Johannes Wierz

 Menü

offizielle Webseite

Über die

Schulter geschaut

Woran ich zur Zeit arbeite…





STILLE

Roman




Gefördert mit den Mitteln

des Ministerium für Kultur und Wissenschaft

des Landes Nordrhein-Westfalen

Alle Namen und Charaktere in diesem Buch

sind erfunden, und jede Ähnlichkeit

mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist rein zufällig. 

Alle Rechte bei Johannes Wierz 

Prolog

Da, wo ich liege, stinkt es nach Kot und scharfer Pisse. Das Stroh ist hart und bohrt sich durch die zerfetzten Kleider ins Fleisch. An die ständige Unruhe habe ich mich längst gewöhnt, nur der penetrante Gestank erzeugt Würgereize. Ein Geschmatze, ein Scharren, leises Jaulen und Schnaufen erfüllt den Raum, was mir bei geschlossenen Augen die Illusion raubt, allein zu sein. Vom Schloss her weht der Wind klassische Musik eines Quintettes in die Nebengebäude und Stallungen. Die Jagdgesellschaft hat sich eingefunden und begeht den Abend mit einem Umtrunk. Sie sind sich sicher, morgen Beute zu machen. Die Selbstverständlichkeit, die diesen Menschenschlag umgibt, macht ihn blind und taub für die Wirklichkeit. Längst vibriert der Boden, rauscht ein Wind durch die Wälder, pfeift um das alte Gemäuer, das von seiner Größe und Mächtigkeit behauptet, es wäre für die Ewigkeit gebaut. 

Da, wo ich liege, ist nichts von Dauer. Das Leben ist kurz. Wer sich selbst nicht der Nächste ist, geht unter, wird gefressen. Das Schwache wird vernichtet. Konsequent weitergedacht, bleibt nichts. In meinem Verschlag hat Intelligenz keinen Wert, auf den Instinkt kommt es an. Die Ohren gespitzt, mit milchigem Blick und einer Nase, die ständig überreizt ist. Jetzt an die Zeit zu glauben, ist lächerlich.

Als Hochstapler hätte ich noch eine Chance. Ein lautes Bellen, Zähne zeigen, vielleicht reicht das aus. Ich muss nur der Erste sein.

Wenn die Meute mir folgt, gibt es zumindest einen Aufschub, den gilt es zu nutzen. Dabei ist es offen, wer die Gejagten und wer die Jäger sind. Die Herrschaften aus dem Schloss folgen nur der Meute. Sie machen sich nicht die Mühe, eine Spur zu lesen. Ihnen fehlt der Instinkt. Ohne Hilfe anderer stirbt das Satte aus. Hunger ist der Schleifstein, der das Unbewusste schärft, die Hochdruckpumpe, die die Synopsen freispült. 

Ich huste bei den Gedanken, spucke Strohpartikel und Unrat aus. Das Lachen ist mir im Hals erstickt, also jaule ich wie ein Schlosshund, so wie sie es von mir erwarten.

Das Grollen wird lauter und übertönt das Streichquintett. Längst haben sich die Hunde in die hinterste Ecke ihres Verschlages verkrochen und starren stumm in die dunkle Nacht.

Wäre das nicht die Zeit, sich aus dem Staub zu machen? 

Der einsetzende Regen wird meine Spuren verwischen und meinen Geruch neutralisieren. 

Ein lauter Knall, gefolgt von einem Blitz, lässt die Hunde noch näher zusammenrücken. Aus der gefährlichen Meute ist ein bibbernder Haufen geworden. 

Wann, wenn nicht jetzt?

Ich versuche in die Hocke zu kommen, um auf allen Vieren, zum vergitterten Ausgang zu kriechen. Aber es gelingt nicht. Die Beine gehorchen mir nicht. Ich kann sie spüren, unnütze Würste, die an meinem Rumpf hängen. Auch die Anstrengung, mit den Händen den Ausgang zu erreichen, scheitert kläglich. 

Es donnert und klappert, es bebt und blitzt. 

Nur ich bin zu einem Klumpen Fleisch mutiert, das sich am Morgen die Hunde holen werden. Der letzte Gedanke, bevor ich in einen tiefen Schlaf falle.

Ich werde wach und weiß nicht warum. Ich blinzle mit den Augen und atme den beißenden Geruch aus Urin und Kot ein. Nichts scheint sich verändert zu haben. Aber eine Sache ist anders, das spüre ich, verdoppelt den Takt meines Herzschlags, obwohl mein Gefängnis immer noch dasselbe ist. 

Es braucht eine geraume Zeit, bis ich feststelle, dass ich nichts mehr höre. Da ist nichts, keinerlei Geräusch. Wie wild schlage ich auf meine Ohren. Ich bohre die Finger tief in meine Muscheln: keine Verbesserung. Um mich herum herrscht Stille.

1. 


Neujahr 2020


Aasgeruch kitzelt meine Nase. Ich werde wach. 

Wieder einer dieser Träume, die ich nicht haben möchte.

Es ist lange her, dass ich von meiner Frau und den Kindern geträumt habe, die vor Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind. 

Die Kinder mit angestrengtem Mienenspiel vor ihren Smartphones mit dem Ehrgeiz irgendeinen Spielerekord zu brechen.

Das Lächeln meiner Frau mit dem Trost und der Zuversicht, dass so ein Urlaub schnell vergeht und wir uns bald wiedersehen werden.

Zweieinhalb Stunden später ein Knall, den niemand in über zehntausend Meter Flughöhe gehört hat. Ein glitzernder Lichtregen über dem Ozean und ein leuchtender Punkt, der auf dem Radarschirm irgendeiner internationalen Flugsicherung für immer verschwindet.

Gegen neun Uhr abends bin ich in der Silvesternacht ins Bett gegangen und habe schnell in einen traumlosen Schlaf gefunden. Erst durch die Knallerei um Mitternacht und das Glockengeläut bin ich wach geworden, habe Wasser aufgesetzt und einen Tee getrunken, um mich anschließend wieder ins Bett zu legen. Dann sind diese Bilder gekommen, untermalt von Geräuschen und Gerüchen.

Noch keine sechs Uhr morgens liege ich hellwach im Bett und starre an die Decke, die in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen ist. Um mich herum herrscht Stille, als wäre die Millionenstadt, in der ich lebe, über Nacht verschwunden. Durchbrochen von ein paar Heimkehrern, die Flaschen fallen lassen und sich an Häuserfassaden erleichtern. Mit erhöhter Geschwindigkeit rasen ein paar Taxis wie Hundefänger über den Asphalt, als wären sie auf der Jagd nach dem letzten Nachtschwärmer. 

Eine Stunde bleibe ich noch liegen, bevor ich mich aus dem warmen Bett schäle.

 

Seit fast einem Jahr wohne ich hier und starre auf den gegenüberliegenden Gebäudekomplex. Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort arbeiten, denn der größte Teil der hier ansässigen Dienststellen ist so geheim, dass sie selbst für den zuständigen Minister unsichtbar bleiben. 

„Unter dem Radar!“ „Außerhalb jeglicher Kontrolle!“ 

Mit diesen Überschriften hat eine Wochenzeitung aufgemacht, bis ein kompliziertes und sich in die Länge hinziehendes Gerichtsverfahren die Eigentümer zur Aufgabe gezwungen hat.

„Vom Staat im Staate“, spricht die Opposition so lange, bis sie die Seiten gewechselt hat.

Die gigantische Architektur des „Amtes“ wirkt wie aus Legosteinen gebaut. Das Protzige ist die Größe, die nur ein Eingeweihter kennt, denn die meisten Etagen sind für den Vorbeigehenden unsichtbar, da sie unter der Erde liegen. Die riesigen Fenster, die Transparenz vorgaukeln sollen, wirken auf mich wie gigantische Schießscharte. Stände die Reichskanzlei noch, hätte niemand in dieser Stadt es gewagt, solch eine Betoninsel in den märkischen Sand zu setzen.  

Von jeder Person, die am Eingang ihren Dienstausweis vorzeigt, mache ich ein Foto, das ich in einer Drogeriehandelskette ausdrucke wie Bilder aus dem letzten Urlaub. Über einen großen Hotspot am Potsdamer Platz logge ich mich ein und suche die von mir fotografierten Menschen mit einem Gesichtserkennungsprogramm im Internet. Bei jedem dritten werde ich mit Namen fündig, bei jedem fünften erhalte ich auch noch den Abteilungsnamen und den Rang.

In meiner Zweizimmerwohnung gibt es einen fast leeren Raum, an dessen größter Wand die Fotos wie in einem Stammbaum angeordnet sind. Über allem thront der Präsident, der trotz mehrerer Ermittlungspannen und Skandale um V-Männer und Frauen fest im Sattel zu sitzen scheint. Nach außen präsentiert er sich als überparteilicher Dienstherr, der zum Wohle der eigenen Bevölkerung alles gibt. Schaden vom Volke abwehren, darauf hat er einen Eid geschworen. Staatstragend hält er im Fernsehen seine Reden, im Hintergrund die Nationalflagge, als würde er für die Rolle des Bundespräsidenten üben. 

Es tut gut, nach so langer Zeit wieder eine Beschäftigung zu haben. Dass im ganzen Jahr meine Kontaktpersonen nicht ein einziges Mal an den unterschiedlichsten Pforten aufgetaucht sind, kann ich noch nicht einschätzen. Vielleicht arbeiten sie mittlerweile für einen anderen Dienst oder ein anderes Land. In diesen schnellen Zeiten bleibt keine Atempause, um sich zu wundern. Im Nahen Osten brennen die Ölfelder, kämpft jeder gegen jeden, werden Truppenverbände der unterschiedlichsten Länder wie Figuren auf einem Halmabrett verschoben. Im pazifischen Raum bebt die Erde und spült Wassermassen ins Landesinnere. In Europa stirbt der Wald, während er an anderer Stelle brennt, um Nutzung- und Eigentumsverhältnisse zu ändern. Eine Industrie, die auf fossile Rohstoffe baut, bäumt sich ein letztes Mal auf und erinnert an einen vom Tode gezeichneten, der eine Weltreise bucht. Das digitale Zeitalter spult sein eigenes Programm herunter und Versicherungen und ähnliche Branchen verschicken über ihre altmodisch anmutenden Falt- und Frankierstraßen Briefe, als letzten verzweifelten Versuch, den eigenen Arbeitsplatz zu erhalten. Gut, Böse, Links, Rechts, Schwarz, Weiß, alle sind sie im Würfelbecher und werden neu gemischt auf einem Weltbrettspiel, dessen Regeln niemand kennt. Der Sparer wird enteignet und der 

Zocker bekommt ein eigenes Forum. Neue Währungen entstehen, die in nicht zu berechnenden Nanosekunden ihren Wert verändern.

Auf den Straßen sammeln sich Gesindel, Wutbürger, ewig Gestrige, die nicht aussterben wollen, Heilsbringer und die, die es immer schon gewusst haben.

Ich habe nichts mehr von ihr gehört. Ivana, die Opernsängerin, die in einer Nacht am falschen Ort und zur falschen Zeit da gewesen ist. Etwas gesehen hat, was sie niemals hätte sehen dürfen. So ist aus einer erfolgreichen Opernsängerin ein Mensch auf der Flucht geworden. Mit Verfolgern, die ein Gesicht haben und solchen, die im Dunkeln, im Diffusen operiert haben. 

Nein, ich habe von Ivana seitdem nichts mehr gehört. Fast zwei Jahre ist das her. Selbst die wenigen Tonaufnahmen der Opernsängerin werden im Radio nicht mehr gespielt. Keine Kontaktaufnahme, auch in der Bar ist keine Nachricht für mich hinterlegt worden.

Einmal ist es mir gelungen, bis zum Kroaten vorzudringen. Hoch und heilig hat er mir versichert, ihr nicht ein Haar gekrümmt zu haben. Es wird andere Gründe geben, aber welche, diese Fragen habe ich mir immer wieder gestellt. Fragen sind Geißeln, die einen nicht mehr loslassen. Sie brennen sich ein, besonders wenn eine Antwort nicht zu erwarten ist. Die Ungewissheit ist wie ein Moor. Jeder Schritt, den man in Richtung Aufklärung, Erkenntnis unternimmt und der letztendlich auch im Nebel verschwindet, sodass man die Spuren nicht mehr rückverfolgen kann, versinkt im Unrat, bis man unfähig ist, sich zu bewegen. 

Ich kenne das zur Genüge. Darum muss ich mir zumindest Stege bauen, damit ich nicht für immer versinke. 

Dank des Kroaten verfüge ich über soviel Geld, dass es für ein paar Jahre reicht, sich unbemerkt in diesem Land zu bewegen 

und irgendwo zu leben.

Wo lebt es sich sicherer als vor der Höhle des Löwen?

Die Antwort gebe ich gerne: mit ihnen!

Wenn ich unter Menschen will, besuche ich die Lokale, die auch die höchsten Mitarbeiter aus dem Amt reflektieren. Zwar hängen hier Kameras und ähnliche Geräte, die blinken oder ab und an Geräusche von sich geben, um damit die unbedarften Besucher in Sicherheit zu wiegen, aber sie sind Attrappen. Kein Schnüffler, niemand, den es eigentlich in der Öffentlichkeit überhaupt nicht gibt, hat Lust, auf irgendeiner Festplatte für immer verewigt zu sein. 

„Stell dich in den Schatten, der dich sucht und du bist unsichtbar“, wird das Grußwort heißen, von einem Buch, das ich schreiben werde, wenn ich alle Puzzlestücke zu einem Ganzen zusammengesetzt habe. 

So benutze ich denselben Sportklub, gehe in dieselben Restaurants und Bars wie meine unsichtbaren Vorgesetzten, die ich nie persönlich kennengelernt habe. Da es sich dabei um Gegenseitigkeit handelt, bin ich für die Spitze unseres Sicherheitsapparats unsichtbar. 

Einmal bin ich beim Schwimmen mit meinem zweithöchsten Dienstherrn im Becken zusammengestoßen. Wir haben gemeinsam Chlorwasser geprustet und später an der Theke einen Kaffee miteinander getrunken. Ich bin ein Niemand, und das ist gut so.

Im Amt arbeiten so viele Menschen, dass ich es nicht schaffen werde, von jedem ein Foto zu machen und es auch noch den einzelnen Abteilungen zuzuordnen.

All das erinnert mich an meine Kindheit. Mit Stapeln von doppelten Fußballbildern bin ich wie ein Junkie über den Schulhof geirrt, 

auf der Suche nach Porträts von Spielern, die mir noch in meinem Album gefehlt haben. Jedes Jahr dasselbe sinnlose Unterfangen. Jedes Jahr die gleiche Kraft hineingesteckt, an die Utopie glaubend es doch zu schaffen.

Vielleicht hat es den kompletten Fußballspielersatz überhaupt nicht gegeben. In meinem Umfeld habe ich niemanden gekannt, der mir ein vollständiges Album hätte zeigen können.

Da wurden die „Basics“ gelegt, würde heute ein Fernsehpsychologe sagen, der durch seine Geschwätzigkeit und seine Allgemeinplätze einen ganzen Berufsstand in Verruf bringt. Aber eine bessere Werbung als das Verrufene kann es ohnehin nicht geben. 

Es ist Zeit, die im Drogeriemarkt ausgedruckten Fotografien an die Wand in meiner Wohnung zu hängen. Wie ein großer Stammbaum kleben die Porträts auf der Tapete. Aber die vielen Lücken sagen mir Tag für Tag, dass meine Arbeit noch lange nicht erledigt ist. 

Bloß keinen Schlaf finden, in dem meine Frau und die beiden Kinder mir am Flughafen ein letztes Mal zuwinken, bevor sie ein Flugzeug besteigen, das sein Ziel nicht erreichen wird, sondern irgendwo über einem endlos scheinenden Meer vom Radar verschwindet.

2.


1. Januar 2020.


Während der größte Teil der Besucher alkoholbeseelt oder auf die Vorfreude eines neuen Jahres ins Bett fällt, leisten die Bediensteten der Stadt mit ihren Räumfahrzeugen seit Stunden Höchstleistungen. Tonnen an Müll werden aufgeschaufelt und verschwinden in metallenen nimmersatten Mündern. Vorneweg die Infanterie mit den Hardbesen und den Hochdruckreinigern. Die Gerüstbauer an den einzelnen Großbühnen haben schon nach dem letzten Akkord angefangen, kilometerlange Kabel aufzurollen, aus schwindelnden Höhen Scheinwerfer herunterzuholen und Metallstangen auseinander zu schrauben. Ein routinemäßiger Vorgang, der vonnöten ist, damit in weniger als vierundzwanzig Stunden hier wieder der innerstädtische Verkehr fließen kann.

Zwischen den Absperrgittern und immer in einem respektvollen Abstand zu den blinkenden gigantischen Maschinen huschen Gestalten mit großen Rucksäcken und riesigen Müllsäcken umher, auf der Suche nach leeren Pfandflaschen. Die meisten von ihnen sind Kapuzenträger und unterscheiden sich so in ihrer Uniformiertheit von den anderen Reinigungskräften. 

Während die ersten Trucks unter lautem Tuten den Ort der größten Fete Europas verlassen, um ein paar Tage später mit ihrem Bühnen-, Beschallungs- und Lichtequipment ein anderes Event zum Erfolg zu führen, ist eine kleine Gruppe dabei, Gullydeckel zu öffnen, um die Unterwelt Berlins zu entdecken. Ob sie glauben dort unten Pfandflaschen zu finden?


Mehr als drei Stunden hat Sarah in der Nähe ihres Elternhauses gestanden und die zahlreichen Gäste durch die hell erleuchteten 

Fenster beobachtet. In regelmäßigen Abständen hat sie die Position gewechselt, um nicht entdeckt zu werden. An einem solchen Tag in den Schoß der Familie zurückzukehren, gibt es etwas Schlimmeres?

Nein, das wird sie sich nicht antun. Heute nicht, morgen und übermorgen auch nicht. Sie hat abgeschlossen. 

Das satte Einrasten der Haustür ist für sie vor fünf Jahren eine Befreiung gewesen. Ein achtzehnjähriges Gefängnis findet endlich ein Ende. Ein neues, ganz anderes Leben wartet auf sie, mit einer Aufgabe und einer Berufung. Es dauert eine Zeit bis sie aus dem Schatten des Gebäudes treten kann, so groß ist das Schloss, ihr persönliches Gefängnis. Ein letztes Mal schaut sie sich um. Alles liegt im Dunkeln.

Hastig hat Sarah auf dem Kinderspielplatz im Kletterturm eine Zigarette geraucht und ist zusammengezuckt, als eine Stunde vor Mitternacht mit lautem Knall eine Rakete explodiert ist. Bunte Lichtkugeln erhellen den Himmel und lassen ein bizarres Bild entstehen. Mit zitternder Hand hat sie ein paar Tabletten aus der Verpackung gedrückt und sie mit einem stillen Wasser aus einer Plastikflasche heruntergeschluckt. 

„Ihr wisst nichts“, hat sie gemurmelt und sich zum Schutz selbst umarmt, als der flötenartige Ton einer neuen Rakete zu hören gewesen ist. 

Da, wo sie herkommt, sind die Geschosse von einem anderen Kaliber gewesen.

Im gegenüberliegenden Schloss hat sich nichts verändert. Im Parterre wird weiterhin an einem Tisch von der Länge einer Bowlingbahn gegessen. In der ersten Etage das Musikzimmer mit dem Bechstein Flügel und der wohl größten Jazzplattensammlung der Welt, die in Regalen bis zur Decke ihren Platz hat. 

Kein Leben reicht aus, dass alles auch nur einmal zu hören. Das hat Sarah schon mit vierzehn Jahren ausgerechnet und damit begonnen vor dem Haus ein paar Sammlerstücke zu verschenken. 

Sie kann sich nicht erinnern, jemals solche wilden funkelnden Augen gesehen zu haben, die zu allem bereit, sich aber letztendlich nicht getraut haben. Es sind die Augen des Vaters gewesen, der für einen Moment vergessen zu haben scheint, dass er der gütige König und sie die geliebte Prinzessin ist. 

Anfangs hat Sarah gedacht, als sie in die Sackgasse eingebogen ist, dass sich nichts verändert hat und sich innerlich auf den Stillstand gefreut. Aber das Schloss, ihr altes achtzehnjähriges Gefängnis, hat sich auch nach Außen in ein solches verwandelt: Die Fenster sind durch schusssichere Scheiben ersetzt und das ganze Gelände mit beweglichen Videokameras ausgestattet worden, deren Steuerungselemente in der Dunkelheit in kurzen Abständen rot aufleuchten.

Was muss der Alte für eine Angst haben, hat Sarah gedacht, noch eine Zigarette geraucht und den Ort ihrer Kindheit verlassen. Sollen sie sich doch alle in die Hose scheißen, etwas Besseres hat dieses Land nicht verdient.  


Anfangs hallen die Schritte auf dem glitschigen Boden der Kanalisation nach, dann werden die Geräusche von den Reinigungsfahrzeugen über ihnen geschluckt. Selbst das Bohren von Löchern, um Halterungen anzubringen, geht im Motorenlärm oben rund um das Brandenburger Tor unter.

Einen Monat lang hat die kleine Gruppe alle Handgriffe und Baumaßnahmen geübt. Selbst das Streckennetz, das sie gerade begehen, kennt jeder von ihnen auswendig. Mit verbundenen Augen würden sie jede Abzweigung und jede noch so kleine Einbuchtung finden. 

In ein paar Stunden werden sie in einem Innenhof in Mitte aufsteigen und auf die Rückwand eines „Showrooms“ blicken, in dem obszöner Luxus in Form von Blech und Stahl ausgestellt wird. Es wird eine Prüfung sein, die metallene Hoftür nicht aufzubrechen, 

um Lack und Glas zu zerstören, sondern stattdessen seelenruhig einen Tee zu trinken, um eine halbe Stunde später wieder nach unten zu steigen.   

Letztendlich wird es das alles ohnehin nicht mehr lange geben. 

Der Wassertropfen, der hier unten stetig auf den jahrhundertealten Backstein schlägt und ein bizarres Echo hervorruft, gibt den Takt vor. Ein Jahr ist keine Unendlichkeit, ganz im Gegenteil… 

3.


„Ein schönes Neues“, wünscht mir eine neue Nachbarin, die zwischen Weihnachten und Jahresende auf dieser Etage eingezogen ist. Dass ein Bewohner das Haus verlassen hat, habe ich nicht mitbekommen, obwohl ich die überwiegende Zeit des Tages in der Wohnung bin. 

Wahrscheinlich hat sie genauso wenige Dinge wie ich beim Einzug, denke ich und grüße gedankenversunken zurück. Am besten sie hält mich für einen Spinner oder für introvertiert, dann lässt sie mich in Ruhe. Ich muss den Langweiler geben, um auf Nummer sicher zu gehen. Langweilig und arm ist die beste Kombination, um allein zu bleiben und nicht aufzufallen. Die Stadt ist voll davon. Ohne die Vielzahl der Unsichtbaren könnte eine Großstadt wie diese nicht funktionieren. Würde es in der selbst ernannten Weltstadt nur von Extrovertierten wimmeln, wäre es bestimmt längst zu einem Massaker gekommen. Jeder gegen jeden. Zu einer Revolution oder einem Bürgerkrieg hätte es nicht gereicht.         

Ich nehme die Treppe und öffne unten im Flur demonstrativ meinen Briefkasten, obwohl ich weiß, dass keine Post darin sein wird. Ein paar Flyer und Werbebroschüren, das ewige Leid.

So verlasse ich das Haus mit ein paar bunten Zetteln und entsorge sie im Nachbarhaus, das ich auch als Durchgang benutze, um nicht auf der Straße von Kameras des Amtes erfasst zu werden. Über drei Höfe führt mein Weg, bis ich auf einer kleinen Nebenstraße wieder herauskomme. 

Schon hier hat sich mein Äußeres ein wenig verändert. Eine rote Baseballmütze schmückt jetzt meinen Kopf und über der Schulter trage ich eine leichte Umhängetasche, die zuvor in meiner Hose gesteckt hat. Für heute wähle ich den Fußweg zum Leipziger Platz, wo ich die große „Mile" betrete, die bis zum Potsdamer Platz reicht. 

Mit dem letzten Aufzug fahre ich in die Tiefgarage, ändere im Halbdunkel die Farbe meiner Kappe, indem ich sie umdrehe 

und stoße vom Osten her auf den Wirrwarr aus unterschiedlichster Wendearchitektur. 

Schnell hat es in den Neunzigern gehen müssen, das sieht man den Gebäuden an, die größer wirken als sie sind, aber den Flair von „Weltstadt City“ vermitteln sollen. Wahrscheinlich haben ein paar Gestrige seinerzeit gedacht, dass alles nur ein Spuk wäre. Tatsachen schaffen, als ob das einen russischen Panzer aufgehalten hätte. 

Anfangs hat dieser Platz wie eine Insel gewirkt, umgeben von alter Geschichte einer geteilten Stadt. Ein Statement zugleich, dass die westliche Welt mit ihrem kapitalistischen System über mehr Bauklötze verfügt als die Schmuddelkinder aus dem Sozialismus. 

Hosen runter und Schwanzvergleich mitten im Herzen der Stadt: für alle sichtbar.

Inzwischen ist überall hier so gebaut worden, passt das Ensemble um den Potsdamer Platz zum Erscheinungsbild der Metropole und bildet einen Kontrast zur sogenannten historischen Mitte, die durch aufwendige Restaurierung eher der Kulisse eines postpreußischen Freizeitparks gleicht.

Der Potsdamer Platz ist für mich einer der idealsten Orte, um ohne aufzufallen mit der Welt Kontakt aufzunehmen.

Tausende offene Ports, um ins Internet zu gelangen. Mit einem gebrauchten Tablet, das ich hinter einer der unzähligen Versorgungsklappen, die sich durch kleine Metallplatten mit Vierkantschloss kennzeichnen, gebunkert habe, gehe ich ins Netz und rufe über einen VPN-Server meine Mails ab. In der Regel sind es Junk-Mails oder Aufforderungen, Updates zu machen, die meine 

immer währende Homepage betreffen.

Drehbuchautor prangt es auf der Startseite. 

So wie das Bild von mir unendlich weit weg wie aus einer anderen Welt, von einem Planeten aus einer fremden Galaxie. Ich rieche das Parfüm meiner Frau, höre das Lachen der Kinder. Hätten sie nicht gern einen Hund gehabt?

Wer ist dieser Mensch, der da so hoffnungsfroh und selbstsicher in die Kamera starrt? 

Naturgemäß kann ich so ein Leben weiterspinnen, habe es wie einen Film in Cinemascope vor mir. Selbst die Gerüche aus einer anderen Zeit folgen meiner Fantasie. 

Das Foto ist eingefroren. Eine Bestandsaufnahme mit Vergangenheit. Wie ein Lebenslauf, der abrupt aufhört und Leerstellen aufweist. 

Nach dem Bild gibt es nichts mehr. Eingefroren. Wenn man dagegen klopft, zerbricht es in tausende Teile. Ein Puzzle, das man nicht wieder zusammensetzen kann, da es sich durch den Auftauprozess stetig verändert, bis es letztendlich in einer Pfütze endet. 

Das letzte Foto, das ein anderer Mensch von mir geschossen hat. Ein Fotograf, der sich Gedanken gemacht hat, mich in ein Licht zu rücken, mich so darzustellen, wie er mich sieht. 

Nach dem Flugzeugabsturz gibt es keine Bilder mehr. Selbst ein Spiegel bleibt matt und trübe. Die Lust ist abhandengekommen, hineinzuschauen. 

Ich kann mich nicht mehr sehen. Ich will mich nicht mehr sehen.

Die Selbstzufriedenheit, die dieses Foto für mich ausstrahlt, ist zu einer Anklage mutiert. Zu einer Selbsterkenntnis gereift, dass zwischen zwei Augenaufschlägen, Gedankenblitzen, Welten liegen können, die miteinander nichts zu tun haben. Jeder Zeitmesser ist zu schnell, dass es im Grunde keine Zukunft gibt. 

So genieße ich jeden Sonnenstrahl, der meine Nase kitzelt, mich blinzeln lässt. Stimmengewirr, ein Lächeln, unter Menschen. Mit dem Gefühl, unsichtbar zu sein.

Obwohl ich offiziell tot bin, habe ich das auf meiner Seite nicht kundgetan. Die letzte Aktualisierung liegt ohnehin Jahre her, warum also alte Geister aus der Flasche lassen? 

Eine Nachricht sticht aus allen heraus: DREHBUCHANFRAGE steht da in großen Lettern.   

Naturgemäß bin ich neugierig, von Berufs wegen, aber auch um zu überleben. Neugier und Aufmerksamkeit halten mich wach, sorgen dafür, dass ich anders durch die Welt gehe als die meisten Menschen. Ich unterscheide mich allein dadurch, dass ich nicht permanent auf mein Smartphone starre. Auf öffentlichen Orten, so wie hier am Potsdamer Platz, ist das naturgemäß anders. Da sitzen alle an kleinen Tischen und starren auf kleine oder große Bildschirme. 

Allein unter Fremden, aber mit der ganzen Welt verbunden. 

Schnell ist die Kontaktaufnahme, besonders wenn man dem Nachbarn auf Englisch erklärt, dass der Akku gerade seinen Geist aufgegeben hat und auf dem Server noch eine Mail liegt, die mein ganzes Leben schlagartig verändern kann. 

Mein neuer Freund stammt aus Toronto und entwickelt gerade eine App mit seinen koreanischen und lettischen Freunden in irgendeinem Hinterhof zwischen Wedding und Prenzlauer Berg. Worum es da genau geht, habe ich nicht verstanden, aber er lässt mich an seinem Tablet teilhaben, lädt mir die Mail herunter und speichert sie auf einem Stick, den ich ihm herüberschiebe. 

Die Nachricht hat keinen Anhang und ist vom Datenvolumen sehr kurz gehalten.

Eine Falle, denke ich, nachdem ich die Mail mehrmals auf der Toilette gelesen habe. Aber eine recht primitive.

Würde das Amt einen Multimillionär vor seinen Karren spannen können?

Welche Mittel haben sie angewendet, damit er mitspielt?

Erpressung?

Vielleicht weiß der Multimillionär, der vor ein paar Jahren entführt worden ist und über Monate in einem Keller verbracht hat, gar nichts davon?

Ich habe eine Internetadresse und eine Mobilnummer, die hätte ich auch in ein paar Minuten auf seinen Namen eingerichtet.

Wenn ich den Selfemade Millionär auf dem Telefon anrufe, wie lange braucht das Amt, um mich zu stellen?

Habe ich dann einen Unfall? 

Bringe ich mich um? 

Werde ich verschleppt und für immer irgendwo weggesperrt? 

Ich kaufe mir ein paar Tageszeitungen und zwei Stadtmagazine und gehe mit dem Päckchen aus Papier in den Tiergarten. Wenn der Mann 

in der Stadt ist, wird er bestimmt aus seinem Buch lesen, das er über die Gefangenschaft geschrieben hat und Signierstunden abhalten. Immerhin führt er fast alle Bestsellerlisten an.

Schnell werde ich fündig. In allen sogenannten „Kulturkaufhäusern“, wo die Bücher mehr oder weniger auf Paletten angeboten werden, gibt er Signierstunden. 

Ich könnte mich dort mit einem Buch in der Schlange anstellen und mich gleichzeitig von unzähligen Überwachungskameras beobachten lassen. Irgendwann würde jemand hinter mir stehen, mir irgendetwas in den Rücken bohren und mich auffordern, unauffällig mitzukommen. 

Eine kleine Buchhandlung in Kreuzberg scheint mir der geeignetere Ort der Kontaktaufnahme. Würde man dort versuchen, mich festzusetzen, würde ich laut schreien und darauf hoffen, dass die literaturaffinen Besucher mir sofort zur Seite springen werden.

Aber gibt es diesen solidarischen Kiez in Kreuzberg noch?


Die kleine Gruppe mit den Kapuzenpullovern und den geschulterten Rucksäcken geht über den Checkpoint Charly Richtung Kreuzberg. Nur wenige Passanten kreuzen ihre Wege. In Anbetracht der Leere könnte man glauben, dass die Stadt ihren kollektiven 

Silvesterrausch ausschläft. Die junge Frau, die die Kapuzenträger anführt, kennt sich aus in dieser Metropole, immerhin ist sie hier geboren. Den Kiez, den sie gerade erreicht haben, ist ab ihrem fünfzehnten Lebensjahr ihr Abenteuerplatz gewesen, nachdem sie ihrem Reitpferd einen Klaps und durch das offene Gatter die Freiheit geschenkt hat. Der erste Joint, das erste Tattoo, einer Liebe hinterhergerannt. Alles Dinge, die Zuhause, draußen, wo die Welt einen anderen Zauber hat, verborgen geblieben sind. 

Als Kind hat sie gern in dem Haus gespielt, jeden Raum vom Keller bis zum Speicher für sich entdeckt und erobert. Erst ist es die Villa Kunterbunt, später nur noch das Schloss gewesen. 

„Wir müssen von der Straße runter“, zischt sie ein Junge an, dessen Kindergesicht nicht verrät, was es schon alles erlebt hat und mit welchen Grausamkeiten es sich mit schwarzer Gesichtskapuze der Weltöffentlichkeit via Internet präsentiert hat.

„Wir sind gleich da“, zischt sie zurück und nimmt sich vor, morgen in einer Buchhandlung „Das Schloss“ von Kafka zu kaufen. 

In einer Seitenstraße, die direkt auf den Cottbuser Platz führt, betritt die Gruppe ein heruntergekommenes Haus. Es geht in die vierte Etage, wo das Kindergesicht einen Schlüssel aus der Hosentasche zieht und eine Tür aufschließt, die wohl schon mehrmals aufgebrochen und im Nachhinein immer nur notdürftig geflickt worden ist. Eine Melange aus Schimmel, Urin und Nagetiere schlägt ihnen entgegen, aber die Rucksackträger sind Schlimmeres gewohnt. Ein paar Monate sollen sie in dem verhassten Land leben, wo Milch und Honig fließen.

„Wer hat denn hier gehaust?“, zischt das Kindergesicht und reißt eines der Fenster auf, das zum Hinterhof führt. 

Der kurze Moment des Kapuzenträgers am Fenster wird von einem großen Teleobjektiv erfasst und in einer Bilderstrecke festgehalten.       


Ich bin froh, einen ausgiebigen Spaziergang unternommen zu haben. Obwohl später Nachmittag habe ich den Eindruck, dass die Stadt am ersten Tag des Jahres noch schläft.

Auf einer leeren Bank im Tiergarten nehme ich Platz und starre vor mich hin. 

Das Schreiben eines Drehbuchs würde mir bestimmt guttun. Andere Gedanken, andere Bilder. Eine andere Welt erschaffen, um an die eigene nicht mehr zu denken. Aber muss ich nicht herausfinden, wer die Blutspur gelegt hat, nur weil ich versucht habe, einer Opernsängerin, die Zeugin eines Mordes gewesen ist, das Leben zu retten?

Sie unsichtbar machen, das ist meine Aufgabe gewesen. Ihr eine neue Identität geben, damit, wie in ihrem Fall, die kroatische Mafia ihr nicht nach dem Leben trachten kann. Fast zu spät habe ich begriffen, dass nicht nur die Kroaten, sondern vor allem das Amt hinter uns her gewesen ist. 

An was habe ich gekratzt?    

Was aufgedeckt?

Wen aufgeschreckt?

Wer geht so über Leichen? 

Und warum?

Ich weiß nicht, ob Ivana noch lebt. Wenn ich nichts von ihr höre, habe ich meine Arbeit wahrscheinlich gut gemacht. Wären da nicht die Selbstzweifel, die mich schubweise befallen und mich keinen Schlaf finden lassen. 

In meiner Verzweiflung habe ich Annoncen aufgegeben und nach käuflichen Konzertaufnahmen der Opernsängerin gesucht, obwohl ich weiß, dass es keine gibt. Habe Namen und Orte benutzt, die nur wir beide kennen und in Zusammenhang bringen können.

Sie ist wie vom Erdboden verschwunden wie seinerzeit meine Frau und die Kinder. Ein Flugzeugabsturz auf offener See produziert nur leere Särge und Fragen, die einem keiner beantworten kann.

Freitag, den 3. Januar, um 20.00 Uhr in Kreuzberg. Den Namen der Straße merke ich mir und mache mich zu Fuß auf zum Hauptbahnhof, um mir dort den Bestseller meines vermeintlichen Auftraggebers zu kaufen.

Die Tage bis dorthin sollten ausreichen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.


Die Kapuzenträger liegen auf feuchten Matratzen, die versifft sind und Löcher haben. Zum Glück scheinen die Nager, die hier ihre Nester gebaut haben, verschwunden zu sein.

Es gibt strenge Regeln, die alle einzuhalten haben: Kein Licht, so wenig wie möglich hin und her gehen und nur in Ausnahmefällen die Klospülung benutzen, aber am besten synchron mit einer aus den benachbarten Wohnungen. 

Das an die Decke starren, muss gelernt sein. Bloß nicht denken, sonst öffnet sich die schlecht verputzte Wand mit ihren feuchten Flecken und man landet in einer anderen Welt. Meist ist sie in Farbe und zeigt bunte Bilder aus anderen Tagen. Kinderfreibad mit den Gerüchen aus Chlor, Sonnenöl und frischen Pommes Frittes. 

Sarah hat schnell begriffen, dass Denken und Warten nicht zusammenpasst, sondern nur eine Qual ist. 

Sie sucht sich einen Gegenstand aus und lässt ihre Gedanken darum kreisen. Die Schneekugel ist ein solches Objekt. Gut schütteln, damit sich die Styroporkugeln im Wasser so dicht verteilen, dass vom Objekt in der Mitte nichts zu sehen ist. Es dauert einen Moment, bis sie vor ihrem geistigen Auge etwas erkennen kann. In letzter Zeit sind es meist Märchenmotive wie Hänsel und Gretel, die auf dem Boden der Schneekugel sichtbar werden. Wieder geschüttelt und das Spiel beginnt von vorne.


Das Kindergesicht sitzt in der Küche, deren Einrichtung aus einem Stuhl und einer Campingherdplatte besteht. Mit geschickten Fingern setzt es den Mikrochip in ein neues Prepaid-Handy, wählt eine Nummer und lauscht dem Rauschen, das immer wieder von einem Freiton unterbrochen wird.

„Ein schönes Neues Jahr“, flüstert das Kindergesicht in das Telefon und drückt die Verbindung weg. Mit einer Hebelbewegung nimmt es die Abdeckung ab und entfernt die Chipkarte. Es steht auf und geht zum Fenster, das fast blind ist. Mit zwei Fingern verschafft es sich auf dem stumpfen Glas einen Blick nach draußen.

Eine Silvesterrakete zischt verspätet in den abendlichen Neujahrshimmel von Berlin.


Fortsetzung folgt…

Diese Website verwendet Cookies. Bitte lesen Sie unsere Datenschutzerklärung für Details.

OK