wetter 

geschuftet bis zum Umfallen

Und dann 

macht die Firma pleite

Konkurs

und was bleibt übrig?

Kaputte Knochen

und eine goldene Uhr 

zum Fünfundzwanzigsten

Scheiß Sozis

wären die damals 

nicht an die Macht gekommen

würde ich heute 

noch auf dem Bau arbeiten

Als die Wende kam

war ich schon zu lange draußen

Scheiß Sozis

Dann 

hat mir das Arbeitsamt 

diese Stelle vermittelt

und ich musste auch noch danke sagen

Das Leben ist hart

aber es lehrt ungemein

Na denn Prost


Er nimmt einen kräftigen Schluck. Dann holt er aus der Holzkiste mehrere Bilderrahmen heraus und legt sie den Flur entlang.


Dass ich mal 

in der Klapsmühle lande

hätte ich im Traum 

nicht gedacht

Da drüben 

sitzen auch so zwei arme Schweine

dabei bringt die Behandlung 

überhaupt nichts

Irgendwann 

springen sie ja doch 

vom Dach

oder laufen Amok

Und ich kann den Dreck 

wieder wegmachen

Von wegen im Herbst 

nur Laub kehren

schön wär's

Früher hatte man solchen 

die Spritze gegeben

und alle hatten ihren Frieden

Schon gut

dass ich nicht 

in die Geschlossene muss

da soll es ja drunter und drüber gehen

Nee nee

früher war alles aus Holz


Der ZDL kommt mit der Leiter zurück.


Mit dem Zollstock messen sie die Wand aus und zeichnen Punkte ein.


ALTE FRAU:

Junger Mann

so setzen Sie sich doch

Setzen Sie sich neben mich

Wir könnten uns unterhalten


JUNGER MANN:

Vielleicht sollte ich mir eine Zigarette anzünden


er setzt sich


Kennen Sie das Phänomen mit der Zigarette?

Passen Sie auf

Sie müssen sich vorstellen 

Wir stehen an der Haltestelle 

und warten auf den Bus

Eine Viertelstunde

Zwanzig Minuten

eine halbe Stunde

aber kein Bus weit und breit

obwohl er längst überfällig ist

Sie zünden sich eine Zigarette an

und prompt nach dem zweiten Zug

biegt der Bus um die Ecke

und sie müssen 

die gerade angezündete Zigarette wegwerfen

Das gleiche gilt für das Telefon

Den ganzen Tag klingelt das Telefon nicht

draußen regnet es

und sie nehmen ein Schaumbad

Noch keine fünf Minuten in der Badewanne

schon klingelt das Telefon


ALTE FRAU:

Seit fünfzehn Jahren 

haben wir Telefon

und nie hat es geläutet

obwohl ich jeden Freitag bade

Wer hätte uns auch schon anrufen sollen?

Der einzige der das Telefon benutzt hat

ist mein Mann gewesen

Jeden Morgen 

hat er die Zeitansage angerufen

wegen der Uhr im Wohnzimmer

Die alte Pendeluhr ist immer nachgegangen

jetzt steht sie

Siebzehn Uhr fünfunddreißig 

Die Todeszeit meines Mannes

Ich habe sie angehalten

genau wie in dem Film 

mit dem bekannten Schauspieler


JUNGER MANN:

Als ich Ruth mit nach Hause genommen habe

ist das Telefon unaufhörlich gegangen

Ihre Eltern

müssen sie wissen

Ihre Eltern 

sind von Anfang an

gegen unsere Verbindung gewesen

Ruth und ich

wir wollten heiraten

Ihre Eltern hielten uns für zu jung

und jetzt ist es zu spät


ALTE FRAU:

O.W.Fischer

Ja O.W.Fischer ist es gewesen

der in dem Film 

die Uhr angehalten hat

Mein Mann 

hat ihn nicht leiden können

den O.W.Fischer

der war ihm nicht geheuer

Er hat lieber Krimis geschaut

mein Mann

und diese Ratespiele

wo man ein Auto 

oder eine Flugreise gewinnen kann

Ich habe damals die Uhr angehalten

und die Schlafzimmertür zugemacht

In der ersten Zeit ging es noch

Ich habe im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen

bis der Geruch immer stärker wurde


Sie öffnet die Handtasche und holt ein kleines Fläschchen heraus.


Wollen sie auch einen Schluck?


sie trinkt


Cola mit Jägermeister 

Früher habe ich nur Cola getrunken 

aber Cola ist nicht gut 

für den Magen 

haben sie im Fernsehen gesagt 

Jägermeister 

ist gut für den Magen 

hat mein Mann immer getrunken 

wegen der Magengeschwüre 

Cola mit Jägermeister beruhigt


JUNGER MANN: 

Ich muss einen klaren Kopf behalten 

Das wichtigste hier ist ein klarer Kopf 

sonst ist man hoffnungslos verloren


ALTE FRAU:

Mein Mann hat viel getrunken

aber geschlagen hat er mich nie


sie nimmt einen Schluck


Nein

geschlagen hat er mich nie

Er hat es auch nicht leicht gehabt 

Mit 45 Jahren Invalide 

Frührentner 

Er hat dann angefangen 

aus Streichhölzern 

Häuser zu bauen 

Ja geschickt war er schon 

habe ich auch den Leuten vom Fernsehen gesagt


JUNGER MANN:

In Südfrankreich 

hat man mich dann festgenommen

Eine Unachtsamkeit meinerseits

Das mit dem Doppelzimmer

ist ein großer Fehler 

gewesen

Wenigstens 

habe ich ihr Frankreich 

zeigen können

wenigstens 

etwas von der Welt


ALTE FRAU:

Ja

die Leute vom Fernsehen waren sehr nett

Sie haben mich zum Essen eingeladen

und mir den Friseur bezahlt

weil ich mir Butter ins Haar machen musste

Die Leute vom Fernsehen haben gesagt

dass man die Wirklichkeit 

inszenieren muss

sonst glaubt sie einem niemand

Den ältesten Kittel 

habe ich überziehen müssen

Am Anfang 

habe ich mich ein wenig geniert

Lampenfieber

haben die Leute vom Fernsehen gesagt

Ich hatte Lampenfieber 

wie ein richtiger Filmschauspieler


JUNGER MANN:

Der vom Gericht beauftragte Psychiater

meinte in seinem Gutachten

ich hätte Ruth nur mitgenommen

das Wort "geraubt"

hat er absichtlich ausgeklammert

weil man wohl 

in meinem Fall

nicht von Diebstahl 

sprechen kann

um aufzufallen

Verstehen Sie?

Um aufzufallen

Der Psychiater

der gerichtsmedizinische Gutachter

glaubte allen Ernstes

ich hätte Ruth mitgenommen 

um aufzufallen

Ein vollkommener Blödsinn

Deswegen bin ich hier

und muss warten

würde ich jetzt beispielsweise

einfach durch die Tür III eintreten

ohne anzuklopfen

würden sie mir glatt 

eine Megalomanie unterstellen

Megalomanie ist der Größenwahn

müssen sie wissen

Nein nein

ich muss dieses sinnlose Warten ertragen

Es ist wahrscheinlich 

nur eine Prüfung

Es tut mir leid für Sie

dass Sie mit darunter zu leiden haben

Sie wollen sehen

wie weit man gehen kann

Sie glauben

durch ein Nichtbeachten

meiner Person würde ich erneut auffällig

Auffällig 


er wird lauter bis er schreit


AUFFÄLLIG

AUFFÄLLIG

AUFFÄLLIG


ALTE FRAU (unterbricht):

Seien Sie doch ruhig

sonst müssen wir wiederkommen 

Für mich bedeutet es die Hölle 

wenn ich wiederkommen muss 

Allein die vielen Menschen 

auf der Straße 

und im Bus 

wie sie mich anstarren 

wie sie andauernd auf mich zukommen 

Nehmen sie Rücksicht auf mich 

bitte


er setzt sich wieder


JUNGER MANN:

Es hat sowieso keinen Sinn

Wenn die wollen

dass wir warten

warten wir

Herbstbesuche

Das Stück spielt in Paris in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. 



PERSONEN: 


MADAME  eine achtzigjährige ehemalige deutsche

               Schauspielerin

JOSEPHINE ihr Hausmädchen 

ALFONS ein Briefträger

ZWEI MÄNNER


Ähnlichkeit mit verstorbenen oder lebenden Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.


I. TEIL


1. 


In einer großen Wohnung in Paris.

Ein Fenster und die Tür zu einem Nebenzimmer sind geöffnet. Aus dem Nebenzimmer hört man Geschirrklappern. Am Fenster sitzt in einem Rollstuhl MADAME.


MADAME: 

Die schönsten Tage in Paris sind die Herbsttage

wenn die letzten warmen Sonnenstrahlen 

sich auf die Blätter der Kastanien legen 

Die Leute reden immer vom Frühling 

Vom Frühling in Paris

Alles Quatsch 

Der Herbst ist  die schönste Jahreszeit 

nicht der Frühling


sie wendet sich zur Tür 


Nicht wahr Josephine? 


Aus dem Nebenzimmer 


JOSEPHINE: 

Ja Madame 


MADAME(äfft sie nach): 

Ja Madame

Dabei hört sie gar nicht zu 

hat noch nie zugehört 

Ja Madame 

ist das einzige was sie sagen kann 

Ja Madame 

Manchmal aber auch ganz praktisch 

dass sie nie zuhört 


sie rollt zur Tür


JUJUJUJUJUJUJU 

Haben Sie alles abgedeckt? 


Sie hebt den Arm und dirigiert die Antwort mit 


beide zusammen

Ja Madame


JOSEPHINE: 

Ja Madame 

Ich verstehe es nur nicht 

wo Sie doch Besuch bekommen 


MADAME:

Der Besuch kann mir den Buckel runterrutschen 

Josephine denken Sie nicht so viel 

das schadet Ihrem Teint 

Und tun Sie mir bitte einen Gefallen 

Sagen Sie nicht andauernd 

ja Madame

ich kann es nicht mehr hören 


JOSEPHINE:

Ja Madame

aber was soll ich sonst sagen? 


MADAME:

Wie wäre es mit Gnädiger Frau 

oder 

ehrwürdige Herrschaft


JOSEPHINE:

Aber Madame 

Hier in Paris sagen die Dienstmädchen 

Madame

so habe ich es gelernt 

so ist es üblich


MADAME: 

Josephine? 

Wie lange waren Sie bei den Herrschaften 

vor mir in Stellung?


JOSEPHINE:

Zwei Jahre Madame 

Wieso fragen Sie? 

Ist etwas nicht in Ordnung? 


MADAME(zu sich selbst): 

Ich muss mir gelegentlich die Telefonnummer 

von den Herrschaften geben lassen 

Möchte zu gerne wissen 

wie die das ausgehalten haben?

Den ganzen Tag nur 

Ja Madame


MADAME rollt hinüber zu einer großen Kiste, die mitten im Raum steht. 


MADAME: 

Josephine? 

Hatte ich Ihnen nicht gesagt 

Sie mögen den Projektor in den Keller bringen? 

Wieso steht er immer noch da?


JOSEPHINE kommt herein


JOSEPHINE: 

Aber Madame 

Die Kiste ist zu schwer für mich 

Allein 

die ganzen vielen Filmrollen in den Keller zu bringen 

war schon eine Qual


MADAME: 

Dann fragen Sie einen Ihrer nächtlichen Besuche 

mit denen Sie Ihr Bett 

und meinen Kühlschrank teilen


JOSEPHINE: 

Aber Madame 


MADAME: 

Rufen Sie sie an 

Hopp hopp hopp 

Es wird doch wohl einer darunter sein 

der kein Schlappschwanz ist 

so wie der junge Deutsche 

der mich unbedingt besuchen will 


Sie lacht


JOSEPHINE: 

So dürfen Sie nicht reden 

Jede Woche hat er Ihnen geschrieben 

und das zwei Jahre lang 


sie beginnt zu schwärmen 


Es waren immer solche lieben Briefe 

So warme Worte 

voller Würde und Hochachtung 

Ihnen gegenüber 


MADAME: 

Alles Quatsch 

Ich habe in dem Alter 

besseres zu tun gehabt 

als Briefe zu schreiben 

Übrigens 

woher kennen Sie denn meine Briefe? 

Seit wann können Sie Deutsch?


JOSEPHINE: 

Aber Madame

Sie haben sie mir vorgelesen 

unzählige Male

So wunderschön hat es geklungen 

wenn Sie sie vorgelesen haben 

Ihre Stimme war so schön 

wie in Ihren alten Filmen


MADAME: 

Die Betonung lag wohl gerade auf alt 

wie? 

Genug geschwätzt 

Decken Sie weiter alles ab 

und rufen Sie einen Ihrer Hengste an 

einen Ihrer Deckhengste


Sie lacht und haut JOSEPHINE auf den Hintern. 

Missmutig verlässt JOSEPHINE den Raum. 


zu sich selbst 


Kann mich gar nicht daran erinnern 

ihr die Briefe vorgelesen zu haben 

Sie bestiehlt mich zwar 

aber gelogen hat sie noch nie 


sie rollt durch den Raum 


JUJUJUJUJUJU 


Ich werde alt 

Auch fühlt sich mein Hintern 

nicht mehr so kräftig an 

wie der ihre 

Obwohl ich glaube 

dass ihrer häufiger betatscht wurde 

als der meinige 

Den triebhaften Hang

der Männer zum Dienstpersonal 

werde ich wohl nie begreifen


sie dreht lautstark ein paar Runden durch den Raum.

Plötzlich hält sie inne. 


Die Briefe!

Mein Gott! 

wo sind die Briefe? 

Verlegt werde ich sie haben 

Irgendwo da 

unter dem weißen Stoff 

Josephine? 

Josephine!


sie rollt zur Tür 


Josephine? 

Jetzt treibt sie es schon 

am helllichten Tage 

dabei ist sie noch nicht einmal eine Schönheit 

Die französischen Männer 

sie haben keinen Geschmack 

Aber wenn ich da an mein Berlin denke 

werde ich heute noch rot 

Um diese Uhrzeit 

sind wir erst nach Hause gekommen 


MADAME(nachdenklich): 

Aber das Berlin 

mein Berlin 

gibt es ja nicht mehr 

Es ist vor mir gestorben 

wie vieles andere auch 

Manchmal frage ich mich 

was schlimmer ist 

zu sterben oder übrig zu bleiben 

Alles stirbt weg 

Am Anfang schmerzt er 

der Verlust der Freunde 

Aber wenn dann keiner mehr da ist 

bei dem man klagen oder trösten kann 

was hat es dann noch für einen Sinn 

Alles Quatsch 

das mit der Trauer 

Alles Quatsch und verlogen


Die Briefe mit Tinte geschrieben 

auf hellblauem Papier 

in länglichen Umschlägen 

genügend frankiert 

und per Eilboten 

Der Jugend kann es nicht schnell genug gehen 

Ich habe nie auf diese Briefe geantwortet 

bis auf dieses eine verflixte Mal 

und jetzt kommt er 

auf Grund einer Höflichkeitsfloskel 

Jeder normale Mensch 

würde höflich mit Nein danke antworten 

Er aber schreibt Ich komme 


Er liebt Hölderlin 

genauso wie ich 

Damit hat er mich gekriegt 

Meinen Hölderlin 

hat er dazu benutzt 

um in meine Wohnung zu kommen 

Die Briefe 

jetzt weiß ich wieder wo sie sind


Sie stützt sich auf dem Rollstuhl ab und holt unter ihrem Sitzkissen die Briefe zum Vorschein. 

Sie betrachtet sie für einen Moment, dann legt sie den Stapel wieder zurück. 


Da liegen sie gut 

Da wird sie niemand vermuten 

selbst Josephine wird sie nicht finden


Sie rollt zum Fenster, daneben steht ein Tisch, der mit weißem Leinen abgedeckt ist. Sie zieht das Tuch herunter, ein Grammophon kommt zum Vorschein. Sie macht es, an Enrico Caruso ist zu hören


Schallplattenapparat 

Die Deutschen können sich einfach 

keine schönen Namen 

für schöne Dinge einfallen lassen 

Sie haben einfach keinen Sinn 

für das Schöne 

Grammophon klingt da 

schon ganz anders 

und in Verbindung mit der unsterblichen Stimme von Enrico Caruso 

ist es gar eine Wohltat 


Sie rollt zum Fenster 


Sie schaut hinaus 


Meine Kastanien 

sie hören gerne Musik 

Enrico Caruso ist eine Abwechslung 

zum ewigen gleich bleibenden Straßenlärm 

Es soll jetzt sogar schon Musikapparate geben 

die den Straßenlärm übertönen können 

Die Anschaffung 

eines neuen modernen Grammophons 

wäre eine Überlegung wert

Da würden sie staunen 

meine Bäumchen 

wenn plötzlich 

Enrico lauter wäre als der Straßenlärm 

Vielleicht würden dann auch 

endlich die Kinder aufhören 

mit Stöcken auf die Kastanien zu werfen 

Die unerträgliche Ungeduld der Jugend 

Sie können es nicht abwarten 

dass die Früchte von selber hinunterfallen 

Meine armen Kastanien 

ich kann mit euch mitfühlen 

Ob ich früher auch einmal so war? 

Jetzt bin ich alt 

und es ist egal 


Sie rollt zur Tür hinaus


JUJUJUJUJUJU 

Ich bin alt 



2.


Das Zimmer wie vorher. Zwei Männer heben mit Mühe die Kiste an, die in der Mitte des Raumes steht. 


1.MANN: 

Verdammt schwer die Kiste

Ich war einmal Leichenbestatter 

im 7. Arrondissement aber so etwas 


2.MANN: 

Schwerer als ein Klavier 

Vielleicht die Überreste ihrer Liebhaber 


Beide lachen und müssen die Kiste wieder absetzen. 


2.MANN: 

Wenn Madame nicht im Rollstuhl 

sitzen würde 

ich wäre nicht gekommen 


1.MANN (schwärmerisch): 

Ja Madame 

Alle Filme von ihr habe ich gesehen 

Ein Weltstar 

verstehst du? 

Die sieht unsereins sonst nur im Kino 

Vierzig Jahre Weltstar


2.MANN: 

Und dann so eine Wohnung 

in so einem Bezirk 


1.MANN: 

Das ist schon in Ordnung 

Viele berühmte Leute haben hier gewohnt 

sicher 

die meisten sind weggezogen oder verstorben 

Sie will sicherlich nur ihre Ruhe haben 

das kann ich verstehen 

Und die Wohnung?


So schlecht ist sie auch wieder nicht

Ich finde die Wohnung passt zu ihr 

Schade nur 

dass sie im vierten Stock liegt 

So kommt sie viel zu selten an die frische Luft 


MADAME kommt hereingerollt 


MADAME: 

JUJUJUJUJUJU


Genug gequatscht 

An die Arbeit meine Herren 

Vom Quatschen bekommt man keine Kinder 

und von mir noch nicht einmal ein Bier


Sie haut einem der beiden Männer auf den Hintern. 

Beide schauen verblüfft. 


Schöne pralle Hinterteile 

da steckt Energie drin

Also los jetzt!

Eine Kleinigkeit 

die Kiste für so starke Männer 

Und wenn ihr brav seid 

dürft ihr meine Beine sehen 

Deshalb seid ihr doch nur gekommen 

Meine Beine 

die wolltet ihr sehen 


Sie lacht. 

JOSEPHINE erscheint in der Tür.

Die beiden Männer nehmen die Kiste und tragen sie hinaus


JOSEPHINE: 

Die schönsten Männer von Paris 

nicht wahr Madame?

Solche Männer 

haben Sie mir nicht zugetraut 


MADAME:

Quatsch

Alles Quatsch

Neugierig waren sie 

wie all die anderen auch

das ist alles 

Sie wollten nur einmal sehen 

wie so ein Weltstar lebt 

wo er wohnt 

so ein ehemaliger Weltstar 

wie weit er schon heruntergekommen ist 

Ohne Schminke 

ohne Kostüm 

und ohne Licht 

Nur mal sehen 

wie so eine von nahem aussieht


So genug geredet

schieben Sie mich ins Badezimmer 

Es ist an der Zeit 

dass ich mein Bad nehme


JOSEPHINE rollt MADAME hinaus. 


Nach einer Weile kommen die beiden Männer wieder 


1.MANN: 

Gut, dass es nur eine Kiste gewesen ist 

Eine zweite wäre über meine Kräfte gegangen


2.MANN: 

Hast du es gesehen 

Ein ganzes Museum hat sie da im Keller 


Das muss ein Vermögen wert sein 

Ich muss Josephine gleich einmal fragen

ob Madame noch Verwandte hat 

mit denen sollten wir uns in Verbindung setzen 

Wenn die Alte einmal abkratzt 

und so lange kann das ja nicht mehr dauern 

sollten wir uns um die Entrümpelung kümmern 

das kann uns ein Vermögen einbringen 


1.MANN: 

Das wirst du gefälligst bleiben lassen 

versündige dich nicht 

Wie kannst du so über Madame reden 


2.MANN: 

Du mit deinem Anstand 

mit deiner Moral 

Wie weit hat dich das gebracht 

mein Freund? 

Du bist arbeitslos 


1.MANN: 

Und du 

deine skrupellose Habgier 

hat dich nicht viel weiter gebracht 


2.MANN: 

Ich habe Pech gehabt 

das ist alles 


JOSEPHINE kommt mit ein paar Flaschen Bier herein. 


1.MANN: 

Josephine 

Du bist ein Engel 


Sie gibt beiden eine Flasche Bier. Der 2.MANN nimmt sie in seinen Arm. 


2.MANN: 

Na 

willst du nicht mal heute Abend 

auf ein Gläschen bei mir vorbeikommen? 

Wir hätten bestimmt viel Spaß miteinander 


JOSEPHINE: 

Den Spaß kann ich mir schon vorstellen 

aber ich bin mit Alfons verabredet 

Madame wollte es so 


2.MANN: 

Madame Madame 

Jetzt bestimmt die Alte auch schon dein Privatleben 

Es ist kaum zu glauben 


1.MANN: 

Sei still 

du bist ja nur eifersüchtig 


2.MANN: 

Eifersüchtig? 

Auf Alfons? Auf Alfons den Briefträger? 

Dass ich nicht lache 


1.MANN: 

Josephine 

Hör nicht auf sein Geschwätz 

Seitdem auch er arbeitslos ist 

ist er nicht mehr zu ertragen 

Alfons ist ein netter Kerl 

vielleicht ein wenig sonderbar 

aber wer ist das nicht? 


Er berührt eines der weißen Laken 


Wenn Ihr noch einen Anstreicher braucht 

Ich habe Zeit 

Ich mache das wirklich gerne 


JOSEPHINE(lacht): 

Aber nein 

Hier wird nicht tapeziert 

Das ist nur 

weil Madame Besuch bekommt 


1.MANN: 

Besuch? 


JOSEPHINE: 

Ja 

Jemand aus Deutschland 


1.MANN: 

Und wieso deckt sie alles ab? 


2.MANN: 

weil sie krank ist 

Verstehst du? 

Plemm Plemm


JOSEPHINE: 

Madame hat sicherlich ihre Gründe dafür 


2.MANN: 

Gründe Gründe 

Die Frau ist nicht normal 

Den Bäumen spielt sie Musik vor 

und ihre Möbel deckt sie mit Tüchern ab 

Das ist doch nicht normal 

Vielleicht sollte man sie in ein Heim geben 

Auf jeden Fall sollten wir die Verwandten benachrichtigen 

Wenn Josephine mir die Adresse gibt 

schreibe ich gern ein paar Zeilen 


1.MANN: 

Die Zeilen kann ich mir vorstellen 

Komm jetzt 

Wir müssen bei Madame Ossard noch den Garten machen 


Er nimmt ihn am Arm 


zu JOSEPHINE 


Danke für das Bier 

Und bestell Madame 

einen schönen Gruß von uns 

Bis bald 


Beide verlassen das Zimmer Der 2.MANN taucht noch einmal kurz im Türrahmen auf 


(grinsend

Und du hast heute Abend wirklich keine Zeit? 


JOSEPHINE(böse): 

Nein


Calvados

Das kleinere Übel 

ist immer das des anderen.

Die Welt nennt es Neutralität. 

Und das ist das größere Übel.



PERSONEN:

HÖHERE INSTANZ 

MADAME OSSARD

JUNGER ARBEITER

ALTER ARBEITER

JUNGE FRAU

JUNGER MANN 

ARZT deutscher Offizier

ANNA seine Frau

KARL

RUSSE

TILLY

ALFONS der Briefträger 

ZWEI MÄNNER

ALTER FRANZOSE 

FLÜCHTLINGSFAMILIE


 


Prolog I


BEI EINER HÖHEREN INSTANZ


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Sie haben Menschen das Leben gerettet 

beispielsweise Juden

Deutschen

Franzosen ?


MADAME OSSARD:

Entschuldigen Sie bitte

dass ich unterbreche

aber so stimmt das nicht

Ich möchte nur wissen

woher Sie Ihre Informationen beziehen 

Sicher haben Juden

Deutsche bei mir gewohnt 

auch Araber

sogar Russen

Aber

dass ich Menschen

das Leben gerettet haben soll 

daran kann ich mich

beim besten Willen nicht erinnern

Sie überlegt.

Warten Sie 

Warten Sie

Ich glaube

da war doch was

Ich erinnere mich wieder

Sie lächelt.

Es war kurz nach der Befreiung von Paris

Man feierte auf den Straßen

Es muss so gegen zehn Uhr abends gewesen sein 

Da kam ein junger amerikanischer Soldat zu mir 

Ein Neger

Volltrunken

Ein schöner junger muskulöser Neger

mit einem schönen braunen Hintern

Einen Knabenhintern

so wie ich ihn liebe

Sie verstehen was ich meine?

Nun

er hatte nur einen Schönheitsfehler

Eine Kugel

steckte in diesem Prachtexemplar von Hinterteil 

Er hatte sich mit ein paar Zuhältern gestritten 

wegen einem Mädchen

Das waren noch Zeiten

Ich habe sie ihm rausgeholt

aus diesem hübschen Hintern

Bezahlt hat er in Naturalien

Wenn Sie verstehen

was ich meine


nach einer Weile


Sind Sie noch da?


Aus dem OFF: HÖHERE INSTANZ räuspert sich.


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Wieder zum Thema

Sie behaupten also

keine Juden

sowie Franzosen der Resistance 

bei sich aufgenommen zu haben?


MADAME OSSARD:

Das habe ich nicht gesagt

Was glauben Sie

wer alles bei mir gewohnt hat?

Einmal sogar Chinesen

Bei Madame Ossard

haben sie alle einmal gewohnt

Hauptsache die Francs stimmen 

Verzeihung

stimmten

Aber

das kann mir jetzt auch egal sein

allem Anschein nach

brauche ich hier kein Geld

Oder?

Aber

um auf Ihre Frage zurückzukommen 

Deutsche

Juden

Franzosen

haben bei mir gewohnt

Bei Juden habe ich mir immer

einen Vorschuss geben lassen

Das war handelsüblich

Das wird Ihnen jeder im Viertel bestätigen


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Madame Ossard


MADAME OSSARD: 

Ja?


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Sie haben also beispielsweise Juden

vor den Deutschen Besatzern versteckt?


MADAME OSSARD:

Das können Sie mir nicht anlasten 

Versteckt habe ich niemanden

Aber Ausweise habe ich auch nie verlangt 

Sie wissen ja

wie das ist

Da möchte Mann mal gerne

aber die Ehefrau darf davon nichts wissen 

Sie verstehen?

Eine Stunde später

ist das Zimmer wieder leer


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Es geht hier nicht um verstehen

Es geht um Tatsachen

Haben Sie nun während des Krieges oder davor

Emigranten Unterschlupf gewährt? 

Ja?

Oder nein?


MADAME OSSARD:

Sie tun ja gerade so

als ob ich einer kriminellen Vereinigung angehört hätte

Aber

wenn Sie so fragen

erinnere ich mich wieder

Im Jahre dreiunddreißig

nach der Wahl Hitlers zum Kanzler haben viele Deutsche

bei mir gewohnt

Ob Juden darunter waren

kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen 

Mit den wenigsten hatte ich Kontakt 

Sie verstehen

was ich meine?

Die Deutschen

sind mir in guter Erinnerung geblieben 

Wissen Sie

Deutsche haben es schwer

Deutsche sind Kopfmenschen

Wenn sie etwas nicht verstehen

oder nicht erreichen können 

verzweifeln sie

brechen zusammen

wissen nicht mehr weiter

Sie schreiben einen Abschiedsbrief

und hinterlassen blutige Bettwäsche 

Und wer hatte damals den Ärger?

Ich

Die Polizei musste kommen

Protokolle wurden aufgenommen 

Zimmernachbarn verhört

Und ich konnte das Zimmer

für mindestens einen Tag nicht vermieten

Es ist gar nicht so einfach 

ein Hotel zu führen 

besonders als Frau

Das können Sie mir glauben

Es gab Zeiten


HÖHERE INSTANZ (unterbricht aus dem OFF): 

Madame Ossard

Ich bitte Sie!

Sie sind hier

weil Sie Menschen das Leben gerettet haben 

Verstehen Sie das?


MADAME OSSARD:

Leben

Ein Wort

das hierher nicht passt

Leben

Gelebt habe ich

Mein Hotel auch

Überleben musste ich

kämpfen

immer und immer wieder

Was mag bloß aus meinem Hotel werden 

wo ich doch jetzt hier bin

und Sie mir Fragen stellen

die ich nicht verstehe?

Meine Zimmer

Wenn die nur reden könnten

Meine Zimmer

die müssten Sie befragen


Prolog II


VON DER LEBENDIGKEIT TOTER GEGENSTÄNDE


Heute.

Das Hotelzimmer ist spärlich eingerichtet (Stahlbett, Waschschüssel mit Ständer, Tisch und ein Stuhl). Es hat eine Tür und zwei Fenster, in das eine blinkt eine rote Neonreklame mit der Aufschrift „Cabaret“ hinein. Ein ALTER und ein JUNGER ARBEITER betreten das Zimmer, sie haben Bretter und Werkzeug dabei.


JUNGER ARBEITER:

Meine Frau hat uns Baguettes gemacht 

dazu dein Rotwein

Er schnalzt mit der Zunge.

Wir werden es uns schon gemütlich machen

Der Chef wird das Haus bestimmt nicht betreten 

der ist ja nicht lebensmüde

Na ja

man kann sich in diesen Zeiten

die Arbeit nicht aussuchen

Erzähl mir was über sie


ALTER ARBEITER: 

Wen meinst du?


JUNGER ARBEITER: 

Wen wohl

Du hast sie doch gekannt 

die komische Alte


ALTER ARBEITER:

Du meinst Madame Ossard?

Und ob ich die gekannt habe

Als kleiner Junge habe ich schon für sie gearbeitet 

Mein erstes Geld habe ich bei ihr verdient 

Morgens brachte ich Baguettes und Zeitungen 

Mittags musste ich die schmutzige Wäsche

in die Putzerei bringen

Und abends habe ich den Gästen

die Stadt gezeigt

Du verstehst

was ich meine

Das war übrigens ihr Lieblingssatz

Du verstehst

was ich meine

Madame Ossard war ein feiner Kerl

eine Persönlichkeit

da kannst du alle im Viertel fragen

Bei ihr habe ich einiges gelernt

Sie war meine erste Frau

verführt hat sie mich

im Mangelzimmer

Auf jeden Fall hatte sie Charakter

Und jetzt nagle ich ihr die Fenster zu

Ihr Jungen habt keine Ahnung

Alles müsst ihr abreißen

um dann eure hässlichen Kästen hinzusetzen 

Wenn ich da nur an die Markthallen denke

tut es mir in der Seele weh

Und dieses Hotel?

Nächste Woche wird es abgerissen

Die Eisenkugel donnert drei viermal gegen das alte Gemäuer und Schluss ist

Schutt bleibt übrig

wird in die Vorstadt gefahren.

Vorbei ist es mit Madame Ossards schönem Hotel 

Und dir soll ich etwas erzählen?


Der JUNGE ARBEITER beginnt mit Brettern ein Fenster zu verriegeln.


JUNGER ARBEITER:

Ist ja schon gut

Hilf mir mal lieber

Hoffentlich halten die Bretter

Die Rahmen hier sind total morsch


Er holt ein Brett und bleibt vor dem Waschständer stehen.


Renovieren hätte sie sollen

Ohne Dusche und WC

läuft doch heutzutage gar nichts mehr

Da sind ja sogar noch Blutflecken dran

Wie unhygienisch

Ich kann nicht verstehen

wie man so ein Hotel herunterkommen lassen kann


Der ALTE ARBEITER bringt ihm Hammer und Nägel.


ALTER ARBEITER:

Halt' den Mund

Bringen wir es lieber hinter uns

Es ist und bleibt dennoch eine Schande 

Aber davon verstehst du nichts

Wenn diese Wände erzählen könnten 

Ach

da würdest du ganz anders reden


Er entfernt sich wie in Trance von ihm.


Wenn sie nur erzählen könnten 

was sie gesehen haben


Der JUNGE ARBEITER schaut ihm verdutzt nach.


Plötzlich verschwinden die Wände. Fenster- und Türrahmen bleiben. Der Raum wird nur durch Einrichtungsgegenstände begrenzt.


Der ALTE ARBEITER hat seinen Kittel ausgezogen.


Aus dem OFF: Musik von Astor Piazzolla: CONCERTO PARA QUINTETO).


DAS LIED VOM BANKROTTEUR UND SEINEM MÄDCHEN


ALTER ARBEITER (singt):

Die Straßen staubig

Kinder spielen mit ihren Hunden 

Frauen stehen stolz an Häuserwänden 

Männer stehen an den Theken 

trinken Bier und Calvados

Mädchen

lachen laut

Und ein Wind

geht durch die Straßen 

pfeift um jede Häuserwand 

Warten

hattest du früher nie gekannt 

Warten

Früher

war sie schön die Kleine

lächelte wie eine Sonne

nahm Männer mit nach Haus 

wenn sie liebte

vom Himmel schallte es Applaus 

Ja die Kleine

ihr Herz groß

wie ein Ozean

liebte jeden

und jeden Mann

Jetzt sitzt sie da am Küchentisch 

wartet auf ihn 

den Bankrotteur der großen Welt 

Aber er

hatte nur versprochen 

und nichts gehalten 

Alt ist die Kleine 

Vom Warten

sind die Ellenbogen rau

Früher

blieb er 

ein oder zwei Nächte nur weg

Dann kam er eines Tages

brachte Fleisch und Blumen

manchmal sogar ein Halstuch aus Seide 

Sie hatte nur gelächelt

ihm ein Bad gemacht

und den Rücken massiert

dem Bankrotteur

Er träumte von der großen Welt

 sie liebte ihre kleine Welt 

Dennoch war es ihr Mann 

Es gab Abende

an denen sie sehr stolz auf ihn war

Jetzt sind ihre Augen trübe

und ihr Mund schmeckt nach Tabak 

Warten

Der Aschenbecher beweist es

Auf den Straßen ist es staubig

und die Kinder spielen längst nicht mehr 

Die Männer stehen an der Theke

trinken Calvados und Bier

Draußen stehen die Frauen

und sie lächeln stolz

Auch die Kleine ist darunter

und sie wartet

wartet

wartet


Die Musik verklingt.


ALTER ARBEITER:

So hat sie damals angefangen

als er nicht mehr kam

Zehn Jahre

ist sie bei jedem Wetter auf der Straße gestanden 

hat ihr Geld verdient

ehrlich

und nie zu viel genommen

bis sie es sich hat leisten können

das kleine Hotel

Es ist schon seltsam

Das kleine Hotel

ist soviel älter

als Madame

aber man bringt es nur mit ihr in Verbindung 

so als ob es eine Zeit

vor Madame

nie gegeben hätte

Der Besitzer vor ihr

ist niemandem im Viertel

in Erinnerung geblieben

Passte wohl auch nicht in diese Gegend 

zu diesen Menschen

in diese Zeit

Die Zeit war nicht immer schön

aber irgendwie hat sie es immer geschafft 

ihr kleines Hotel zu halten

Vielen Menschen war es eine Zuflucht Heimstätte

Anlaufpunkt

Briefadresse

Liebesnest


1. Szene


VOM SCHWEISSGERUCH DER BETTMATRATZEN


Sommer 1935.

In dem Hotelzimmer.

Die JUNGE FRAU und der JUNGE MANN liegen im Bett. Ihre Gesichter und Haare sind naß von Schweiß; sie haben sich gerade geliebt. Der JUNGE MANN schüttet Calvados in zwei große Gläser.

Die JUNGE FRAU zündet zwei Zigaretten an.


JUNGER MANN:

Für Cognac hat es leider nicht mehr gereicht


JUNGE FRAU:

Aber

das macht doch nichts 

Hier


Sie reicht ihm die Zigarette. Er gibt ihr ein Glas.


JUNGER MANN:

Danke

Und dir macht das wirklich nichts aus 

Ich meine hier

Dieses kleine Hotel

Aber momentan kann


Sie küsst ihn.


JUNGE FRAU:

Willst du nicht mir mir anstoßen?


Beide stoßen miteinander an.

Dann dreht er sich zur Seite und nimmt einen großen Schluck.


JUNGER MANN:

Es ist eine Schande

dass wir nach Paris fahren müssen 

um uns zu lieben

Und dann in so einem Loch

Hast du gesehen

wie uns die Wirtin angeschaut hat? 

Die hat sofort gemerkt

das wir nicht verheiratet sind


Sie küsst ihn auf den Hals.


JUNGE FRAU (lächelnd): 

Du hast wohl vergessen 

wo wir sind

Paris

Stadt der Liebe

Stadt der Illusion

Hier ist es egal

ob wir verheiratet sind oder nicht

Hier zählt das 

was ist

was man tut 

Also komm


Sie dreht ihn zu sich hin.


Denk nicht soviel nach 

Hm

Tu mir den Gefallen 

nicht jetzt


JUNGER MANN:

Wenn das so einfach wäre

Ich kann doch die Tatsachen

nicht einfach ignorieren

Und eine Tatsache zum Beispiel ist

dass dein Vater

uns verbietet

zu heiraten

und wir uns in schmierigen Pensionen

treffen müssen

Vielleicht sollte dein Herr Vater

eine Anzeige in die Zeitung setzen

Herr Professor Goldmann gibt bekannt

dass seine Tochter nur für Akademiker zu haben ist 

Anfragen bitte unter dem Chiffre


JUNGE FRAU:

Du weißt ganz genau

dass dies nicht der Grund ist

Er hat viel mehr Sorge um dich

sieht die Schwierigkeiten einer Mischehe 

Ihm wäre es sogar am liebsten

ich würde in Paris bleiben


Sie zieht sich etwas über und steht auf.


Vorgestern

haben sie unseren Wagen konfisziert 

mitsamt dem Fahrer

Die Bankkonten sind gesperrt

Papa meint

dass sei erst der Anfang

Die Kollegen schneiden ihn auch schon 

Seit gestern

geht er nicht mehr in die Universität 

Die Demütigung

will er sich ersparen

Ich kann ihn gut verstehen


JUNGER MANN:

Unsinn

alles Unsinn

Dir und deinem Vater

wird überhaupt nichts passieren

Das Deutsche Volk braucht deinen Vater 

Er ist Wissenschaftler

in der ganzen Welt anerkannt 


JUNGE FRAU:

Nur nicht in Deutschland


JUNGER MANN:

Ich gebe ja zu

dass mit dem Wagen

und den Bankkonten ist nicht richtig 

Aber wir sind erst am Anfang

da muss man kollektiv handeln

um schnell Veränderungen herbeizuschaffen 

Du wirst sehen

nichts wird so heiß gegessen

wie es gekocht wird


JUNGE FRAU:

Du mit deinen Sprichwörtern

Vater hat ganz recht mit seinen Bemerkungen


Er richtet sich auf.


JUNGER MANN (zynisch):

Zu welchen Bemerkungen

lässt sich dein Herr Vater denn hinreißen?


Sie lächelt ein wenig.


Hm

Sag schon


Sie geht auf das Bett zu.


Nun

er sagt

für dich wird sich schon etwas finden

und wenn du nur auf das Oktoberfest gehst 

und dein Gehirn ausstellen lässt

Hier ist zu sehen

das kleinste Stückchen Verstand

von ganz München

Aber

arisch


Er schmeißt ihr ein Kissen an den Kopf.

Sie lässt sich auf das Bett fallen. Beide müssen lachen.

Mata Hari - eine Nacht - ein Leben


Für M.B.



PERSONEN: 


MATA HARI Tänzerin vermeintliche Spionin


CONFERENCIER

DEUTSCHER

FRANZOSE

OFFIZIER die vier männlichen Personen können von Mata Hari oder einem weiteren Schauspieler dargestellt werden.


FLÜSTERNDE STIMME aus dem OFF

NONNENCHOR aus dem OFF


Prolog


Dunkelheit


Aus dem OFF: Leise Choralmusik und das Tapsen von Ratten


Der Mond wirft sein Licht durch ein Gefängnisfenster. Schatten der Fensterstangen liegen auf einer Wand.

Auf dem Boden ein großer rechteckiger Kasten und ein runder Klumpen, in den langsam Bewegung kommt.


MATA HARI: 

Was für eine Kälte

In diesem feuchten Loch

Da können die Mauern

noch so dick sein


MATA HARI dreht die Flamme einer Gaslampe höhe, stellt sie auf einen großen Überseekoffer und reibt sich die Hände gegen die Kälte.

Sie kniet in einem Militärmantel auf dem Boden und lauscht der Choralmusik


Ein Gefängnis

das von Nonnen bewacht wird

Was für Zeiten!


Aus dem Off: Die Choralmusik verstummt. Glocken läuten.


MATA HARI:

Shit

Merde

Scheiße

Kein gottverdammtes Gebet

fällt mir ein


Sie beginnt zu singen. Mata Hari singt ein altes holländisches Kinderlied


MATA HARI:

Wenn Gott

ein Holländer ist

lässt er bestimmt mit sich handeln

Ein Kinderlied 

ihm zu Ehren

das müsste ihm doch gefallen

In Leeuwarden

gab es soviel zu entdecken

Ein eigenes Universum

Als Kind wollte ich nicht weg

Mama

habe ich gesagt

wir bleiben für immer zusammen

Opa hat draußen

auf der Bank gesessen

ohne Zähne

eine Pfeife geraucht

Vater war Hutmacher und hat an der Börse spekuliert

Auf Java soll er gewesen sein

hat mir kleine Elfenbeinfiguren mitgebracht

und mich 

Auge des Tages genannt

Was so viel wie Sonne bedeutet

Meine Sonne

hat er immer zu mir gesagt

Meine Mutter

hatte javanische Wurzeln

Auge des Tages

Mata Hari


Sie steht auf und starrt in unendliche Ferne.


Mata Hari summt ein französisches Lied


BÜHNE DUNKEL



1. Szene


Dunkelheit


Aus dem OFF: Meeresrauschen


Der Mond, der sich über das Schattenkreuz an der Wand gelegt hat, leuchtet blass gelb.


Der Raum, eine Gefängniszelle, ist karg eingerichtet und kennt keine Farben außer grau. 

Eine Pritsche, ein Tisch, ein Schemel, ein Krug mit Wasser, ein Eimer für die Notdurft und ein großer Überseekoffer mit Aufklebern aus aller Welt.

Im Hintergrund hängen Laken an der Leine.

Auf dem Tisch liegt ein Stapel graues Papier und graue Stifte.


MATA HARI kniet immer noch im grauen Militärmantel auf dem Boden und hält sich die Augen zu.

Sie atmet tief ein.


Auf den Laken erscheint ein Meer in Bewegung.


MATA HARI:

Seeluft

Salzig

wie man sie nur aus Holland kennt

Wir hatten immer Strandkörbe

Blau weiß gestrichen

mit roten Sitzen

dafür hat Papa gesorgt

Wahrscheinlich

werden sie immer noch da stehen

mit Schildern

auf denen RESERVIERT steht

Kleine weiße Schirme

haben wir gegen die Sonne gehalten

und sie in unseren Händen gedreht

bis alles geglitzert hat

als läge Goldstaub 

in der Luft


MATA HARI steht auf, nimmt die Hände von den Augen und greift mit in die Manteltaschen. Mit vollen Händen verstreut sie Sand, der im Licht golden schimmert. 

Sie stülpt die Innentaschen aus und klopft die letzten Sandkörner ab.

MATA HARI dreht sich dabei gegen dem Uhrzeiger im Kreis und verteilt den Sand spiralförmig um sich herum. Sie dreht sich immer schneller, bis sie auf dem Boden zur Ruhe kommt.

Aus dem Sand formt sie eine Burg.


MATA HARI:

Unbeschwerte Kindheit

Sommerduft

eingepackt in ein leuchtendes Blau

mit goldenem Strand

Weiße Schaumkronen 

auf dem Wasser

und eine warme Luft

die einen zärtlich gestreichelt hat

Wenn man in einer Muschel

das Meeresrauschen einfangen kann

dann kann man auch

das Unbeschwertsein einpacken

es mitnehmen

ins Leben 


Sie klopft sich den Sand aus den Händen und überlegt.


Was soll ich aufschreiben?

Wenn mir schon kein Gebet einfällt

Schreiben Sie die Wahrheit

das befreit

Für wen ist es eine Befreiung?

Für mich sicher nicht

In jedem Wort mit „heit“ am Ende

steckt Lüge 

Absicht


Was für eine Schönheit!


Ins Bett will der Bube 

sonst nichts


Freiheit

schreien sie und stürmen die Barrikaden

danach rollen die Köpfe


Name?


Margaretha Geertruida Zelle

Da haben sie alle gestaunt

die hatten sie nicht in ihren Akten


Staatsbürgerschaft?


Da habe ich geschwiegen

Was hätte ich sagen sollen?

Holländisch?

Französisch?

Deutsch?

Für meinen Vater

war ich immer die Prinzessin aus Java

Meine Papiere

haben sie studiert

Sie gegen das Licht gehalten

als ob zwischen den Papierschichten

ein Geheimnis zu lüften wäre


Das Schweigen

verwirrt sie

die Stille

ist für sie unerträglich

Schweigen

ist Macht

Da werden die Herren

unruhig auf ihren Sitzen

reiben ihre pickligen Ärsche

auf harten Bänken

Sollen sie doch

meine Tagebücher studieren

sie sind voll mit Zeitungsausschnitten

und Bildern

Das bin ich

mehr muss man von mir

nicht wissen

Haben sie etwa geglaubt

ich wäre nackt in den Gerichtssaal gesprungen

Nein

den Gefallen habe ich ihnen nicht getan

Das dunkle Kostüm 

habe ich angezogen

Vom Hals

bis zu den Fesseln

dunkles Tuch


sie lacht


An ihren großen Augen

habe ich gleich erkannt

dass sie ganz andere Bilder

von mir verschlungen haben

Mit bebenden Kinn und Nase

mit einem See im Mund

der sich an den Seiten

wie ein Wasserfall

seinen Weg gesucht hat

haben sie mich 

aus dem Fotopapier

in ihre verwegenen

feuchten Träume gesaugt

Kannibalen der Lüste

mit Allmachtsfantasien

die sie an ihren Dienstmädchen

Untergebenen 

auf staubigen Dachböden

oder feuchten Kellern ausleben

Die mit dem Gehstock

und den hohen Hüten

gehen in „das Haus“

Jede noch so kleine Stadt

hat so ein Haus

Geführt von einer Kriegerwitwe

so wird erzählt

die ihre unzähligen Nichten 

durchbringen muss

die alle musisch 

sehr begabt


sie lacht


Also 

was soll ich schreiben?


Mata Hari

Tänzerin

in ganz Europa 

berühmt

gefeiert 

verehrt


Vier Zahlen 

sollen für das Erste reichen


MATA HARI nimmt ein Blatt Papier und einen Stift vom Tisch.

Sie legt sich auf den Bauch und faltet aus dem Papier ein Schiffchen. Dabei sind ihre Beine angewinkelt und zappeln wie bei einem Kind.

Sie schreibt vier Zahlen auf das Schiffchen und betrachtet es lächelnd.

Dann steckt sie es in die Spitze der Sandburg.  Die Zahl „1897“  ist zu lesen.


MATA HARI:

Achtzehn war ich

als ich auf das Inserat

in einer Den Haager Zeitung 

geantwortet habe

Vater war in Amsterdam

um sein Geschäft zu retten

Mutter seit drei Jahren 

unter der Erde

Ich hatte mir fest vorgenommen

Kindergärtnerin zu werden

Aber der Leiter der Schule

hatte anderes mit mir vor

Natürlich

hat er das anders dargestellt

So viel geredet

dass niemand mehr wusste

wer Verführer

wer Opfer

Auf die Bibel

hat er geschworen

und nicht unerwähnt gelassen

wer letztendlich 

für die Vertreibung aus dem Paradies

verantwortlich gewesen ist

Da ist das Inserat

gerade recht gekommen

Nicht viel geschrieben

mein Foto sprechen lassen

Ein paar Tage später

die Antwort

Eine Seite Brief

und ein Foto

Ein Mann

in Uniform

Älter 

hat er ausgesehen

viel älter

als mein Vater

Der Onkel

bei dem ich gewohnt habe

hat mich nicht gehen lassen

So ist der Mann auf dem Foto

zu mir gekommen

hat sich vorgestellt

und um meine Hand angehalten

Gekauft

wie gesehen


Sie lacht.


Gekauft

wie gesehen

hätte Papa gesagt

Bestimmt ist Geld geflossen

So habe letztendlich ich

Papa das Geschäft gerettet

In die Richtung

wohin das Geld fließt

dahin dreht sich auch die Welt


Sie steht auf, klopft den Sand vom Mantel.


Leider

ist der Scheitelpunkt einer Glückswelle

schnell erreicht

Zum Glück

ist Geld da gewesen

und ich habe die rasante Abfahrt

mit Einkäufen versüsst

Eine Frau

hat nie genug anzuziehen

muss sie doch

in so viele Rollen schlüpfen

Von der Hure

bis zur Mutter

über die Hausfrau

Beraterin

Schmuckstück zum Zeigen

und und und 


Sie legt sich im Militärmantel rücklings auf die Pritsche und starrt an die Decke.


Aus dem OFF: Meeresrauschen und von weitem das Signalhorn eines Schiffes.


So bin ich mit dem Schiff 

Richtung Java

18 Monate verheiratet

mit einem Mann

der mein Vater hätte sein können

Das Unbeschwertsein

eingepackt in Tüll und Seide

Den Vater

eingetauscht 

gegen einen Offizier

Rudolph MacLoud

sein Name

mit schottischen Vorfahren

aber durch und durch Holländer

gezeichnet durch seinen Dienst

in der Kolonialarmee

Mit der Überfahrt nach Ostindien

hat er wohl geglaubt

meine Kauflust einzudämmen 


sie lacht


Wie eine Schlange bewegt sich MATA HARI lasziv auf dem Bett und befreit sich langsam  von dem grauen Militärmantel.

Mit einer Hand öffnet sie lässig den Überseekoffer, aus dem Licht strömt.

Der blasse Mond verwandelt sich schleichend in eine gleißende Sonne.


Eine seltsame Gesellschaft

hatte sich da an Bord eingefunden

Frauen

deren Haut 

blass

wie junger Käse

aber falsch gelagert

ausgetrocknet

mit Falten und Rissen

Wie eine Blume

die nicht aufgeht

die einfach verkümmert

ohne auch nur einem Insekt

die Blütenstempel zu zeigen

Frauen

ohne Schatten

weil der längst von ihnen Besitz genommen hat

Seelenlose Gestalten

mit einem Ziel

auf irgendeiner der unzähligen Plantagen

das Zeitliche zu segnen


MATA HARI dreht sich zur Seite und lässt den grauen Militärmantel langsam zu Boden gleiten. Darunter trägt sie einen eleganten weißen Badeanzug. 


Ich habe bis heute nicht verstanden

warum sie ihre Männer begleitet haben

Nur um auf Java zu sterben?

Dabei ist Java

soviel mehr

die Insel Avalon

der Zauberer Merlin

die Lotusesser

Legenden

zwischen Spinnennetz

und Nebel


Wahrscheinlich

gibt es nur zwei Sorten

von Menschen

Die einen

die Angst vor dem Ungewissen

dem Fremden haben

Die anderen

die gespannt sind

und sich auf das Neue 

Unbekannte freuen


MATA HARI reibt sich ein. Sie genießt es, ihren Körper zu berühren.


Den ganzen Tag Sonne

kann es etwas Schöneres geben?

Während die Frauen unter Deck

sich die Seele 

aus dem Leib gekotzt haben

sind ihre Männer oben 

an der frischen Seeluft

auf und ab gegangen

Ach was

wie räudige Hunde 

sind sie herumgestreunt

haben mich nicht 

aus den Augen lassen

Jede meiner Bewegung

haben sie genossen

vom Kapitän bis zum Küchenjungen

Der erste Sonnentag an Deck

auf dem Weg nach Java

ist letztendlich mein Debüt gewesen

Ohne es zu wissen

war es mein erster Auftritt

Das Deck war die Bühne

und die Sonne der Scheinwerfer


Aus dem OFF: Nachtvogelgeschrei


MATA HARI richtet sich auf und hält sich die Hand vor die Stirn


MATA HARI:

Wie schön das Meer glitzert

als hätte jemand 

den Schleier 

einer orientalischen Prinzessin ausgerollt

Dort drüben

das muss Java sein



BÜHNE DUNKEL

Sternsinger

PERSONEN: 



ERSTER in allen Bereichen zur Androgynie 

neigender Mensch


ZWEITER in allen Bereichen zur Androgynie 

neigender Mensch


Das Stück spielt in der heutigen Zeit


PROLOG


Zwei vermummte Gestalten drehen Achten. 

Ein Schneesturm weht ihnen ins Gesicht. 

Aus dem OFF heult ein Sturm auf.


ERSTER:

Ich habe das Gefühl

wir bewegen uns im Kreis


ZWEITER:

Keine Angst

es sind Achten


ERSTER:

Im Grunde

dasselbe

Zwei Kreise

die miteinander 

verbunden sind


ZWEITER:

Mathematiker?


ERSTER:

Wir brauchen einen Unterschlupf

Jetzt 

wo uns der Heiland geboren wird


ZWEITER:

Dem Himmel

scheint es einen Dreck zu scheren

Zum Glück

sind die heutigen Dattel-

und Feigenbäume

winterhart


ERSTER:

Man sieht die Hand

vor Augen nicht

Was ist das?


ZWEITER:

Wo?


ERSTER:

Da


Er zeigt mit dem Finger nach oben.


ZWEITER:

Und?


ERSTER:

Vielleicht

sollten wir dem Stern folgen


ZWEITER:

So hell 

leuchtet kein Stern

Es wird ein Satellit sein


ERSTER:

Wir können 

es ja auf einen Versuch ankommen lassen

Immerhin

gibt es da 

diese Prophezeiung 


ZWEITER:

Prophezeiung

hin oder her

Wer glaubt denn 

an so was?

Alte Weiber


ERSTER (unterbricht):

Und Jungfrauen


Beide lachen.


ZWEITER:

Ich glaube da

vorne ist was


ERSTER:

Wo?


ZWEITER:

Da


ERSTER:

Ein Zelt

Das ist unsere Rettung


ZWEITER:

Ich meinte 

da


ERSTER:

Tiere

da stehen Tiere

mitten auf dem Gehweg


ZWEITER:

Das ist doch eine Kuh


ERSTER:

Eher 

ein Ochse


ZWEITER:

Na klar

und das andere

ist ein Esel

wie in der Prophezeiung


ERSTER:

Unsinn

Das ist ein Bär

und der andere ein Bulle

Wir sind an der Börse gelandet


ZWEITER:

Unsinn

das ist ein Esel

ein dicker Esel eben

Vielleicht

ist er schwanger 

und gebärt auch ein Baby


ERSTER:

Erstens

ist der Esel

ein er

und zweitens

gebärt ein Esel

kein Kind

sondern 

ein Fohlen


ZWEITER:

Davon steht nichts

in der Prophezeiung


ERSTER:

Das Zelt 

steht offen

Es scheint leer


ZWEITER:

An diesen Tagen

ist jeder bei seiner Familie


ERSTER:

Occupy-Bewegung

Attac

Und diese komischen Masken

Ich kenn 

mich nicht mehr aus


ZWEITER:

Hauptsache 

wir haben ein Dach

über dem Kopf

Ist das Kind

erst einmal da

wird es die Welt 

verändern


ERSTER:

Das befürchte ich auch

ZWEITER:

Wir sollten die Rollen tauschen


Der Schneesturm lässt die beiden verschwinden.


1. SZENE: SCHWARZ - WEISS


Eine Tür wird zugeschlagen.

Zwei Könige stehen auf der Bühne, der ERSTE  

schwarz, der ZWEITE weiß geschminkt. 

Der ERSTE hält an einem Stil den Stern in der 

Hand, in der anderen einen Koffer, der ZWEITE 

schleppt zwei Koffer.


ERSTER:

Wieder nichts


ZWEITER:

Hast du 

etwas anderes erwartet?


ERSTER:

Knapp

war es schon


ZWEITER:

Was heißt 

hier knapp?

Die Tür

haben sie uns

vor der Nase

zugeschlagen


ERSTER:

Ich habe 

ihre Augen gesehen

Müde

traurige Augen


ZWEITER:

Nichts 

hast du gesehen

Einen Spalt nur

war die Tür offen

Die Kette

am Schloss


ERSTER:

Gefangen

im eigenen Ich

Genau so

haben die Augen

ausgesehen


ZWEITER:

Da war nichts zu sehen

ging 

alles viel zu schnell


ERSTER:

Ich habe die Traurigkeit

gesehen

Diese Leere

diese Müdigkeit

Das ist kein

Zuckerschlecken

Da hat einer

lange

auf den Stern

gewartet


ZWEITER:

Die Tür

haben sie uns 

zugeschlagen


ERSTER:

Immerhin sind wir es

die die frohe Botschaft bringen


ZWEITER:

Da bin ich mir 

nicht so sicher


ERSTER:

Vom Himmel hoch

da komm ich her


ZWEITER:

Falscher Text


ERSTER (singt):

Wir kommen daher aus dem Morgenland


ZWEITER (unterbricht):

Und das ist unser Problem


ERSTER:

Wo sollen wir sonst her kommen?


ZWEITER:

Na von hier

Die Frohe Botschaft

von Nachbar zu Nachbar

Das wollen die Leute hören

Morgenland

dass klingt nach

arabischem Frühling

nach politischer Verfolgung

nach Bürgerkrieg

nach Flucht

nach riesigen Flüchtlingslagern

nach Flüchtlingsstrom


ERSTER:

Du meinst

wir sind hier

nicht erwünscht?


ZWEITER:

Doch doch

Als Erntehelfer

oder Scheißewegräumer

Giftspritzer

und Entsorger


ERSTER:

Also 

brauchen sie uns


ZWEITER:

Das 

würden sie nie zugeben

Es irritiert sie

wenn unsereins

Arzt oder Jurist wird

Sie empfinden das

als Undankbar


ERSTER:

Aber 

sie profitieren 

doch davon

Wir beleben

Handel

und Wirtschaft

Wissenschaft

und 

Kunst


ZWEITER:

Ich sage nur

Morgenland

Das heißt

Beschneidung

Burka

Klitorisverstümmelung

Zwangsheirat

Hände ab

Kopf ab


ERSTER:

Sie halten uns

für die Speerspitze?


ZWEITER (lachend):

Nein

für die

die ihnen 

die Luft rauben

Ihnen die Haare

vom Kopf fressen

Sie haben Angst

nennen es

Überfremdung

Die gleichen Leute

die hier 

die Mauer abgebaut haben

bauen sie 

wo anders wieder auf


ERSTER:

Ich bin gerne hier

Wir haben eine Botschaft


ZWEITER:

Welche?


ERSTER:

Ja

das jeder 

hier herkommen kann


Der ZWEITER kann sich vor Lachen nicht mehr 

einkriegen.


ZWEITER:

Wegstecken 

werden sie uns nicht

Sie haben zu viel 

mit den Grenzen zu tun

Tag für Tag

werden die Mauern höher

mit rasierscharfem Stacheldraht obenauf


ERSTER:

Wir tragen Turban

und einer von uns

ist schwarz


ZWEITER:

Schwarz 

wie die Wichse 

der Springerstiefel


ERSTER (singend):

Wir kommen daher

aus dem Morgenland


ZWEITER (unterbricht):

Morgenland

ist abgebrannt

Dass wir überlebt haben

ärgert sie am meisten

Das geht nicht

mit rechten Dingen zu

bei den schrecklichen Bildern

im Fernsehen

Dass so viele

überlebt haben

Sinkt ein Flüchtlingsschiff

vor ihren Küsten

glauben sie den Zahlen nicht

halten sie für übertrieben

Kommen wir ins Land

misstrauen sie den Zahlen

halten sie für untertrieben


ERSTER:

Das ergibt überhaupt keinen Sinn


ZWEITER:

Doch doch

Wir sind ohnehin 

unglaubwürdig geworden


ERSTER:

Nur

weil sie uns die Tür 

vor der Nase zuschlagen?


ZWEITER:

Schau uns doch mal an


ERSTER:

Was denn?

Was denn?


ZWEITER:

Wir sind unglaubwürdig geworden


ERSTER:

Unsinn

Die Zeit ist eine andere 


ZWEITER:

Hallo?

Unsere Geschäftsgrundlage 

stimmt nicht mehr


ERSTER:

Wir hätten nicht so früh 

aufbrechen sollen


ZWEITER:

Na?

Fällt dir immer noch nichts auf?


Er beginnt laut zu zählen.


Eins

Zwei

Verstehst du?

Eins

zwei


Der ERSTE schaut den ZWEITEN ratlos an.


Fällt dir nichts auf?


ERSTER:

Ich bin der schwarze König

Du bist der weiße König


ZWEITER:

Und?


ERSTER:

Und?

Und?

Du gehst mir auf den Nerven

mit deinem Und?


Voller Wut stellt er die Koffer ab. Er öffnet sich. 

Aus ihm entweicht eine Gummipuppe, die sich 

langsam selbst aufbläst. 

Die Sexpuppe trägt das Gewand eines Scheichs.


ZWEITER:

Es fehlt der dritte König

Weil es heißt

Heilige drei Könige

und nicht zwei heilige drei Könige

Ach was rede ich

zwei heilige Könige


ERSTER:

Was redest du?

Wir sind doch zu dritt!


Voller Stolz zeigt er auf die Puppe mit dem offenen 

Mund, die ein Beduinengewand und eine Krone 

trägt.


ZWEITER:

Bei dem Anblick

hetzen sie uns 

die Hunde auf den Hals


ERSTER:

Ich kann gut mit Tieren


ZWEITER:

Oder sie rufen die Polizei

und die wollen Papiere sehen

gültige Papiere

waschechte Papiere


ERSTER:

Mein Gott


ZWEITER:

Das könnte dir so passen


Er setzt sich auf den zweiten Koffer, der verschlossen ist.



ERSTER:

Vielleicht 

sollten wir den Schwarzen ganz weglassen

In den Niederlanden

diskutieren sie

über die Abschaffung 

des swarten Piets


ZWEITER:

Wer?


ERSTER:

Der swarte Piet

der schwarze Peter

ist in den Niederlanden

der Assistent des Nikolaus

des Heilgen St. Nikolaus


ZWEITER:

Das ändert nichts

Den Negerkuss 

schaffen sie ab

aber die Schwarzarbeit bleibt

So ist das

es lebe das Zigeunerschnitzel

und der lustige Bosnierteller

Und wenn es auf dem Balkan

ums große Abschlachten geht

schauen wir weg


ERSTER:

Ich meine ja nur

Wir können das Morgenland

doch einfach streichen

ZWEITER:

Wir können uns das ganze Gesinge

schenken

So weit kommen wir gar nicht


ERSTER:

Ich könnte einen Fuß

in die Tür stellen

oder den Stern nehmen


ZWEITER:

Die Gummipuppe

könnte uns rausreißen

Liebe zu dritt

und das am Vormittag

Haben die Schwarzen

nicht riesige Prügel


ERSTER:

Es lebe das Vorurteil

Zudem finde ich unseren 

dritten König

sehr symbolträchtig

Er schwebt über allem

ist aus Plastik

und dadurch 

langlebig


ZWEITER:

Langlebig

langlebig

Man merkt

sofort

das Goethe Institut

das will keiner hören

Klare Botschaften

sind angesagt

vor allem

am Vormittag


ERSTER:

Wir haben eine Botschaft

und sind nicht Bestandteile

einer Seifenoper


ZWEITER:

Eine Botschaft 

eine Botschaft

wie sich das anhört

Da ziehen 

drei durchgeknallte Könige

durch die Gegend

wahrscheinlich zugekifft

um den König der Könige 

zu huldigen

Dass er geboren wurde

hat ihnen ein Stern verraten

der ihnen auch den Weg weist

Wie krank ist das denn?

Aber das Beste 

kommt ja erst noch

Da kommen die drei Fürsten

aus dem Morgenland

huldigen einem Neugeborenen

in dem sie ihn 

mit Reichtümern 

voll scheißen

und als Dankeschön

kommen ein paar hundert Jahre später

die Kreuzritter

und metzeln alles nieder


ERSTER:

Ich glaube

die Leute spüren

deine negativen Schwingungen

Deshalb 

schlagen sie die Tür zu

Wahrscheinlich 

wissen sie noch nicht einmal warum

Eiskalt 

wird sie sein 

die Welle

Vielleicht denken sie auch

es ist der Sensenmann

Auf jeden Fall

fröstelt ihnen

und schmeißen 

aus Schutz

die Tür zu


ZWEITER:

Es fröstelt ihnen

es fröstelt 

Es ist deine Sprache

die sie nicht wollen

Und natürlich die Botschaft

Die Leute

wollen positive Nachrichten

Alles wird gut

Das ist es 

Alles wird gut


ERSTER:

Alles wird gut

alles wird gut

Was ist das für eine Nachricht?

Da geht es doch um mehr

Die drei 

stehen für den Aufbruch

für Veränderung

Da machen sich drei Könige auf


ZWEITER (unterbricht):

Eben

wahrscheinlich 

damals schon

emigriert 

Flüchtlinge

Zuhause

haben sie die drei

vor die Tür gesetzt

so 

wird ein Schuh draus

Keiner wollte die mehr

Ein Tritt in den Arsch

und tschüss


ERSTER:

Sie wollten dem Kinde huldigen

Weihrauch

Myrrhe

und Gold für wahr

und dann sind sie 

wieder zurück


ZWEITER:

Hast du jemals 

von den Frauen

Eltern 

oder Kindern

der Heiligen Drei Könige 

gehört?

Ich nicht


ERSTER:

Oft sind jene Menschen

die der Gegenwart

weit voraus sind

sehr einsam

und allein


ZWEITER:

Naturgemäß

sind sie das

Sie leben 

ja nicht

im Hier und Jetzt


ERSTER:

Der Stern

steht für eine Vision


ZWEITER:

Gibt es im Deutschen

nicht so einen Spruch

Wie ging er gleich

Wie ging er gleich

Ich hab's

Er hat die Lampe an

Die einen

folgen einem Stern

und die anderen

haben die Lampe an


ERSTER:

Sie haben 

ihr Leben

der Vision

der Utopie 

geopfert

Das Leben 

auf dem Altar 

einer neuen Zeit

geopfert

und auf alles verzichtet

Auf Frau

auf Kinder

Die Eltern 

werden sie verstoßen haben


ZWEITER:

Da bringst du was

durcheinander


ERSTER:

Ich weiß

was du sagen willst

man kann aber auch

mit einer Idee

ein Königreich erschaffen


ZWEITER:

Und warum

sind sie nicht zurückgekehrt?

Es verliert sich jede Spur

Sie werden sich abgesetzt haben

Dem Kind 

kurz das Geld

und die Gewürze gezeigt

und dann ab 

durch die Stalltür

wahrscheinlich haben sie

Ochs und Esel 

noch mitgenommen

oder direkt

vor Ort verzehrt

Die müssen einen Hunger

gehabt haben


ERSTER:

Hat Ben Hur

sie nicht in der Wüste

an einem Brunnen getroffen?


ZWEITER:

Ben Hur

Ben Hur

Der hat ja auch den Erlöser

das Kreuz getragen

Johannes den Täufer

kennen gelernt

und ist 

überhaupt nicht gealtert

Märchen und Legenden


ERSTER:

Gerade zu dieser Jahreszeit

braucht der Mensch

eine Hoffnung

ein Licht


ZWEITER:

Der Ben Hur Schauspieler

war Sprecher

der Waffenlobbyisten

in den USA

Halleluja 



Piefke

PERSON:


PIEFKE Metzgermeister aus Deutschland

                                                 



IM LADEN




1.


Ein weiß gekachelter Raum. 

PIEFKE trägt eine weiße Hose und ein weißes Hemd.


PIEFKE:

Ich habe die Blutwurst

nach Wien geholt

die Blutwurst und die Leberwurst

Ganz Österreich

habe ich meine Wurst geschenkt

Vor mir

gab es doch überhaupt

keine Wurst 

in Wien

Geschweige denn

in Österreich

Würstl

das ja

Würstl

das können sie sagen

Würstl

und Würstlstand

zu mehr 

hat es nicht gelangt

Würstl

Würstl

genauso 

sehen sie aus

und sie schmecken auch so

Würstl

Wurst heißt das

WURST

W

U

R

S

T

WURST

Für alle 

zum Mitschreiben

Wurst

Wurst

und nochmals 

Wurst

Würstl

Armes Würstl

ja

da wird ein Schuh draus

Würstlstand

dieses ganze Getue

um eine Bude

Richtig stolz 

sind sie

auf den Würstlstand

nur weil er mehr

als drei Sorten Würstl

anbietet

Würstl eben

und keine Wurst

Hier heißt

es ja auch nicht Metzger

sondern Fleischhauer

Und genauso 

ist es denn ja auch

Wie die Bestien

reißen sie 

am Fleisch 

zerstören jede 

noch so kleine Faser

Mehr als einen Brei

können sie nicht herstellen

und den

zwängen sie dann

in die Därme

geschlachteter Kreaturen

bis zum Schluss

Tierquälerei

Wer Würstl

sagt

und meint

ist ein Sadist

Ich weiß

ich weiß

laut darf ich das 

nicht sagen

Schon gar nicht hier

in dieser Stadt

in der 

heiligen Würstl Stadt

In der Hauptstadt

des Würstl

wird man für so etwas

zu selbigen verarbeitet

Es heißt 

Wurst

und nicht 

Würstl

WURST

W

U

R

S

T

WURST

Es heißt ja auch nicht

Kriegl

sondern

Krieg

Ich 

habe die Wurst

nach Wien geholt

und sonst niemand

Hans

Wurstkönig

die Majestät

bin ich

Wurst

das heißt

Sinnlichkeit

Zur Herstellung

einer Wurst

die den Namen

auch verdient

muss man alle Sinne

beisammen haben

Sinne

und Sinnlichkeit

das liegt eng zusammen

Das kennt

der Fleischhauer nicht

Der zerkleinert alles

mischt es zusammen

und füllt es

in die Arschlöcher 

dieser Welt

Nein

nein

das ist nicht von mir

Freud 

das große Kind 

dieser Stadt

hat das schon

in seinem Spielzimmer festgestellt

Der österreichische Fleischhauer

ist analfixiert

Darum bringt er

außer

einem Würstl

auch nichts zustande

Wahrscheinlich 

hat er

die Mutter

als Endlosschleife im Ohr

Bub

mach dein Würstl

Bub

mach dein Würstl


PIEFKE biegt sich vor Lachen und verfällt in einen Hustenanfall.


PIEFKE:

Jetzt

wäre ich fast

am Wiener Würstl

erstickt

so weit 

kommt es noch

Alle Kriege 

in den letzten hundert Jahren

ach was sage ich

zweihundert Jahren

habt ihr verloren

Darüber 

würde ich mal nachdenken

Mit einem Würstl

ist kein Staat

zu machen 

geschweige denn 

ein Krieg zu gewinnen

Selbst euer Anstreicher

aus Braunau

hat diese KOST

schlichtweg

abgelehnt


Würstl


PIEFKE lacht.


Würstl


PIEFKE lacht und schaut sich um.


So

sieht ein Meisterbetrieb aus

Bei mir

kann man sogar

von der Decke essen

Tip Top

das ganze Geschäft

von der Kühlkammer

bis zum Laden

Eine Bruchbude

ist das gewesen

als ich es 

für teures Geld erworben habe

Übers Ohr

haben sie mich gehauen

Gedacht

mit einem Deutschen

kann man es ja machen

Von Anfang an

haben sie mir Steine

in den Weg gelegt

und als Krönung

mir diese Bruchbude

angedreht

Braun sind die Kacheln gewesen

tief braun

Aus Spaß

habe ich noch gefragt

ob hier früher die Gauleitung

ihren Sitz gehabt hätte

Aber diesen Witz

haben sie nicht verstanden

Sie nehmen überhaupt nichts auf

was von Außen kommt

Das Fremde

betrachten sie gar

als Bedrohung

Man muss sich das

einmal vorstellen

ein einfacher

rechtsschaffender Metzger

aus Deutschland

eine Bedrohung

für die ganze Stadt

Ganz Wien

hat gezittert

Dass ich nicht lache


Er lacht aufgesetzt.


Das einzige 

was zu zittern hätte

ist das Würstl

denn dem Würstl

habe ich den Kampf geschworen


PIEFKE hebt die Faust zum Gruß.



2.


PIEFKE steht vor dem Wandspiegel neben der Tür und versucht sich eine weiße  Fliege zu binden.


PIEFKE:

Der Liebe wegen

nach Wien

Gibt es sonst einen Grund

in diese Stadt zu kommen?

Man braucht sich ja nur

die Gesichter da draußen

anzuschauen

dann weiß man sofort

Freiwillig ist niemand hier

Und die

die es wirklich schaffen

der Stadt

den Rücken zu kehren

sind wie vom Erdboden verschluckt

Man hat nie mehr

von ihnen gehört

Da ist doch was faul

wenn man mich fragt

Aber

mich fragt niemand

Da verschwinden

reihenweise 

die Menschen

aber niemanden 

interessiert das

Wahrscheinlich

bin ich der einzige

in dieser Millionenstadt

der sich diese Frage stellt

Millionenstadt

dass ich nicht lache

Millionen Vermisste

das ja

Es hat in Wuppertal

mal einen Metzger gegeben

der hat Wandergesellen

zu Pökelfleisch

verarbeitet

und in der Nachbarschaft

verschenkt

Der Mann war beliebt

Da konnte man hinkommen

wo man wollte

Das waren die Hungerjahre

nach dem 1. Weltkrieg

da sehnte sich der Mensch

nach was zu beißen

Ich mache 

das beste Pökelfleisch

der Stadt

Ohne mich 

wüssten sie hier gar nicht

was richtiges pökeln heißt

Wer beim Salz spart

hat schon verloren

Und hier sparen sie sogar am Fleisch

Ich sage nur Würstl

Würstlstand

Nein

schaut man in die Gesichter

dieser unglücklichen Kreaturen

da wünscht man sich 

einen Moses

der sie aus der Gefangenschaft

hinausführt

und wenn nur

ins Waldviertel

Es wird einen Steinbruch

oder ähnliches geben

wo die hinkommen

die sich anmaßen

nur einfach zu buchen

Ich bin der Liebe

wegen hier

Auf der Jagd

bin ich gewesen

im schönen Kärnten

Rehaugen

Rehaugen

hat sie gehabt

Mit Rehaugen

fängt es an

dann mutieren sie

zu Kälberaugen

Selbst die Schweineaugen

sind nur eine Zwischenstation

denn letztendlich

landet man immer

bei den Fischaugen

Wenn man früh morgens 

wach wird

und man schaut

in Fischaugen

weiß man

dass das Leben

an einem vorbei gerauscht ist

Die lange Nase

hat es noch gemacht 

das Leben


(singend)

Nanananana

Nanananana


Und schon war es weg

Den Grüßaugust

gegeben 

und schon durch die Tür

Wer morgens früh

in Fischaugen blickt

sollte am besten

liegen bleiben


Schatzi

wo sind meine Manschetten?

Du weißt schon

die Weißgoldenen

die du mir 

zum Firmenjubiläum 

geschenkt hast

Die mit der Wurst drauf

die das Würstl schluckt


Er lacht.


Eine ganze Seite

habe ich in der Zeitung geschaltet

Erst ein australischer Künstler

ist bereit gewesen

dass zu zeichnen

was ich haben wollte

Ein österreichischer Maler

hätte sich überhaupt 

nicht getraut

Eine Wurst

so groß

wie ein Walfisch

und dann 

die Laich

der kleine Hering

das Würstl

das einfach 

gefressen wird


Er lacht.


Aufkleber 

habe ich machen lassen

Flugblätter

sowieso

Einen Zeichentrickfilm

wollte ich drehen lassen

Aber die Herren Künstler

haben nasse Füße bekommen

Die Stadt

der Fischaugen

und der Mutlosen

Komm auf die Brüstung

säuseln die Brücken

und locken 

mit süßlicher Stimme

Die Stadt

kann von Brücken

gar nicht 

genug bekommen

Wie die Lemminge

springen sie 

in die Donau


Schatzi

Ich finde die Manschetten nicht

Du weißt schon welche


Der Liebe wegen

nach Wien

Mein Vater

wollte mich entmündigen lassen

Die Mutter 

hat geweint

Warum nicht Wuppertal?

Gutes Pökelfleisch

kommt aus Wuppertal

Mutter

ich habe einen Auftrag

habe ich gesagt

eine Mission

Ich will die Wurst

in die Welt bringen

Ein Missionswerk errichten

Nicht umsonst 

habe ich Orgel gelernt


Er holt hinter dem Tresen ein (Keyboard) hervor und beginnt damit Orgelmusik zu produzieren.


Halleluja

Halleluja

Wahrlich

Ich sage euch

es kommt die Wurst

die eurer Leben

verändern wird

Halleluja

Halleluja

Ich sage euch

der Weg

wird ein beschwerlicher sein

Das Krokodil

wie ihr

die Gewürzgurke nennt

wird euch den Weg weisen

Halleluja

Halleluja

Wahrlich ich sage euch

es kommt die Zeit

und mit ihr

die Wurst

die euer Leben 

verändern wird

Halleluja

Halleluja


Er stellt die Orgel zurück hinter den Tresen.


Was für eine Akustik

Da kann sich der Wiener Musikverein

eine Scheibe abschneiden

Da verpufft doch

jeder Ton

an vergoldeten Säulen 

und Streben

Weiße Kacheln

das ist das ganze Geheimnis

der ganze Wiener Musikverein

weiß gekachelt

Dann könnte man 

von einem gelungenen Neujahrskonzert reden

aber so

Wieder nur so 

eine Würstlveranstaltung

Darum liebt der Wiener 

ja auch die Operette

und nicht die Oper

Wie muss sich Mahler

in dieser Stadt

der Ignoranten

gefühlt haben

Mahler

mit h

In keiner anderen Stadt

muss man das hervorheben

Wenn ich

von Mahler

rede

denken 

die Würstlpanscher

ich würde den Anstreicher

den Postkartenmaler

meinen

Den Beethoven

haben sie 

zu ihrem gemacht

den Gefreiten

längst zum Piefke

Hitler

klingt ja auch

fast preussisch

Hitler

Grützwurst

Schicklgruber

Würstl

Ein Schicklgruber

würde bei uns

Schinkel heißen

und für die Ewigkeit

bauen

und nicht zerstören

Das ist ohnehin

der größte Unterschied

Mit einer Mission

bin ich 

nach Wien gekommen

Missionieren

wollte ich

die frohe Botschaft

verkünden

Es gibt hinter dem Würstl

eine Wurst


Er schaut nach oben


Schatz

ich finde die Manschettenknöpfe nicht

Du weißt schon welche

Der Vater

war ja

vollkommen 

gegen die Verbindung

Schon bei dem Wort

Deutschland

ist er rot angelaufen

und hat Schaum gespuckt

Mich 

hat er überhaupt nicht 

sehen wollen

Ein Piefke

kommt mir nicht ins Haus

soll er immer 

und immer wieder 

gerufen haben

Irgendwann

haben es die Nachbarn

nicht mehr ausgehalten

Ein Tag

vor unserer Hochzeit

haben sie ihn geholt

und nach Steinhof gebracht

Abteilung 53

Ein kleiner Pavillon 

am Rande des Parks

Man schaut direkt 

auf die Jugendstilkapelle

Abteilung 53

steht auf keinem Wegweiser

selbst auf dem Plan

für die Feuerwehr

ist er nicht eingezeichnet

Ein kleines 

unscheinbares Gebäude

mit einem Aufzug

der tief in die Erde geht

Einen riesigen Stollen

haben sie in den Fels getrieben

um Platz zu haben

Platz 

für all diejenigen

die schon bei dem Wort

Deutschland

rot anlaufen

und Schaum spucken

In schicken Zweitbettzimmern 

sind sie untergebracht

und werden den ganzen Tag

mit Kuhglocken und Volksmusik

beglückt

Tu felix austria

Nein

das können wir Deutsche 

nicht sagen

ganz im Gegenteil

Der Römer

hat uns beschimpft

unsere Wälder

als stinkende Sümpfe 

bezeichnet

Unsere Tradition

und vor allem

unsere Sprichwörter

nicht ernst genommen

So wie man es

in den Wald

hinein schreit

so schallt es heraus

Während 

der Österreicher

die Jause

für den Römer bereitet hat

haben die Germanen

die Speere gespitzt

und die Äxte geschliffen


(mit kläglich nachgemachtem Wienerakzent


Herr Cäsar

darf‘s noch ein kleiner Brauner sein

Bitte sehr 

bitte gleich

Wir haben eine Römertorte

zum Niederknien

ach was sage ich

zum Reinsetzen

oder darf‘s

ein gallisches 

Geschnetzeltes sein

I scheiß mi an

der Cäsar

auf dem Opernball

und wen hat er dabei?

Ja 

wen hat er dabei

die K

die Kle

die Kleo

die Kleopa

ja

die Kleopatra

das geile Luder

aus der

Schönbrunner

Herr Cäsar

haben‘s 

schon Karten

für das Neujahrskonzert


Über die Tauern

ist der Cäsar

Maut sparen

und dann in der Breite

ins Alpenvorland

So ist der Deutsche

gastfreundlich

bis auf aufs Messer

Und später

die teutonische Keule


PIEFKE betrachtet die gebundene Fliege im Spiegel.


Sitzt wie angegossen

wie das Brät

in der Wurst

Stramm

müssen die Därme sein

Stramm und aufrecht

Die deutsche Wurst 

steht

Das Würstl

na ja

Es schlawinert eben


Schatz 

hast du gehört?


Wie soll sie? 

wie soll sie?

Ist ja gar nicht oben

Wahrscheinlich 

irrt sie auf dem Gelände

von Steinhof herum

auf der Suche

nach Pavillon 53

Aber den 

gibt es ja gar nicht

zumindest 

offiziell nicht


Er lacht.


Aber das 

wissen nur

die Piefkes


Die Schläfer

PERSONEN:



THEOPHIL Expolitiker und Bestsellerautor


EDELTRAUD Frau des Expolitikers und Bestsellerautors


MARTIN Freund und Verleger


RENATE Journalistin, langjährige Freundin


ROBIN Tochter, um die vierzig, aber wie ein Punk gekleidet, nach der amerikanischen Frauenrechtlerin Robin Morgan benannt


FRAU SCHNECK Lektorin und Schwester von Martin


GINA Inhaberin des Eissalons


GINO Inhaber und Ehemann von Gina


HANS-RÜDIGER Farbiger aus Südafrika




Das Stück spielt in der heutigen Zeit. 


Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, mit Namensträgern und Spiegelbildern ist nicht beabsichtigt, sondern künstlerische Freiheit.




1.AKT


1.


Eine große Fensterfront. Dahinter mehrere einzelne Tische und Stühle und eine lang gezogene Bar. Durch eine Pendeltür geht es links in die Küche. Dort sind die Fenster bis in Kopfhöhe aus Milchglas. Rechts zwei Türen, die zu den Toiletten führen. Auch hier Milchglas bis in Kopfhöhe. Von der Decke hängt ein großer Ventilator, ein ehemaliger Flugzeugpropeller. 


Vor dem Eingang steht eine große Leiter, deren Spitze nicht zu sehen ist.

Mehrere Stromkabel führen nach oben. 

Unten an der Leiter steht GINA, die Besitzerin des Eissalons.

Auf dem Boden liegen mehrere Buchstaben aus Leuchtstoffröhren.


GINA schaut nach oben und schüttelt den Kopf.


GINA:

Pass bloß auf

Wenn es nicht geht

dann geht es nicht


Eine Stimme aus dem OFF, die GINO, dem Ehemann gehört, ruft.


GINO (aus dem OFF):

Ich werde doch wohl noch 

ein paar Schrauben locker kriegen


Die Leiter wackelt und gerät in Bewegung. GINO steigt herunter und gibt seiner Frau einen Kuss.


GINO:

Weißt du noch?

Schraube locker

Keine Tassen im Schrank

Der Krug bricht immer am Brunnen

oder so ähnlich


beide lachen


GINA:

Schuster bleib bei deinen Leisten

Ehrlich währt am längsten

Lieber den Spatz in der Hand 

als die Taube auf dem Dach


GINO:

Dank deinem Geschick

ist es wohl diesmal umgekehrt

Was bin ich froh

wenn der ganze Mist unten ist

Das Abmontieren hätte mich 

ein Vermögen gekostet

und du handelst sogar 

noch Geld aus

Ach Frau

was würde ich bloß ohne dich machen?


GINA:

Arzt wärst du geworden

und zwar der beste  


GINO:

Jetzt haben wir zwei wunderbare Kinder

und diesen Laden

ein Restaurant könnten wir hier eröffnen


GINA:

Hör auf

Das mit heute ist und bleibt eine Ausnahme

Denk an die Kinder

An ihr Lachen

Du machst das beste Eis der Stadt


GINO:

Ich weiß

ich weiß 

Schuster bleib' bei deinen Leisten


beide lachen


GINO gibt seiner Frau einen dicken Kuss und steigt wieder die hohe Leiter hinauf.


GINA:

Was für ein Mann


EDELTRAUD kommt von der Seite.


EDELTRAUD (telefoniert):

Schatzi

Natürlich hätte ich dich gern 

vom Flughafen abgeholt

Wo bist du gerade?

Immer noch in Brüssel

So so

nimm Dir einfach ein Taxi

Eissalon Sara...

Ja ja 

das ist die Überraschung

Nein nein

Den Laden gibt es schon

Keine Ahnung

wahrscheinlich eine Ewigkeit

Wir gehen doch seit Jahren 

nicht mehr raus

Es sei denn 

wir sind eingeladen

Im Grunde 

ist Theophil

menschenscheu

Der Mann mit den Rehaugen

weißt du noch?


sie lacht


Und ich bin drauf reingefallen

Ich weiß

ich weiß

Er war anders

als die anderen Kinder

Ich habe mich oft gefragt

wie er es geschafft hat

andere zu überzeugen

Ach Renate

ich freu mich so

dass du es geschafft hast

dir die Zeit zu nehmen

Hallo Hallo


EDELTRAUD steckt ihr Smartphone weg.


EDELTRAUD sieht die Leiter und GINA.


Aber nein

aber nein

Sie bauen immer noch ab?

Gleich kommen die Gäste

Das sollte doch eine Überraschung werden

Ach nein

Ach nein


GINA:

Keine Angst

das bekommen wir alles hin

Wir haben zehn Uhr morgens

und Sie haben das Lokal

für drei Uhr Nachmittags gemietet


EDELTRAUD:

Die Leiter muss weg

Und die Buchstaben 

müssen abgedeckt werden

Das soll doch eine Überraschung werden

Rede ich spanisch

oder was?


GINA:

Ich bitte Sie

vor zwei Tagen haben Sie mich besucht

das Lokal besucht

und gefragt 

ob Sie das da oben haben könnten


EDELTRAUD:

Wie?

Und da haben Sie noch überlegt 

und nicht sofort angefangen

Kein Wunder

dass die deutschen Kinder nicht mehr mitkommen

Mit ihrer phlegmatischen Weltanschauung 

bremsen sie den ganzen europäischen Prozess

Wobei ich

nur meinem Mann zuliebe

Europäerin bin 

ich halte gar nichts 

von einer Großvereinigung

Die kulturelle Vielfalt

das war doch das Schöne

Aber jeder doch

in seinem Land


GINA:

Wir werden den Tag

zu ihrer Zufriedenheit ausrichten

Machen sie sich da keine Sorgen


EDELTRAUD:

Sorgen?

Ihre Ruhe möchte ich haben

So geht das nicht


EDELTRAUD nimmt ihr Smartphone und drückt eine Taste.


(ins Telefon)

Hier geht ja wohl alles schief

Diese Leute glauben

sie kommen damit durch

Du weißt ja

Servicewüste Deutschland

Da miete ich zu dieser Jahreszeit

einen Eissalon an 

und mit Nichtstun

und Dilettantismus

wird es einem gedankt

Die Leute

Können so undankbar sein


EDELTRAUD scheint es gar nicht zu stören, das GINA und auf der Leiter auch GINO alles mithören können.


Renate

Bist du noch da?

Wieso Zollkontrolle?

Bei einem Inlandflug?

Ach wegen der Sicherheit

Was sollst du?

Das ist doch nicht wahr

Sag das noch mal

Den Midleton

sollst du wegschütten?

Den Midleton

Weiß der Schwachkopf überhaupt

für wen der edle Tropfen ist?

Was?

Gib mir den Schwachkopf mal

Was?

Der Mittelstrahl?

Ja

wenn es Sie glücklich macht


GINA holt einen Stuhl aus dem Eissalon und stellt ihn zu EDELTRAUD.

EDELTRAUD weist sie mit einer Handbewegung ab.


Hören Sie guter Mann

Bevor ich Ihnen meinen Namen sage

gebe ich Ihnen den Rat

die Frau

die einer meiner besten Freundinnen ist

mit der Flasche Whiskey

in das Flugzeug zu lassen

Nicht nur

dass Ihr Dienstherr

der Innenminister

der Taufpate

meiner Tochter ist

Ach das interessiert Sie nicht?

So leichtfertig gehen Sie also mit der Zukunft

Ihrer Kinder um

Im Übrigen wird Sie Ihre Frau verlassen

Wahrscheinlich schon heute Abend

wenn Sie erfährt

was für ein Dummkopf Sie sind

Das glauben Sie nicht?

Welcher Sekte gehören Sie denn an?

Zeugen Jehovas?

Wiedertäufer?

Ich sage Ihnen 

auch die werden Sie

vor die Tür setzen

wenn sie erfahren

wie blöd Sie sind

Ach 

Sie wollen mit mir nicht diskutieren?

Höre ich da etwa

erste Lernschritte heraus?

Hallo?

Hallo

Einfach aufgelegt


(zu GINA)


GINA:

Kann ich helfen?

Haben Sie Ärger mit Behörde?

Mein Cousin 

hat einen Freund

dessen Freundin

putzt bei einem Anwalt


EDELTRAUD:

Ach Kindchen

Lassen Sie uns lieber rein gehen 

und die Tische zusammenstellen


GINA und EDELTRAUD betreten den Eissalon. Im selben Moment fällt von oben etwas schweres Klobiges herunter und wirbelt Staub auf.


BÜHNE DUNKEL



2.


Vor dem Eissalon ist GINO damit beschäftigt die einzelnen großen Leuchtreklamebuchstaben mit Schwamm und Wasser zu reinigen. Im Eissalon sind die Tische zu einer langen Tafel zusammengestellt. GINA stellt die Stühle an den langen Tisch. Die Hand von EDELTRAUD, die zwischen der Schwingtür steckt, winkt fordernd. 


GINO:

Beachtlich 

was diese kleinen Vögel 

alles unter sich lassen


er lacht


Vogelscheiß am Morgen

vertreibt Kummer und Sorgen


Dabei geht es uns gut

Ein eigenes Geschäft

Keine Schulden

Die Kinder studieren

Der Junge wird Arzt

Und das Mädchen Advokat

Nein

Wir haben Glück gehabt

Sonntagskinder

Und jetzt werden wir auch noch

die Reklame los

Endlich ein eigenes Schild

vor unserem eigenen Lokal

Eigentum verpflichtet

Es wird nichts so heiß gekocht

wie es gegessen wird

Ein Hund lief um die Ecke

und stahl dem Koch ein Bein

Unsinn Unsinn

den Wein

Die Deutschen und ihre Sprichwörter

Wer solche Sätze bilden kann

dem wird nicht langweilig


GINA kommt aus der Küche in den Salon und tritt nach draußen.


GINA:

Die Frau raubt mir noch den letzten Nerv


GINO:

Ich habe auch noch einen

Ehrlich hat den Längsten



GINA (lachend):

Trottel

Ehrlich währt am längsten

Das will sagen

Wenn du ehrlich bist

bleibst du und deines Gleichen erhalten

Im Großen gedacht

Nur die Kultur überlebt

die ehrlich ist


GINO:

Das leuchtet mir ein

Lügen haben kurze Beine

Wenn du da bist

denke ich ganz anders 


GINA:

Ich weiß 

mein Schatz

Aber wenn du nicht gleich

in der Küche verschwindest 

ist es vorbei 

mit unserem Glück


GINO:

Und?

Wo ist diese Frau?


GINA:

Oben


GINO:

Wie oben?


GINA:

Ja 

in unserer Wohnung


GINO:

Du hast sie 

in unsere Wohnung gelassen

und stehst jetzt hier

Was ist

wenn sie ins Schlafzimmer geht?


GINA:

Sie wird sich fragen

Warum wir keinen Sex mehr haben

bei zweiundfünfzig Fernsehern


GINO:

Bitte bitte

das haben wir so lange schon durch

Er ist mein Bruder

Jeder Geschäftsmann 

fängt klein an

Und er eben mit zweiundfünfzig Fernsehern


GINA:

Die geklaut sind


GINO:

Woher willst du das wissen?

Sag mir lieber 

warum diese Frau

In unserer Wohnung ist?


GINA:

Sie kann nicht


GINO:

Was kann sie nicht?


GINA:

Kacken

Sie kann nicht kacken

Ich weiß 

eine Frau 

sollte so etwas nicht sagen

eine Frau 

sollte andere Worte benutzen

Aber glaube mir

auch sie hat kacken gesagt

Natürlich nicht am Anfang

Da hat sie so getan

als würde sie sich 

für unsere Wohnung interessieren

Aber ich habe es ja gesehen

diesen gequälten Blick

in ihren Augen

Nein

Sie wollte nur kacken

und das hat sie letztendlich auch gesagt


GINO:

Ich hab noch einen:

Aus dem Krug

wird so lange getrunken

bis man bricht


beide lachen


GINO (ernst):

Und du glaubst

die sitzt jetzt da oben

und presst 

und presst

ein Ei aus?


GINO:

Und die Buchstaben?

Was ist mit den Buchstaben?

Glaubst du 

der liebe Gott holt sie vom Dach


GINA:

Du und dein lieber Gott

Für mich ist dein lieber Gott

zu oft in Urlaub

Am siebenten Tage sollst du ruhen

Ach

was soll das?

Für die einen ist der Siebte der Fünfte

Für die anderen der Siebte der Sechste 

Was ist das für eine Welt


GINO:

Und für manche ist jeder Tag der Siebte


er lacht


Für mich wäre das nichts

Den ganzen Tag 

auf der faulen Haut liegen


Mit lässigem Schritt und Designeranzug nähert sich HANS-RÜDIGER, ein hochgewachsener Farbiger, der gut in die New Yorker Künstlerszene passen würde.


HANS-RÜDIGER:

Ick hier richtick?

Du Chef

ich Kellner


GINO:

Kellner?

Soll ich lachen


GINA:

Das geht schon in Ordnung


(zu HANS-RÜDIGER)


Dann kommen Sie mal mit

HANS-RÜDIGER:

Tutu 

Sie können Tutu zu mir sagen


GINA lacht und führt HANS-RÜDIGER ins Lokal.


GINO:

Uns geht es zwar gut


auch wieder nicht

dass wir uns einen Kellner leisten könnten

Wenn es nach mir gegangen wäre

Ich hätte das Lokal nicht vermietet

vor allem nicht an Leute

die keine Anzahlung leisten

Der Bekannte eines Freundes 

meines Freundes

vermietet Ruderboote

der nimmt auch eine Kaution

Selbst beim Billard

oder Minigolf

nehmen sie Pfand

oder verlangen Kaution

Aber meine Frau

nimmt nichts

Große Leute

sagt sie

da kommen große Leute

Seit wann zahlen große Leute?

Zudem

sehe ich nur eine Frau

die unaufhörlich telefoniert

und nicht kacken kann

Aber das

werde ich mir mal aus der Nähe anschauen


GINO steigt die Leiter hoch.


GINA und HANS-RÜDIGER verlassen die Küche und treten durch den Hinterausgang nach draußen.


GINA:

Und Sie trauen sich das zu?

Jetzt 

wo sie keinen Dialekt mehr sprechen


HANS-RÜDIGER:

Habe schon ganz andere Sachen gemacht

Eigentlich habe ich 

schon fast alles gemacht

Selbst den Jim Knopf

im Kindertheater gegeben

Ich bin das zweite Kind von fünfzehn

das verpflichtet

Zudem habe ich noch dreiundzwanzig Onkel und Tanten

die ihrerseits auch viele Kinder haben

 

GINA (lachend):

Ihr Humor gefällt mir

Ich habe das Buch über Ihren Großvater gelesen


HANS-RÜDIGER:

Na

dann kann ich Ihnen ja nichts vormachen

Bitte verraten Sie mich nicht

Es soll für alle eine Überraschung sein


GINA:

Ich kann Schweigen wie ein Grab

Ich komme aus einem Land

da ist so eine Charaktereigenschaft 

überlebenswichtig


Ein Frauenschrei von oben lässt GINA und HANS-RÜDIGER erstarren.

Dann das laute Geräusch einer Bohrmaschine.


HANS-RÜDIGER:

Wollen Sie nicht nachschauen?


GINA:

Nein nein

Ich kann mir denken

was passiert ist

Unsere Toilette hat ein Fenster 

und geht zur Straße


HANS-RÜDIGER:

Ich kann auch kochen

Was halten Sie von einer exotischen Suppe?


GINA:

Sie wollen es Italienisch

Einfach

Toskanisch

So wie die Bauern essen


HANS-RÜDIGER:

Einfach und teuer

Dekadent

wie der ganze Kontinent

In letzter Konsequenz

werden wir gezwungen werden

kommunistisch zu sein

Die Natur kennt keinen Gewinn

Wir Menschen 

träumen von einer Win Win Situation

Und die Politik

betreibt weiter 

ihren menschenverachtenden Kapitalismus

Zu recht

denn die Demokratie 

in der jetzigen Form

ist ein Vampir


er lacht


Keine Angst

Ich kann den Neger perfekt geben

Devot

Opportunistisch 


GINO steigt die Leiter herunter. In der Hand hält er ein Seil.

Langsam lässt er das Seil herunter. Ein A aus der Neonreklame taucht auf und nähert sich langsam dem Boden.


GINO:

Was sie sich anstellt

Prinzessinnengehabe

Da kommt 

was auf uns zu

Dabei

habe ich doch gar nichts gesehen


GINO steigt mit dem Seil wieder die Leiter hinauf.

Aus dem OFF ist ein Auto zu hören. Der Wagen hält, Türen öffnen und schließen sich.


THEOPHIL und MARTIN schreiten heran. Sie tragen lange Kaschmirmäntel, Hüte und dunkle Sonnenbrillen.


MARTIN:

Bis du dir sicher

dass das hier ist?

Sieht mir nicht sehr einladend aus


THEOPHIL:

Es ist mein Geburtstag

und Edeltraud hat etwas organisiert

Ich kenne es gar nicht anders

Statistisch gesehen 

sind neunundsechzig Prozent

meiner Geburtstage gut organisiert gewesen

dreizehn Prozent weniger gut

an vier Prozent 

möchte ich mich nicht erinnern

und an zwei Komma fünf Prozent 

will ich mich nicht erinnern


MARTIN:

Zwei Komma fünf Prozent?

Wann hast du denn einen halben Geburtstag gefeiert?


THEOPHIL:

Nun

meine Frau wollte unbedingt

an meinem Geburtstag heiraten

Zwei Feierlichkeiten an einem Tag

Da muss ich teilen

Korrekterweise wären es übrigens 

keine Null Komma fünf Prozent

sondern Null Komma Sieben Fünf Prozent

Denn ich muss ja fairer Weise

die Hochzeit mit meiner Frau teilen


MARTIN:

Dass ich da selbst nicht darauf gekommen bin

Aber an New York

erinnere ich mich zu genau

an deine Geburtstagsfeier in New York

Ausgerechnet der Central Park

musste es sein

Ohne das Auswärtige Amt

säßen wir wahrscheinlich

immer noch im Knast


THEOPHIL:

Du übertreibst

Letztendlich war es ein Kommunikationsproblem

Andere Länder

andere Sitten

Wusstest du eigentlich

dass noch nie so wenig Morde

in New York begangen worden sind

wie heute?

Das ist ein Fünftel von dem

als wir in der Stadt waren

Zweitausendzweihundertzweiundvierzig Morde

Bei einer Acht Millionen Stadt

In Prozente einfach lächerlich


MARTIN:

Das habe ich aber anders in Erinnerung

Eingedroschen haben sie auf uns

Mit den Pferden sind sie auf uns los

weil sie gedacht haben

wir wären irgendwelche

zugekifften

Vietnamveteranen 

die durch LSD

auf ihrem Trip 

hängen geblieben sind

Nur weil Edeltraud

auf die grandiose Idee gekommen ist

uns in Blumenkinder 

Kostüme zu stecken

Da trägt man einmal

Veteranen Armeesachen

und schon wird man verprügelt


er lacht


Dafür habe ich meine erste Negerin gefickt

und du musstest zahlen

Erinnerst du dich

wie du mich gefragt hast

ob sie gestunken hat?

Wie ein Pennäler 

hast du mich ausgefragt

Jede Kleinigkeit 

wolltest du wissen


THEOPHIL:

Statistisch gesehen 

ist mir jede Frau fremd

Wenn es nach meiner Frau geht

Neunundneunzig Prozent

Eine Welt

die mir fremd ist

muss ich mir erfragen

Dass Ernst Jünger

im letzten Drittel

seines Lebens

sich der Insektenforschung 

gewidmet hat

erscheint mir zwangsläufig


MARTIN:

Dir fremd

dass ich nicht lache

Vor nicht einer Stunde

hast du dir die Seele

aus dem Leib gebumst


THEOPHIL:

Ich bumse nicht

Wenn überhaupt

lasse ich mich bumsen

Im Grunde 

ist es eine Verrichtung

nicht mehr und nicht weniger

Eine Verrichtung

Auf die ich jeder Zeit verzichten kann

Außer an meinem Geburtstag

da hat es Tradition

Seit meiner Volljährigkeit

pflege ich diese Tradition

Zudem muss ich wissen

was eine Millionen Menschen 

täglich ins Bordell treibt

Statistisch gesehen

keine unbedeutende Zahl

Vor allem wenn man bedenkt

das nicht alle eine Millionen Besucher

am Besuchertag auch Geburtstag haben

  

MARTIN:

Eine schöne Bewahrung

Aber müsstest du dann nicht

auch immer dieselbe Dame benutzen


THEOPHIL:

Du hast nichts verstanden

mein Freund

Es geht doch nur um die Verrichtung

Die Damen 

spielen da doch 

überhaupt keine Rolle

Die Damen

sind nur die Gewürzmischung

in einer Melange aus Erinnerungen

Welcher Tag taugt

da besser 

als der eigene Geburtstag

Die Erinnerung

ist der Parameter

Statistisch gesehen


MARTIN (unterbricht):

Ich geh ins Puff

weil ich Bumsen will

So wie ich zum Friseur gehe

um mir die Haare schneiden zu lassen


THEOPHIL:

Ich gehe zum Friseur

um Neues zu erfahren

Die Befindlichkeit der Menschen ertasten

so wie bei einer Vorsorgeuntersuchung

Wie übrigens dreiundsiebzig Prozent 

der männlichen Bevölkerung

Bei Frauen 

liegt die Prozentzahl 

wesentlich höher


MARTIN:

Kleine Hafenrundfahrt was?


er lacht


Im selben Moment fällt der Buchstabe S aus der Neonreklame zu Boden und wirbelt eine Staubwolke auf.


BÜHNE DUNKEL

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